Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 5. Berlin, 1852.

Bild:
<< vorherige Seite

fühlte das Bedürfniß, der Armen etwas Wohlthätiges
zu erweisen. Ach, sie hatte nichts, nicht einmal das,
was jeder ihrer Diener bei sich führte, eine Börse.
Sie wollte einen heranwinken, aber der Stallmeister
stand schon mit der Miene banger Ungeduld am Wa¬
genschlag. Aller Mienen sagten: hier ist nicht län¬
ger zu verweilen!

Es war stiller geworden auf der Straße. Der
Wagen mit den müden Pferden fuhr aber nur lang¬
sam in den aufgewühlten Wegen. Zuweilen ließ
der Wind den Kanonendonner von der Mittagsseite
herübertönen. Es schien eine stillschweigende Ueber¬
einkunft, nicht darauf zu achten. Die Hofdamen, von
Ueberanstrengung erschöpft, nickten. Auch die Königin
hatte, den Kopf in die Ecke gelehnt, zu schlafen ge¬
schienen. Jetzt richtete sie sich auf, warf den Schleier
zurück und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen.
Nach einem heftigen Athemholen löste sich ihr Schmerz
in Thränen, sie glaubte ohne Zeugen; aber ihr ge¬
genüber in der Wagenecke wachten zwei Augen. Adel¬
heid Alltag, die hier in bescheidener Zurückgezogen¬
heit gesessen, wagte die Hand der Fürstin zu ergrei¬
fen und, halb auf das Knie sinkend, sie an die Lippen
zu drücken.

"Es ist ja noch nichts verloren."

"Nichts!" sagte die Königin und schüttelte weh¬
müthig den Kopf. -- "Aber Ihr Anblick, liebes Kind,
sollte mir eigentlich Stärke geben. Würden Sie denn
den Muth gehabt haben, Alles zu ertragen, wenn Sie

fühlte das Bedürfniß, der Armen etwas Wohlthätiges
zu erweiſen. Ach, ſie hatte nichts, nicht einmal das,
was jeder ihrer Diener bei ſich führte, eine Börſe.
Sie wollte einen heranwinken, aber der Stallmeiſter
ſtand ſchon mit der Miene banger Ungeduld am Wa¬
genſchlag. Aller Mienen ſagten: hier iſt nicht län¬
ger zu verweilen!

Es war ſtiller geworden auf der Straße. Der
Wagen mit den müden Pferden fuhr aber nur lang¬
ſam in den aufgewühlten Wegen. Zuweilen ließ
der Wind den Kanonendonner von der Mittagsſeite
herübertönen. Es ſchien eine ſtillſchweigende Ueber¬
einkunft, nicht darauf zu achten. Die Hofdamen, von
Ueberanſtrengung erſchöpft, nickten. Auch die Königin
hatte, den Kopf in die Ecke gelehnt, zu ſchlafen ge¬
ſchienen. Jetzt richtete ſie ſich auf, warf den Schleier
zurück und bedeckte das Geſicht mit beiden Händen.
Nach einem heftigen Athemholen löſte ſich ihr Schmerz
in Thränen, ſie glaubte ohne Zeugen; aber ihr ge¬
genüber in der Wagenecke wachten zwei Augen. Adel¬
heid Alltag, die hier in beſcheidener Zurückgezogen¬
heit geſeſſen, wagte die Hand der Fürſtin zu ergrei¬
fen und, halb auf das Knie ſinkend, ſie an die Lippen
zu drücken.

„Es iſt ja noch nichts verloren.“

„Nichts!“ ſagte die Königin und ſchüttelte weh¬
müthig den Kopf. — „Aber Ihr Anblick, liebes Kind,
ſollte mir eigentlich Stärke geben. Würden Sie denn
den Muth gehabt haben, Alles zu ertragen, wenn Sie

