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Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 5. Berlin, 1852.

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Wandel stand am Fenster. Lärm, Unruhe, Hin-
und Hergelaufe, kernige Fluchworte, dazwischen ein
Geschrei, das hier in Heulen überging. Ein Reiter
sprengte auf der Straße vorüber:

"Das ist der Rittmeister Dorville. Ich fürchte,
er bringt Uebles vom Schlachtfelde."

Eine Stimme rief zum Fenster hinauf: "Ver¬
loren! Es ist Alles verloren." Was eine Stimme,
was Stimmen! Es war Alles in der Stadt nur eine,
und das war ein entsetzlicher Wehruf. Wohl denen,
die ihn laut machen konnten; der stumme Schmerz
ist der tiefere. Er sprengt nicht immer die Brust,
aber er stopft die Adern, er wirkt einen Nieder¬
schlag, der alle Functionen der Glieder lähmt. Das
Herz, das so muthig noch eben schlug, scheint still
zu stehen, die Gedanken, die gradaus schossen, zittern
und verirren. Es war kein lauter Aufschrei in der
Stadt; kein Todeshieb, der eine Wunde geöffnet, aus
der das Herzblut mit einem Mal ausströmt; es war
eine Quetschung, ein Niederschlag. Ein Uhrwerk war's,
dessen Räder noch gingen, aber keines griff in's andere.

Die stürzten aus den Häusern, um draußen
Nachricht einzuziehen, aus dem Sprachgewirr, den
Gesichtern, der Luft. Die drangen in die Häuser,
um sie von denen zu erhalten, welche darum wissen mu߬
ten. Die fragten mit scheuem Entsetzen: Was ist mit
uns? Die drangen: Was sollen wir thun? -- Ach, es
wußte Niemand, was er thun sollte, die am wenigsten,
die es wissen sollten!

Wandel ſtand am Fenſter. Lärm, Unruhe, Hin-
und Hergelaufe, kernige Fluchworte, dazwiſchen ein
Geſchrei, das hier in Heulen überging. Ein Reiter
ſprengte auf der Straße vorüber:

„Das iſt der Rittmeiſter Dorville. Ich fürchte,
er bringt Uebles vom Schlachtfelde.“

Eine Stimme rief zum Fenſter hinauf: „Ver¬
loren! Es iſt Alles verloren.“ Was eine Stimme,
was Stimmen! Es war Alles in der Stadt nur eine,
und das war ein entſetzlicher Wehruf. Wohl denen,
die ihn laut machen konnten; der ſtumme Schmerz
iſt der tiefere. Er ſprengt nicht immer die Bruſt,
aber er ſtopft die Adern, er wirkt einen Nieder¬
ſchlag, der alle Functionen der Glieder lähmt. Das
Herz, das ſo muthig noch eben ſchlug, ſcheint ſtill
zu ſtehen, die Gedanken, die gradaus ſchoſſen, zittern
und verirren. Es war kein lauter Aufſchrei in der
Stadt; kein Todeshieb, der eine Wunde geöffnet, aus
der das Herzblut mit einem Mal ausſtrömt; es war
eine Quetſchung, ein Niederſchlag. Ein Uhrwerk war's,
deſſen Räder noch gingen, aber keines griff in's andere.

Die ſtürzten aus den Häuſern, um draußen
Nachricht einzuziehen, aus dem Sprachgewirr, den
Geſichtern, der Luft. Die drangen in die Häuſer,
um ſie von denen zu erhalten, welche darum wiſſen mu߬
ten. Die fragten mit ſcheuem Entſetzen: Was iſt mit
uns? Die drangen: Was ſollen wir thun? — Ach, es
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[343/0353] Wandel ſtand am Fenſter. Lärm, Unruhe, Hin- und Hergelaufe, kernige Fluchworte, dazwiſchen ein Geſchrei, das hier in Heulen überging. Ein Reiter ſprengte auf der Straße vorüber: „Das iſt der Rittmeiſter Dorville. Ich fürchte, er bringt Uebles vom Schlachtfelde.“ Eine Stimme rief zum Fenſter hinauf: „Ver¬ loren! Es iſt Alles verloren.“ Was eine Stimme, was Stimmen! Es war Alles in der Stadt nur eine, und das war ein entſetzlicher Wehruf. Wohl denen, die ihn laut machen konnten; der ſtumme Schmerz iſt der tiefere. Er ſprengt nicht immer die Bruſt, aber er ſtopft die Adern, er wirkt einen Nieder¬ ſchlag, der alle Functionen der Glieder lähmt. Das Herz, das ſo muthig noch eben ſchlug, ſcheint ſtill zu ſtehen, die Gedanken, die gradaus ſchoſſen, zittern und verirren. Es war kein lauter Aufſchrei in der Stadt; kein Todeshieb, der eine Wunde geöffnet, aus der das Herzblut mit einem Mal ausſtrömt; es war eine Quetſchung, ein Niederſchlag. Ein Uhrwerk war's, deſſen Räder noch gingen, aber keines griff in's andere. Die ſtürzten aus den Häuſern, um draußen Nachricht einzuziehen, aus dem Sprachgewirr, den Geſichtern, der Luft. Die drangen in die Häuſer, um ſie von denen zu erhalten, welche darum wiſſen mu߬ ten. Die fragten mit ſcheuem Entſetzen: Was iſt mit uns? Die drangen: Was ſollen wir thun? — Ach, es wußte Niemand, was er thun ſollte, die am wenigſten, die es wiſſen ſollten!

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Zitationshilfe: Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 5. Berlin, 1852, S. 343. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe05_1852/353>, abgerufen am 22.11.2024.