hinaus ist; ich könnte mir eine Medea denken, ohne die brennende Gluth des Südens, eine, deren Blut eiskalt geworden, eine Seherin des Nordens, die abgerissen, abgeschüttelt hat alle die Fibern und Blutadern, die sie mit den Lebendigen zusammen¬ halten, eine Norne, welche im ehernen Becher die Loose der Menschen schüttelt; wer fallen muß, der fällt, sie kann nicht weinen, sie kann nicht lächeln, es muß. -- Sind wir nicht Alle auf diesen Prozeß an¬ gewiesen, ist es nicht der natürliche des Daseins? Das Blut wird mit den Jahren kälter, was uns in der Jugend entzückte, gleichgültig. Unsere Träume, Phantasieen, Projecte belächeln wir. Werden die Menschen mit Runzeln liebenswürdiger? Wir erken¬ nen ihre Schwächen, die Ideale sind längst gesunken, ihre Eigenheiten treten heraus, sie werden uns wider¬ wärtig. Nein, nicht widerwärtig, Freundin, nur gleichgültig. Wir hören eine Todespost verwundert an: Hat der noch gelebt, wir dachten, er sei längst todt! Wir sterben mit, wo Alles um uns stirbt, und lassen darum sterben, was nicht leben kann! Einer weniger, der Anderen in die Quere kam, Einer we¬ niger, der mit verbrannten Flügeln nach der Sonne flattern wollte! Wem sind sie denn nicht verbrannt? Wir sind allzeit bereite Todtengräber -- aus Mitleid, Adepten der Nothwendigkeit. -- Das ist weit natür¬ licher als die andere Erklärung, daß wir's aus Neid wären, aus Haß, Haß gegen die ganze Menschheit. Ist denn die Menschheit werth, daß wir sie hassen?
IV. 22
hinaus iſt; ich könnte mir eine Medea denken, ohne die brennende Gluth des Südens, eine, deren Blut eiskalt geworden, eine Seherin des Nordens, die abgeriſſen, abgeſchüttelt hat alle die Fibern und Blutadern, die ſie mit den Lebendigen zuſammen¬ halten, eine Norne, welche im ehernen Becher die Looſe der Menſchen ſchüttelt; wer fallen muß, der fällt, ſie kann nicht weinen, ſie kann nicht lächeln, es muß. — Sind wir nicht Alle auf dieſen Prozeß an¬ gewieſen, iſt es nicht der natürliche des Daſeins? Das Blut wird mit den Jahren kälter, was uns in der Jugend entzückte, gleichgültig. Unſere Träume, Phantaſieen, Projecte belächeln wir. Werden die Menſchen mit Runzeln liebenswürdiger? Wir erken¬ nen ihre Schwächen, die Ideale ſind längſt geſunken, ihre Eigenheiten treten heraus, ſie werden uns wider¬ wärtig. Nein, nicht widerwärtig, Freundin, nur gleichgültig. Wir hören eine Todespoſt verwundert an: Hat der noch gelebt, wir dachten, er ſei längſt todt! Wir ſterben mit, wo Alles um uns ſtirbt, und laſſen darum ſterben, was nicht leben kann! Einer weniger, der Anderen in die Quere kam, Einer we¬ niger, der mit verbrannten Flügeln nach der Sonne flattern wollte! Wem ſind ſie denn nicht verbrannt? Wir ſind allzeit bereite Todtengräber — aus Mitleid, Adepten der Nothwendigkeit. — Das iſt weit natür¬ licher als die andere Erklärung, daß wir's aus Neid wären, aus Haß, Haß gegen die ganze Menſchheit. Iſt denn die Menſchheit werth, daß wir ſie haſſen?
IV. 22
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hinaus iſt; ich könnte mir eine Medea denken, ohne
die brennende Gluth des Südens, eine, deren Blut
eiskalt geworden, eine Seherin des Nordens, die
abgeriſſen, abgeſchüttelt hat alle die Fibern und
Blutadern, die ſie mit den Lebendigen zuſammen¬
halten, eine Norne, welche im ehernen Becher die
Looſe der Menſchen ſchüttelt; wer fallen muß, der
fällt, ſie kann nicht weinen, ſie kann nicht lächeln, es
muß. — Sind wir nicht Alle auf dieſen Prozeß an¬
gewieſen, iſt es nicht der natürliche des Daſeins?
Das Blut wird mit den Jahren kälter, was uns in
der Jugend entzückte, gleichgültig. Unſere Träume,
Phantaſieen, Projecte belächeln wir. Werden die
Menſchen mit Runzeln liebenswürdiger? Wir erken¬
nen ihre Schwächen, die Ideale ſind längſt geſunken,
ihre Eigenheiten treten heraus, ſie werden uns wider¬
wärtig. Nein, nicht widerwärtig, Freundin, nur
gleichgültig. Wir hören eine Todespoſt verwundert
an: Hat der noch gelebt, wir dachten, er ſei längſt
todt! Wir ſterben mit, wo Alles um uns ſtirbt, und
laſſen darum ſterben, was nicht leben kann! Einer
weniger, der Anderen in die Quere kam, Einer we¬
niger, der mit verbrannten Flügeln nach der Sonne
flattern wollte! Wem ſind ſie denn nicht verbrannt?
Wir ſind allzeit bereite Todtengräber — aus Mitleid,
Adepten der Nothwendigkeit. — Das iſt weit natür¬
licher als die andere Erklärung, daß wir's aus Neid
wären, aus Haß, Haß gegen die ganze Menſchheit.
Iſt denn die Menſchheit werth, daß wir ſie haſſen?
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Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 4. Berlin, 1852, S. 337. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe04_1852/347>, abgerufen am 23.11.2024.
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