Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Andreas-Salomé, Lou: Die Erotik. In: Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsychologischer Monographien (Hg. Martin Buber), 33. Band. Frankfurt (Main), 1910.

Bild:
<< vorherige Seite

Auf diesen dunklen Grenzgebieten ist die Rolle, die auch in diesem zweiten Fall das Keimplasma selber spielen mag, noch wenig, fast gar nicht, erforscht; daß aber Kunsttrieb und Geschlechtstrieb so weitgehende Analogien bieten, daß ästhetisches Entzücken so unmerklich in erotisches übergleitet, die erotische Sehnsucht so unwillkürlich nach dem Ästhetischen, dem Schmuck, greift (der Tierheit möglicherweise direkt leibesschöpferisch ihren Schmuck anschuf), das scheint ein Zeichen geschwisterlichen Wachstums aus der gleichen Wurzel. Es scheint das nämliche Emporsteigen zu bedeuten unausgegebenen Urlebens bis in alles Persönlichste, die gleiche Heimkehr gewissermaßen der zerstreuten Sonderkräfte in die erdwarmen Tiefen zurück, worauf alles Schöpferische überhaupt beruht und wodurch das Geschaffene als lebendige Ganzheit geboren zu werden vermag. Und läßt sich schon das Sexuelle eine Wiedererweckung von Urältestem nennen, von dessen leiblichem Gedächtnis, so wird es für den künstlerisch Schaffenden ebenso wahr, daß gleichsam Erbweisheit in ihm persönlichste Erinnerung werden muß, Assoziation mit seinem Gegenwärtigsten, Eigensten, eine Art Weckruf aus dem Schlafe des Gewesenen durch den Aufruhr der Stunde.

Beim künstlerischen Vorgang aber hat in diesem Aufruhr die physische Erregung in der Gesamtergriffenheit nur den Zweck eines Begleitmoments, indem das Resultat selber als ein Gehirnprodukt allerindividuellster Verknüpfung heraustritt; beim Sexuellen dagegen lassen umgekehrt die physischen Vorgänge die geistige Exaltation nur als ein Nebenher mitschwingen, - um kein anderes "Werk", als um eines Kindes leibliche Existenz bemüht. Aus diesem Grunde bringt das Erotische so weit mehr als das Künstlerische seinen Rausch in bloßen Wahnbildern, in so viel "unwahrem", zum Aus

Auf diesen dunklen Grenzgebieten ist die Rolle, die auch in diesem zweiten Fall das Keimplasma selber spielen mag, noch wenig, fast gar nicht, erforscht; daß aber Kunsttrieb und Geschlechtstrieb so weitgehende Analogien bieten, daß ästhetisches Entzücken so unmerklich in erotisches übergleitet, die erotische Sehnsucht so unwillkürlich nach dem Ästhetischen, dem Schmuck, greift (der Tierheit möglicherweise direkt leibesschöpferisch ihren Schmuck anschuf), das scheint ein Zeichen geschwisterlichen Wachstums aus der gleichen Wurzel. Es scheint das nämliche Emporsteigen zu bedeuten unausgegebenen Urlebens bis in alles Persönlichste, die gleiche Heimkehr gewissermaßen der zerstreuten Sonderkräfte in die erdwarmen Tiefen zurück, worauf alles Schöpferische überhaupt beruht und wodurch das Geschaffene als lebendige Ganzheit geboren zu werden vermag. Und läßt sich schon das Sexuelle eine Wiedererweckung von Urältestem nennen, von dessen leiblichem Gedächtnis, so wird es für den künstlerisch Schaffenden ebenso wahr, daß gleichsam Erbweisheit in ihm persönlichste Erinnerung werden muß, Assoziation mit seinem Gegenwärtigsten, Eigensten, eine Art Weckruf aus dem Schlafe des Gewesenen durch den Aufruhr der Stunde.

Beim künstlerischen Vorgang aber hat in diesem Aufruhr die physische Erregung in der Gesamtergriffenheit nur den Zweck eines Begleitmoments, indem das Resultat selber als ein Gehirnprodukt allerindividuellster Verknüpfung heraustritt; beim Sexuellen dagegen lassen umgekehrt die physischen Vorgänge die geistige Exaltation nur als ein Nebenher mitschwingen, – um kein anderes „Werk“, als um eines Kindes leibliche Existenz bemüht. Aus diesem Grunde bringt das Erotische so weit mehr als das Künstlerische seinen Rausch in bloßen Wahnbildern, in so viel „unwahrem“, zum Aus

