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Alexis, Willibald: Herr von Sacken. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 10. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–202. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Eher frißt der Wolf den Vollmond,
Eher bleibet aus der Frühling,
Und die Schwalbe kehrt nicht wieder,
Als er nicht zu uns zurück kehrt,
Unser böser gnäd'ger Herr.
Schwielen sind für arme Leute,
Polster für die gnäd'gen Herren.
Arme Leute, arme Leute
Bleiben immer arme Leute!

Nun, nun! brummte Sacken, ich werde ja nicht wiederkehren. Die Reise nach Sibirien dauert Jahre, aus Jahren werden oft Jahrzehnte, aus Jahrzehnten ein Lebensalter. Was der Mensch endlich nöthig hat, trifft er auch dort, sechs Fuß Erde, und mich dünkt, man müsse in den Einöden besser ausruhen, als in unsern eng gedrängten Landstrichen, wo der hungrige Blick selbst auf den schmalen Bodenstreif neidisch blickt und ausrechnet, wie viel Hafer statt der Trauerbirke wachsen möchte. Das Vieh mag das Gras nicht fressen, das auf Kirchhöfen wächs't, sagte mir neulich verdrüßlich der deutsche Küster. Wenn man die Leute, damit sie sterben, nach den asiatischen Steppen schickt, warum sendet man nicht auch die schon Gestorbenen dahin? Raum ist genug. Die Adler rauschen über die kleinen Hügel, der Hase, der Hisch graset sie ab, der Bär schweift darüber fort, der Fuchs wühlt seinen Bau dazwischen. Wir stören dort Niemand und werden von Niemanden gestört.

Er überschlug die Zahl bekannter Männer, welche unfreiwillig in den letzten Jahren dahingegangen. Vom

Eher frißt der Wolf den Vollmond,
Eher bleibet aus der Frühling,
Und die Schwalbe kehrt nicht wieder,
Als er nicht zu uns zurück kehrt,
Unser böser gnäd'ger Herr.
Schwielen sind für arme Leute,
Polster für die gnäd'gen Herren.
Arme Leute, arme Leute
Bleiben immer arme Leute!

Nun, nun! brummte Sacken, ich werde ja nicht wiederkehren. Die Reise nach Sibirien dauert Jahre, aus Jahren werden oft Jahrzehnte, aus Jahrzehnten ein Lebensalter. Was der Mensch endlich nöthig hat, trifft er auch dort, sechs Fuß Erde, und mich dünkt, man müsse in den Einöden besser ausruhen, als in unsern eng gedrängten Landstrichen, wo der hungrige Blick selbst auf den schmalen Bodenstreif neidisch blickt und ausrechnet, wie viel Hafer statt der Trauerbirke wachsen möchte. Das Vieh mag das Gras nicht fressen, das auf Kirchhöfen wächs't, sagte mir neulich verdrüßlich der deutsche Küster. Wenn man die Leute, damit sie sterben, nach den asiatischen Steppen schickt, warum sendet man nicht auch die schon Gestorbenen dahin? Raum ist genug. Die Adler rauschen über die kleinen Hügel, der Hase, der Hisch graset sie ab, der Bär schweift darüber fort, der Fuchs wühlt seinen Bau dazwischen. Wir stören dort Niemand und werden von Niemanden gestört.

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[0089] Eher frißt der Wolf den Vollmond, Eher bleibet aus der Frühling, Und die Schwalbe kehrt nicht wieder, Als er nicht zu uns zurück kehrt, Unser böser gnäd'ger Herr. Schwielen sind für arme Leute, Polster für die gnäd'gen Herren. Arme Leute, arme Leute Bleiben immer arme Leute! Nun, nun! brummte Sacken, ich werde ja nicht wiederkehren. Die Reise nach Sibirien dauert Jahre, aus Jahren werden oft Jahrzehnte, aus Jahrzehnten ein Lebensalter. Was der Mensch endlich nöthig hat, trifft er auch dort, sechs Fuß Erde, und mich dünkt, man müsse in den Einöden besser ausruhen, als in unsern eng gedrängten Landstrichen, wo der hungrige Blick selbst auf den schmalen Bodenstreif neidisch blickt und ausrechnet, wie viel Hafer statt der Trauerbirke wachsen möchte. Das Vieh mag das Gras nicht fressen, das auf Kirchhöfen wächs't, sagte mir neulich verdrüßlich der deutsche Küster. Wenn man die Leute, damit sie sterben, nach den asiatischen Steppen schickt, warum sendet man nicht auch die schon Gestorbenen dahin? Raum ist genug. Die Adler rauschen über die kleinen Hügel, der Hase, der Hisch graset sie ab, der Bär schweift darüber fort, der Fuchs wühlt seinen Bau dazwischen. Wir stören dort Niemand und werden von Niemanden gestört. Er überschlug die Zahl bekannter Männer, welche unfreiwillig in den letzten Jahren dahingegangen. Vom

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Zitationshilfe: Alexis, Willibald: Herr von Sacken. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 10. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–202. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_sacken_1910/89>, abgerufen am 25.11.2024.