auch nicht die Schuld, sie wägt nur die Verhältnisse ab. Auch der gerechte Richter fragt, was ich bin, nicht was ich hätte sein können. Was bin ich denn! Nicht hier, nicht dort eine Wahrheit! Ein halbes Kind, her¬ ausgerissen aus dem elterlichen Hause, lernte ich tän¬ zeln, ehe ich gehen kennte, Komödie mußte ich spielen, ehe ich von dem etwas wußte, was ich spielen sollte. Ehe ich eigen gedacht, empfunden, gelebt, lernte ich reflectiren. Die schlichte Bürgerstochter, plötzlich gestoßen in Kreise der ersten Geister und der vornehmen blasirten Men¬ schen, mußte ich Angelerntes hersagen. Louis, erschrickst Du nicht, wie ich rede! Ist das die natürliche Sprache eines zwanzigjährigen Mädchens! Soll, darf sie reflek¬ tiren, wie ein Mann, der die Lebensschule durchgemacht hat! Ich erschrecke oft vor mir selbst; ich schaudere, wenn ich in den Spiegel sehe. So haben sie mich heraufgeschraubt zu einem unnatürlichen Dasein. Ich frage mich oft in Stunden der Verzweiflung: kann mich wer so lieben? wer sich mir vertrauens¬ voll hingeben? Statt eines kindlichen Mädchens eine, die die Schlechtigkeit der Menschen im tiefsten Grunde kennen gelernt --"
"Aber unberührt von ihr blieb. Deine schöne Natur hat gesiegt."
Sie strich ihm die Locken aus der Stirn: "Sei ehrlich! Wäre es Dir nicht lieber, wenn ich ein Kind wäre, das arglos, neckisch, vertrauensvoll sich in Deine Arme würfe? So zerdrücke ich oft eine stille Thräne, wenn ich im Hause bin, wo ich nicht
auch nicht die Schuld, ſie wägt nur die Verhältniſſe ab. Auch der gerechte Richter fragt, was ich bin, nicht was ich hätte ſein können. Was bin ich denn! Nicht hier, nicht dort eine Wahrheit! Ein halbes Kind, her¬ ausgeriſſen aus dem elterlichen Hauſe, lernte ich tän¬ zeln, ehe ich gehen kennte, Komödie mußte ich ſpielen, ehe ich von dem etwas wußte, was ich ſpielen ſollte. Ehe ich eigen gedacht, empfunden, gelebt, lernte ich reflectiren. Die ſchlichte Bürgerstochter, plötzlich geſtoßen in Kreiſe der erſten Geiſter und der vornehmen blaſirten Men¬ ſchen, mußte ich Angelerntes herſagen. Louis, erſchrickſt Du nicht, wie ich rede! Iſt das die natürliche Sprache eines zwanzigjährigen Mädchens! Soll, darf ſie reflek¬ tiren, wie ein Mann, der die Lebensſchule durchgemacht hat! Ich erſchrecke oft vor mir ſelbſt; ich ſchaudere, wenn ich in den Spiegel ſehe. So haben ſie mich heraufgeſchraubt zu einem unnatürlichen Daſein. Ich frage mich oft in Stunden der Verzweiflung: kann mich wer ſo lieben? wer ſich mir vertrauens¬ voll hingeben? Statt eines kindlichen Mädchens eine, die die Schlechtigkeit der Menſchen im tiefſten Grunde kennen gelernt —“
„Aber unberührt von ihr blieb. Deine ſchöne Natur hat geſiegt.“
Sie ſtrich ihm die Locken aus der Stirn: „Sei ehrlich! Wäre es Dir nicht lieber, wenn ich ein Kind wäre, das arglos, neckiſch, vertrauensvoll ſich in Deine Arme würfe? So zerdrücke ich oft eine ſtille Thräne, wenn ich im Hauſe bin, wo ich nicht
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auch nicht die Schuld, ſie wägt nur die Verhältniſſe ab.
Auch der gerechte Richter fragt, was ich bin, nicht
was ich hätte ſein können. Was bin ich denn! Nicht
hier, nicht dort eine Wahrheit! Ein halbes Kind, her¬
ausgeriſſen aus dem elterlichen Hauſe, lernte ich tän¬
zeln, ehe ich gehen kennte, Komödie mußte ich ſpielen,
ehe ich von dem etwas wußte, was ich ſpielen ſollte. Ehe
ich eigen gedacht, empfunden, gelebt, lernte ich reflectiren.
Die ſchlichte Bürgerstochter, plötzlich geſtoßen in Kreiſe
der erſten Geiſter und der vornehmen blaſirten Men¬
ſchen, mußte ich Angelerntes herſagen. Louis, erſchrickſt
Du nicht, wie ich rede! Iſt das die natürliche Sprache
eines zwanzigjährigen Mädchens! Soll, darf ſie reflek¬
tiren, wie ein Mann, der die Lebensſchule durchgemacht
hat! Ich erſchrecke oft vor mir ſelbſt; ich ſchaudere,
wenn ich in den Spiegel ſehe. So haben ſie mich
heraufgeſchraubt zu einem unnatürlichen Daſein.
Ich frage mich oft in Stunden der Verzweiflung:
kann mich wer ſo lieben? wer ſich mir vertrauens¬
voll hingeben? Statt eines kindlichen Mädchens eine,
die die Schlechtigkeit der Menſchen im tiefſten Grunde
kennen gelernt —“
„Aber unberührt von ihr blieb. Deine ſchöne
Natur hat geſiegt.“
Sie ſtrich ihm die Locken aus der Stirn: „Sei
ehrlich! Wäre es Dir nicht lieber, wenn ich ein
Kind wäre, das arglos, neckiſch, vertrauensvoll ſich
in Deine Arme würfe? So zerdrücke ich oft eine
ſtille Thräne, wenn ich im Hauſe bin, wo ich nicht
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Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 4. Berlin, 1852, S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe04_1852/293>, abgerufen am 24.11.2024.
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