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0026" n="26"/>
Auf diesen dunklen Grenzgebieten ist die Rolle, die auch in diesem zweiten Fall das Keimplasma selber spielen mag, noch wenig, fast gar nicht, erforscht; daß aber Kunsttrieb und Geschlechtstrieb so weitgehende Analogien bieten, daß ästhetisches Entzücken so unmerklich in erotisches übergleitet, die erotische Sehnsucht so unwillkürlich nach dem Ästhetischen, dem Schmuck, greift (der Tierheit möglicherweise direkt leibesschöpferisch ihren Schmuck anschuf), das scheint ein Zeichen geschwisterlichen Wachstums aus der gleichen Wurzel. Es scheint das nämliche Emporsteigen zu bedeuten unausgegebenen Urlebens bis in alles Persönlichste, die gleiche Heimkehr gewissermaßen der zerstreuten Sonderkräfte in die erdwarmen Tiefen zurück, worauf alles Schöpferische überhaupt beruht und wodurch das Geschaffene als lebendige Ganzheit geboren zu werden vermag. Und läßt sich schon das Sexuelle eine Wiedererweckung von Urältestem nennen, von dessen leiblichem Gedächtnis, so wird es für den künstlerisch Schaffenden ebenso wahr, daß gleichsam Erbweisheit in ihm persönlichste Erinnerung werden muß, Assoziation mit seinem Gegenwärtigsten, Eigensten, eine Art Weckruf aus dem Schlafe des Gewesenen durch den Aufruhr der Stunde.</p>
        <p>Beim künstlerischen Vorgang aber hat in diesem Aufruhr die physische Erregung in der Gesamtergriffenheit nur den Zweck eines Begleitmoments, indem das Resultat selber als ein Gehirnprodukt allerindividuellster Verknüpfung heraustritt; beim Sexuellen dagegen lassen umgekehrt die physischen Vorgänge die geistige Exaltation nur als ein Nebenher mitschwingen, &#x2013; um kein anderes &#x201E;Werk&#x201C;, als um eines Kindes leibliche Existenz bemüht. Aus diesem Grunde bringt das Erotische so weit mehr als das Künstlerische seinen Rausch in bloßen Wahnbildern, in so viel &#x201E;unwahrem&#x201C;, zum Aus
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[26/0026] Auf diesen dunklen Grenzgebieten ist die Rolle, die auch in diesem zweiten Fall das Keimplasma selber spielen mag, noch wenig, fast gar nicht, erforscht; daß aber Kunsttrieb und Geschlechtstrieb so weitgehende Analogien bieten, daß ästhetisches Entzücken so unmerklich in erotisches übergleitet, die erotische Sehnsucht so unwillkürlich nach dem Ästhetischen, dem Schmuck, greift (der Tierheit möglicherweise direkt leibesschöpferisch ihren Schmuck anschuf), das scheint ein Zeichen geschwisterlichen Wachstums aus der gleichen Wurzel. Es scheint das nämliche Emporsteigen zu bedeuten unausgegebenen Urlebens bis in alles Persönlichste, die gleiche Heimkehr gewissermaßen der zerstreuten Sonderkräfte in die erdwarmen Tiefen zurück, worauf alles Schöpferische überhaupt beruht und wodurch das Geschaffene als lebendige Ganzheit geboren zu werden vermag. Und läßt sich schon das Sexuelle eine Wiedererweckung von Urältestem nennen, von dessen leiblichem Gedächtnis, so wird es für den künstlerisch Schaffenden ebenso wahr, daß gleichsam Erbweisheit in ihm persönlichste Erinnerung werden muß, Assoziation mit seinem Gegenwärtigsten, Eigensten, eine Art Weckruf aus dem Schlafe des Gewesenen durch den Aufruhr der Stunde. Beim künstlerischen Vorgang aber hat in diesem Aufruhr die physische Erregung in der Gesamtergriffenheit nur den Zweck eines Begleitmoments, indem das Resultat selber als ein Gehirnprodukt allerindividuellster Verknüpfung heraustritt; beim Sexuellen dagegen lassen umgekehrt die physischen Vorgänge die geistige Exaltation nur als ein Nebenher mitschwingen, – um kein anderes „Werk“, als um eines Kindes leibliche Existenz bemüht. Aus diesem Grunde bringt das Erotische so weit mehr als das Künstlerische seinen Rausch in bloßen Wahnbildern, in so viel „unwahrem“, zum Aus

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-08-21T15:30:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-08-21T15:30:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/andreas_erotik_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/andreas_erotik_1910/26
Zitationshilfe: Andreas-Salomé, Lou: Die Erotik. In: Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsychologischer Monographien (Hg. Martin Buber), 33. Band. Frankfurt (Main), 1910, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/andreas_erotik_1910/26>, abgerufen am 23.11.2024.