Andolt, Ernst [d. i. Bernhard Abeken]: Eine Nacht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 211–287. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.violetten Lichtern, welche durch das schmale Fenster einfielen, wunderbar beleuchtet noch blaßer und leidender erschien -- der heilige Ernst, mit welchem sie, ganz in ihr Werk versenkt, die zarten Farbenstriche auf die Leinwand webte -- die tiefe Ruhe, welche über der ganzen Scene lag -- das Alles übte auf meine Phantasie einen mächtigen Zauber. Je länger ich das Profil der schönen Künstlerin betrachte, desto bekannter werden mir ihre Zuge -- es dämmert seltsam in meiner Erinnerung -- ja! trotz der magischen Beleuchtung erkenn' ich es, dieses liebe Antlitz, welches mir oft tröstend in den Träumen meiner Kerkernächte auftauchte -- nein! ich täusche mich nicht -- sie ist es! -- Und wenn es doch eine Täuschung wäre? Dieser Zweifel trat eiskalt an mein Herz. In diesem Augenblick sah die Dame auf und wandte mir ihr volles Gesicht zu: kein Zweifel mehr -- es war die Reisegefährtin von 1812. Erschrocken über meinen Anblick hatte sie sich erhoben; sie erröthete, aber ich glaubte zu bemerken, daß sie auch mich wiedererkannte. Ich stammelte meine Entschuldigung, erklärte meine Anwesenheit, beklagte die Störung: je mehr ich redete, desto muthiger fühlte ich mich: ich erinnerte sie an unser Zusammentreffen auf jener verhängnißvollen Reise. -- Aber Sie haben das vielleicht längst vergessen? fügte ich mit traurigem Accent hinzu. Nein, ich hab' es nicht vergessen, sagte sie gerührt, alle Eindrucke jenes Winterabends stehen noch hell vor meiner Seele, auch die hülfreiche Theilnahme, welche Sie mir bewiesen bei dem kleinen Unfall mit den Pferden. O, mein Fräulein, Sie benahmen sich heroischer dabei, als ich selbst -- indeß all meine Angst und Besorgniß galt nur Ihnen -- besonders als unser toller Reisegenosse den Einfall hatte, Sie durch seine turnerischen Künste aus dem Wagen zu befreien. Sie lächelte; aber es war ein flüchtiger Strahl, violetten Lichtern, welche durch das schmale Fenster einfielen, wunderbar beleuchtet noch blaßer und leidender erschien — der heilige Ernst, mit welchem sie, ganz in ihr Werk versenkt, die zarten Farbenstriche auf die Leinwand webte — die tiefe Ruhe, welche über der ganzen Scene lag — das Alles übte auf meine Phantasie einen mächtigen Zauber. Je länger ich das Profil der schönen Künstlerin betrachte, desto bekannter werden mir ihre Zuge — es dämmert seltsam in meiner Erinnerung — ja! trotz der magischen Beleuchtung erkenn' ich es, dieses liebe Antlitz, welches mir oft tröstend in den Träumen meiner Kerkernächte auftauchte — nein! ich täusche mich nicht — sie ist es! — Und wenn es doch eine Täuschung wäre? Dieser Zweifel trat eiskalt an mein Herz. In diesem Augenblick sah die Dame auf und wandte mir ihr volles Gesicht zu: kein Zweifel mehr — es war die Reisegefährtin von 1812. Erschrocken über meinen Anblick hatte sie sich erhoben; sie erröthete, aber ich glaubte zu bemerken, daß sie auch mich wiedererkannte. Ich stammelte meine Entschuldigung, erklärte meine Anwesenheit, beklagte die Störung: je mehr ich redete, desto muthiger fühlte ich mich: ich erinnerte sie an unser Zusammentreffen auf jener verhängnißvollen Reise. — Aber Sie haben das vielleicht längst vergessen? fügte ich mit traurigem Accent hinzu. Nein, ich hab' es nicht vergessen, sagte sie gerührt, alle Eindrucke jenes Winterabends stehen noch hell vor meiner Seele, auch die hülfreiche Theilnahme, welche Sie mir bewiesen bei dem kleinen Unfall mit den Pferden. O, mein Fräulein, Sie benahmen sich heroischer dabei, als ich selbst — indeß all meine Angst und Besorgniß galt nur Ihnen — besonders als unser toller Reisegenosse den Einfall hatte, Sie durch seine turnerischen Künste aus dem Wagen zu befreien. Sie lächelte; aber es war ein flüchtiger Strahl, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0044"/> violetten Lichtern, welche durch das schmale Fenster einfielen, wunderbar beleuchtet noch blaßer und leidender erschien — der heilige Ernst, mit welchem sie, ganz in ihr Werk versenkt, die zarten Farbenstriche auf die Leinwand webte — die tiefe Ruhe, welche über der ganzen Scene lag — das Alles übte auf meine Phantasie einen mächtigen Zauber. Je länger ich das Profil der schönen Künstlerin betrachte, desto bekannter werden mir ihre Zuge — es dämmert seltsam in meiner Erinnerung — ja! trotz der magischen Beleuchtung erkenn' ich es, dieses liebe Antlitz, welches mir oft tröstend in den Träumen meiner Kerkernächte auftauchte — nein! ich täusche mich nicht — sie ist es! — Und wenn es doch eine Täuschung wäre? Dieser Zweifel trat eiskalt an mein Herz. 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Erschrocken über meinen Anblick hatte sie sich erhoben; sie erröthete, aber ich glaubte zu bemerken, daß sie auch mich wiedererkannte.
Ich stammelte meine Entschuldigung, erklärte meine Anwesenheit, beklagte die Störung: je mehr ich redete, desto muthiger fühlte ich mich: ich erinnerte sie an unser Zusammentreffen auf jener verhängnißvollen Reise. — Aber Sie haben das vielleicht längst vergessen? fügte ich mit traurigem Accent hinzu.
Nein, ich hab' es nicht vergessen, sagte sie gerührt, alle Eindrucke jenes Winterabends stehen noch hell vor meiner Seele, auch die hülfreiche Theilnahme, welche Sie mir bewiesen bei dem kleinen Unfall mit den Pferden.
O, mein Fräulein, Sie benahmen sich heroischer dabei, als ich selbst — indeß all meine Angst und Besorgniß galt nur Ihnen — besonders als unser toller Reisegenosse den Einfall hatte, Sie durch seine turnerischen Künste aus dem Wagen zu befreien.
Sie lächelte; aber es war ein flüchtiger Strahl,
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Zitationshilfe: | Andolt, Ernst [d. i. Bernhard Abeken]: Eine Nacht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 211–287. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/andolt_nacht_1910/44>, abgerufen am 16.07.2024. |