"Ich kenne Ihren Vater; er ist ein trefflicher Mann und treuer Staatsdiener, der nichts Höheres kennt, als Erfüllung seiner Pflichten."
"Mein Lehrer lehrte mich, fuhr Adelheid rasch fort, "daß Leiden unsre besten Erzieher sind. Aus der Schule großen Unglücks entwickelt sich die Seele zur Freiheit und Selbstständigkeit."
Die Fürstin sah Adelheid befremdet an. Es war wieder nicht das, was sie erwartet hatte; aber das Fremde war nichts fremdartig Feindliches, und statt abzustoßen, brachte es ihr das junge Mädchen näher. Der immer theilnehmender werdende Blick verrieth es. Jetzt entsann sie sich wohl, daß das vielbesprochene Mädchen wunderbare Schicksale erlebt.
"Haben Sie auch diese Schule durchgemacht! -- Doch das ist ja nun vorüber."
"Wer kann sagen, daß er aus der Schule ent¬ lassen ist, so lange er lebt! Und wer sieht unter dem fröhlichsten Gesicht die Schmerzen in der Brust!"
Das war ein Ton, welcher anschlug, er vibrirte durch die Seele der Königin: "Und wer sieht heute, was morgen kommt!"
Ein Seufzer machte sich aus ihrer Brust Luft. Da flog, von einem leisen Luftzug getragen, einer jener weißen flockigen Herbstfäden, wo die Allee sich bog, von der Wiese ihnen entgegen und legte sich um Beider Brust, indem er, von ihrer Bewegung festgehalten, sie umschlang. Beide waren durch ein Spiel der Natur an einander gefesselt. Adelheid
V. 8
„Ich kenne Ihren Vater; er iſt ein trefflicher Mann und treuer Staatsdiener, der nichts Höheres kennt, als Erfüllung ſeiner Pflichten.“
„Mein Lehrer lehrte mich, fuhr Adelheid raſch fort, „daß Leiden unſre beſten Erzieher ſind. Aus der Schule großen Unglücks entwickelt ſich die Seele zur Freiheit und Selbſtſtändigkeit.“
Die Fürſtin ſah Adelheid befremdet an. Es war wieder nicht das, was ſie erwartet hatte; aber das Fremde war nichts fremdartig Feindliches, und ſtatt abzuſtoßen, brachte es ihr das junge Mädchen näher. Der immer theilnehmender werdende Blick verrieth es. Jetzt entſann ſie ſich wohl, daß das vielbeſprochene Mädchen wunderbare Schickſale erlebt.
„Haben Sie auch dieſe Schule durchgemacht! — Doch das iſt ja nun vorüber.“
„Wer kann ſagen, daß er aus der Schule ent¬ laſſen iſt, ſo lange er lebt! Und wer ſieht unter dem fröhlichſten Geſicht die Schmerzen in der Bruſt!“
Das war ein Ton, welcher anſchlug, er vibrirte durch die Seele der Königin: „Und wer ſieht heute, was morgen kommt!“
Ein Seufzer machte ſich aus ihrer Bruſt Luft. Da flog, von einem leiſen Luftzug getragen, einer jener weißen flockigen Herbſtfäden, wo die Allee ſich bog, von der Wieſe ihnen entgegen und legte ſich um Beider Bruſt, indem er, von ihrer Bewegung feſtgehalten, ſie umſchlang. Beide waren durch ein Spiel der Natur an einander gefeſſelt. Adelheid
V. 8
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„Ich kenne Ihren Vater; er iſt ein trefflicher
Mann und treuer Staatsdiener, der nichts Höheres
kennt, als Erfüllung ſeiner Pflichten.“
„Mein Lehrer lehrte mich, fuhr Adelheid raſch
fort, „daß Leiden unſre beſten Erzieher ſind. Aus der
Schule großen Unglücks entwickelt ſich die Seele zur
Freiheit und Selbſtſtändigkeit.“
Die Fürſtin ſah Adelheid befremdet an. Es
war wieder nicht das, was ſie erwartet hatte; aber
das Fremde war nichts fremdartig Feindliches, und
ſtatt abzuſtoßen, brachte es ihr das junge Mädchen
näher. Der immer theilnehmender werdende Blick
verrieth es. Jetzt entſann ſie ſich wohl, daß das
vielbeſprochene Mädchen wunderbare Schickſale erlebt.
„Haben Sie auch dieſe Schule durchgemacht! —
Doch das iſt ja nun vorüber.“
„Wer kann ſagen, daß er aus der Schule ent¬
laſſen iſt, ſo lange er lebt! Und wer ſieht unter
dem fröhlichſten Geſicht die Schmerzen in der Bruſt!“
Das war ein Ton, welcher anſchlug, er vibrirte
durch die Seele der Königin: „Und wer ſieht heute,
was morgen kommt!“
Ein Seufzer machte ſich aus ihrer Bruſt Luft.
Da flog, von einem leiſen Luftzug getragen, einer
jener weißen flockigen Herbſtfäden, wo die Allee ſich
bog, von der Wieſe ihnen entgegen und legte ſich
um Beider Bruſt, indem er, von ihrer Bewegung
feſtgehalten, ſie umſchlang. Beide waren durch ein
Spiel der Natur an einander gefeſſelt. Adelheid
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Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 5. Berlin, 1852, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe05_1852/123>, abgerufen am 23.11.2024.
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