"Wenn nun die ganze Weltgeschichte Zufällig¬ keiten wären, die unser grübelnder Verstand zu einer Kette von Nothwendigkeiten verschlingt!"
Walter meinte, daß Laforest zu verständig sei, eine Insulte trunkener Jünglinge anders zu be¬ trachten, als sie war.
"Gewiß, hatte der Freiherr erwidert, Napoleon wird um dieser Albernheit willen keine Stunde früher losschlagen, als seine Absicht ist. Aber eben, weil wir und er noch nicht gerüstet sind, weil wir beide die Maske der Freundlichkeit noch nicht abwerfen dürfen, zu welchen Lügen zwingt uns abermals die Unbesonnenheit! Man muß die jungen Leute härter strafen, als nöthig. Hardenberg muß wieder mit süßschwellenden Lippen Betheuerungen unserer freund¬ schaftlichen Gesinnung machen. Das ist der Fluch unserer Gedankenlosigkeit, setzte er hinzu, des Alles¬ gehenlassens, daß sich Zustände, Stimmungen ent¬ wickeln, die naturgemäß heraus müssen; wir ließen sie zu, wir nährten sie sogar, und wenn es zur Ex¬ plosion kommt, erschrecken wir, stehen rathlos, und möchten mit Keulen das Kind zurückschlagen, das aus der Mutter Leibe will."
Der Minister stand wieder am offenen Fenster. Athmete er die frische Herbstluft ein, oder verfolgte sein Auge das sternenbesäete Firmament? Zuweilen schien er auf die Blaseinstrumente zu horchen, deren
„Das iſt ein reiner Zufall!“ war Walters Meinung.
„Wenn nun die ganze Weltgeſchichte Zufällig¬ keiten wären, die unſer grübelnder Verſtand zu einer Kette von Nothwendigkeiten verſchlingt!“
Walter meinte, daß Laforeſt zu verſtändig ſei, eine Inſulte trunkener Jünglinge anders zu be¬ trachten, als ſie war.
„Gewiß, hatte der Freiherr erwidert, Napoleon wird um dieſer Albernheit willen keine Stunde früher losſchlagen, als ſeine Abſicht iſt. Aber eben, weil wir und er noch nicht gerüſtet ſind, weil wir beide die Maske der Freundlichkeit noch nicht abwerfen dürfen, zu welchen Lügen zwingt uns abermals die Unbeſonnenheit! Man muß die jungen Leute härter ſtrafen, als nöthig. Hardenberg muß wieder mit ſüßſchwellenden Lippen Betheuerungen unſerer freund¬ ſchaftlichen Geſinnung machen. Das iſt der Fluch unſerer Gedankenloſigkeit, ſetzte er hinzu, des Alles¬ gehenlaſſens, daß ſich Zuſtände, Stimmungen ent¬ wickeln, die naturgemäß heraus müſſen; wir ließen ſie zu, wir nährten ſie ſogar, und wenn es zur Ex¬ ploſion kommt, erſchrecken wir, ſtehen rathlos, und möchten mit Keulen das Kind zurückſchlagen, das aus der Mutter Leibe will.“
Der Miniſter ſtand wieder am offenen Fenſter. Athmete er die friſche Herbſtluft ein, oder verfolgte ſein Auge das ſternenbeſäete Firmament? Zuweilen ſchien er auf die Blaſeinſtrumente zu horchen, deren
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„Das iſt ein reiner Zufall!“ war Walters
Meinung.
„Wenn nun die ganze Weltgeſchichte Zufällig¬
keiten wären, die unſer grübelnder Verſtand zu einer
Kette von Nothwendigkeiten verſchlingt!“
Walter meinte, daß Laforeſt zu verſtändig ſei,
eine Inſulte trunkener Jünglinge anders zu be¬
trachten, als ſie war.
„Gewiß, hatte der Freiherr erwidert, Napoleon
wird um dieſer Albernheit willen keine Stunde früher
losſchlagen, als ſeine Abſicht iſt. Aber eben, weil
wir und er noch nicht gerüſtet ſind, weil wir beide
die Maske der Freundlichkeit noch nicht abwerfen
dürfen, zu welchen Lügen zwingt uns abermals die
Unbeſonnenheit! Man muß die jungen Leute härter
ſtrafen, als nöthig. Hardenberg muß wieder mit
ſüßſchwellenden Lippen Betheuerungen unſerer freund¬
ſchaftlichen Geſinnung machen. Das iſt der Fluch
unſerer Gedankenloſigkeit, ſetzte er hinzu, des Alles¬
gehenlaſſens, daß ſich Zuſtände, Stimmungen ent¬
wickeln, die naturgemäß heraus müſſen; wir ließen
ſie zu, wir nährten ſie ſogar, und wenn es zur Ex¬
ploſion kommt, erſchrecken wir, ſtehen rathlos, und
möchten mit Keulen das Kind zurückſchlagen, das
aus der Mutter Leibe will.“
Der Miniſter ſtand wieder am offenen Fenſter.
Athmete er die friſche Herbſtluft ein, oder verfolgte
ſein Auge das ſternenbeſäete Firmament? Zuweilen
ſchien er auf die Blaſeinſtrumente zu horchen, deren
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Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 5. Berlin, 1852, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe05_1852/85>, abgerufen am 23.11.2024.
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