Altenberg, Peter: Pròdrŏmŏs. 2. Aufl. Berlin, 1906.Eine ungeschickte, linkische, unfreie, verlegene Verbeugung beim Betreten eines Zimmers ist der Massstab für alle anderen Kulturlosigkeiten in einem Organismus! Vor allem sage frei und leicht: Guten Abend! [Abbildung]Variete-Nummer 15, nach 10 Uhr abends. Eine junge Amerikanerin, jung, schlank, tritt auf, in einem geschlossenen Kleide aus schwarzer plissierter Seide. Wie Damen gekleidet sind zu einem Souper. Nicht anders. Anti-Variete. Sie singt und bewegt sich wie Kinder in der Kinderstube. So innerlich rücksichtslos gegen das Publikum. So ganz sie selbst einfach. Ihre Art und Weise ist fürstlich. Fürstlich. "Ich bin, die ich bin, nichts weiter!" Der Durchschnittbesucher weiss damit nichts anzufangen. Er findet es fade. Der Kavalier in der Loge getraut sich nicht, sie zum Souper einladen zu lassen. Nur der Dichter im Parkett wagt es, für sie zu schwärmen. Da ist nichts Riskiertes dabei. Der Direktor fühlt: Es ist kein Succes mit ihr. Das Publikum ist jedesfalls noch nicht reif. Vielleicht in 50 Jahren ... vorläufig wünscht man den Firlefanz. [Abbildung]Eine ungeschickte, linkische, unfreie, verlegene Verbeugung beim Betreten eines Zimmers ist der Massstab für alle anderen Kulturlosigkeiten in einem Organismus! Vor allem sage frei und leicht: Guten Abend! [Abbildung]Variété-Nummer 15, nach 10 Uhr abends. Eine junge Amerikanerin, jung, schlank, tritt auf, in einem geschlossenen Kleide aus schwarzer plissierter Seide. Wie Damen gekleidet sind zu einem Souper. Nicht anders. Anti-Variété. Sie singt und bewegt sich wie Kinder in der Kinderstube. So innerlich rücksichtslos gegen das Publikum. So ganz sie selbst einfach. Ihre Art und Weise ist fürstlich. Fürstlich. „Ich bin, die ich bin, nichts weiter!“ Der Durchschnittbesucher weiss damit nichts anzufangen. Er findet es fade. Der Kavalier in der Loge getraut sich nicht, sie zum Souper einladen zu lassen. Nur der Dichter im Parkett wagt es, für sie zu schwärmen. Da ist nichts Riskiertes dabei. Der Direktor fühlt: Es ist kein Succès mit ihr. Das Publikum ist jedesfalls noch nicht reif. Vielleicht in 50 Jahren … vorläufig wünscht man den Firlefanz. [Abbildung]<TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0130" n="130"/> <p>Eine ungeschickte, linkische, unfreie, verlegene Verbeugung beim Betreten eines Zimmers ist der Massstab für <hi rendition="#g">alle anderen</hi> Kulturlosigkeiten in einem Organismus! Vor allem sage frei und leicht: Guten Abend!</p> <figure/><lb/> <p>Variété-Nummer 15, nach 10 Uhr abends.</p> <p>Eine junge Amerikanerin, jung, schlank, tritt auf, in einem geschlossenen Kleide aus schwarzer plissierter Seide.</p> <p>Wie Damen gekleidet sind zu einem Souper. Nicht anders. Anti-Variété.</p> <p>Sie singt und bewegt sich wie Kinder in der Kinderstube.</p> <p><hi rendition="#g">So innerlich rücksichtslos</hi> gegen das Publikum. So ganz sie selbst einfach.</p> <p>Ihre Art und Weise ist fürstlich. Fürstlich.</p> <p>„Ich bin, die ich bin, nichts weiter!“</p> <p>Der Durchschnittbesucher weiss damit nichts anzufangen. Er findet es fade.</p> <p>Der Kavalier in der Loge getraut sich nicht, sie zum Souper einladen zu lassen.</p> <p>Nur der Dichter im Parkett wagt es, für sie zu schwärmen. Da ist nichts Riskiertes dabei.</p> <p>Der Direktor fühlt: Es ist kein Succès mit ihr. Das Publikum ist jedesfalls noch nicht reif. Vielleicht in 50 Jahren … vorläufig wünscht man den Firlefanz.</p> <figure/><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [130/0130]
Eine ungeschickte, linkische, unfreie, verlegene Verbeugung beim Betreten eines Zimmers ist der Massstab für alle anderen Kulturlosigkeiten in einem Organismus! Vor allem sage frei und leicht: Guten Abend!
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Variété-Nummer 15, nach 10 Uhr abends.
Eine junge Amerikanerin, jung, schlank, tritt auf, in einem geschlossenen Kleide aus schwarzer plissierter Seide.
Wie Damen gekleidet sind zu einem Souper. Nicht anders. Anti-Variété.
Sie singt und bewegt sich wie Kinder in der Kinderstube.
So innerlich rücksichtslos gegen das Publikum. So ganz sie selbst einfach.
Ihre Art und Weise ist fürstlich. Fürstlich.
„Ich bin, die ich bin, nichts weiter!“
Der Durchschnittbesucher weiss damit nichts anzufangen. Er findet es fade.
Der Kavalier in der Loge getraut sich nicht, sie zum Souper einladen zu lassen.
Nur der Dichter im Parkett wagt es, für sie zu schwärmen. Da ist nichts Riskiertes dabei.
Der Direktor fühlt: Es ist kein Succès mit ihr. Das Publikum ist jedesfalls noch nicht reif. Vielleicht in 50 Jahren … vorläufig wünscht man den Firlefanz.
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