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0308" n="298"/>
fühlte das Bedürfniß, der Armen etwas Wohlthätiges<lb/>
zu erwei&#x017F;en. Ach, &#x017F;ie hatte nichts, nicht einmal das,<lb/>
was jeder ihrer Diener bei &#x017F;ich führte, eine Bör&#x017F;e.<lb/>
Sie wollte einen heranwinken, aber der Stallmei&#x017F;ter<lb/>
&#x017F;tand &#x017F;chon mit der Miene banger Ungeduld am Wa¬<lb/>
gen&#x017F;chlag. Aller Mienen &#x017F;agten: hier i&#x017F;t nicht län¬<lb/>
ger zu verweilen!</p><lb/>
        <p>Es war &#x017F;tiller geworden auf der Straße. Der<lb/>
Wagen mit den müden Pferden fuhr aber nur lang¬<lb/>
&#x017F;am in den aufgewühlten Wegen. Zuweilen ließ<lb/>
der Wind den Kanonendonner von der Mittags&#x017F;eite<lb/>
herübertönen. Es &#x017F;chien eine &#x017F;till&#x017F;chweigende Ueber¬<lb/>
einkunft, nicht darauf zu achten. Die Hofdamen, von<lb/>
Ueberan&#x017F;trengung er&#x017F;chöpft, nickten. Auch die Königin<lb/>
hatte, den Kopf in die Ecke gelehnt, zu &#x017F;chlafen ge¬<lb/>
&#x017F;chienen. Jetzt richtete &#x017F;ie &#x017F;ich auf, warf den Schleier<lb/>
zurück und bedeckte das Ge&#x017F;icht mit beiden Händen.<lb/>
Nach einem heftigen Athemholen lö&#x017F;te &#x017F;ich ihr Schmerz<lb/>
in Thränen, &#x017F;ie glaubte ohne Zeugen; aber ihr ge¬<lb/>
genüber in der Wagenecke wachten zwei Augen. Adel¬<lb/>
heid Alltag, die hier in be&#x017F;cheidener Zurückgezogen¬<lb/>
heit ge&#x017F;e&#x017F;&#x017F;en, wagte die Hand der Für&#x017F;tin zu ergrei¬<lb/>
fen und, halb auf das Knie &#x017F;inkend, &#x017F;ie an die Lippen<lb/>
zu drücken.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Es i&#x017F;t ja noch nichts verloren.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Nichts!&#x201C; &#x017F;agte die Königin und &#x017F;chüttelte weh¬<lb/>
müthig den Kopf. &#x2014; &#x201E;Aber Ihr Anblick, liebes Kind,<lb/>
&#x017F;ollte mir eigentlich Stärke geben. Würden Sie denn<lb/>
den Muth gehabt haben, Alles zu ertragen, wenn Sie<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[298/0308] fühlte das Bedürfniß, der Armen etwas Wohlthätiges zu erweiſen. Ach, ſie hatte nichts, nicht einmal das, was jeder ihrer Diener bei ſich führte, eine Börſe. Sie wollte einen heranwinken, aber der Stallmeiſter ſtand ſchon mit der Miene banger Ungeduld am Wa¬ genſchlag. Aller Mienen ſagten: hier iſt nicht län¬ ger zu verweilen! Es war ſtiller geworden auf der Straße. Der Wagen mit den müden Pferden fuhr aber nur lang¬ ſam in den aufgewühlten Wegen. Zuweilen ließ der Wind den Kanonendonner von der Mittagsſeite herübertönen. Es ſchien eine ſtillſchweigende Ueber¬ einkunft, nicht darauf zu achten. Die Hofdamen, von Ueberanſtrengung erſchöpft, nickten. Auch die Königin hatte, den Kopf in die Ecke gelehnt, zu ſchlafen ge¬ ſchienen. Jetzt richtete ſie ſich auf, warf den Schleier zurück und bedeckte das Geſicht mit beiden Händen. Nach einem heftigen Athemholen löſte ſich ihr Schmerz in Thränen, ſie glaubte ohne Zeugen; aber ihr ge¬ genüber in der Wagenecke wachten zwei Augen. Adel¬ heid Alltag, die hier in beſcheidener Zurückgezogen¬ heit geſeſſen, wagte die Hand der Fürſtin zu ergrei¬ fen und, halb auf das Knie ſinkend, ſie an die Lippen zu drücken. „Es iſt ja noch nichts verloren.“ „Nichts!“ ſagte die Königin und ſchüttelte weh¬ müthig den Kopf. — „Aber Ihr Anblick, liebes Kind, ſollte mir eigentlich Stärke geben. Würden Sie denn den Muth gehabt haben, Alles zu ertragen, wenn Sie

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe05_1852
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe05_1852/308
Zitationshilfe: Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 5. Berlin, 1852, S. 298. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe05_1852/308>, abgerufen am 21.11.2024.