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Andreas-Salomé, Lou: Die Erotik. In: Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsychologischer Monographien (Hg. Martin Buber), 33. Band. Frankfurt (Main), 1910.

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unsachliche Rücksichten voreingenommene Abschätzung überhaupt, der sexuellen Betätigung wie Abstinenz. Wenn sie nach manchen Seiten immer noch unter die offenen Fragen gehört, so mag es unter anderm damit zusammenhängen, daß uns über die innern Sekretionen der Blutdrüsen sowie deren Verwandtschaft untereinander (die möglicherweise stellvertretender wirken kann als wir wissen) nicht im entferntesten so Genaues bekannt ist wie über die geschlechtlichen Außensekretionen; so daß wir nicht wirklich übersehn können, welchen Einflüssen von ihnen her wir unterstellt sein mögen auch da, wo die sexuelle Betätigung nach außen fortfällt (wie, im üblichsten Beispiel, bei Entfernung nur von Mutter oder Glied, nicht auch von Eierstöcken und Hodensäcken, die sekundären Geschlechtscharaktere nicht beeinflußt werden). Denkbar bliebe es ja, daß von diesem oder jenem andern ähnlichen Punkt aus, sich für die sexuelle Enthaltsamkeit einmal Schlüsse ergeben, die sie nicht bloß gesundheitlich statthaft, sondern wertvoll, - im Sinne des kraftsteigernden, weil kraftresorbierenden und - umsetzenden Wertes, - erscheinen lassen. Und viele Frauen werden es dann sein, die mit einem heimlichen Lächeln fühlen werden, daß sie davon längst etwas wußten, - sie, in denen die zwingende sexuelle Zucht aller christlichen Jahrhunderte, in manchen Schichten wenigstens, zu einer natürlichen Unabhängigkeit gegenüber der nackten Notdurft des Triebhaften geworden ist, - sie, die es sich heute deshalb noch dreimal, nein: zehntausendmal überlegen sollten, ehe sie eine ihnen persönlich schon fast mühelos in den Schoß fallende Frucht langen, harten Kulturringens, sich wieder entgleiten lassen für modernere Liebesfreiheit, denn sehr viel wenigere Generationen genügen zur Beraubung als zur Erwerbung.

unsachliche Rücksichten voreingenommene Abschätzung überhaupt, der sexuellen Betätigung wie Abstinenz. Wenn sie nach manchen Seiten immer noch unter die offenen Fragen gehört, so mag es unter anderm damit zusammenhängen, daß uns über die innern Sekretionen der Blutdrüsen sowie deren Verwandtschaft untereinander (die möglicherweise stellvertretender wirken kann als wir wissen) nicht im entferntesten so Genaues bekannt ist wie über die geschlechtlichen Außensekretionen; so daß wir nicht wirklich übersehn können, welchen Einflüssen von ihnen her wir unterstellt sein mögen auch da, wo die sexuelle Betätigung nach außen fortfällt (wie, im üblichsten Beispiel, bei Entfernung nur von Mutter oder Glied, nicht auch von Eierstöcken und Hodensäcken, die sekundären Geschlechtscharaktere nicht beeinflußt werden). Denkbar bliebe es ja, daß von diesem oder jenem andern ähnlichen Punkt aus, sich für die sexuelle Enthaltsamkeit einmal Schlüsse ergeben, die sie nicht bloß gesundheitlich statthaft, sondern wertvoll, – im Sinne des kraftsteigernden, weil kraftresorbierenden und – umsetzenden Wertes, – erscheinen lassen. Und viele Frauen werden es dann sein, die mit einem heimlichen Lächeln fühlen werden, daß sie davon längst etwas wußten, – sie, in denen die zwingende sexuelle Zucht aller christlichen Jahrhunderte, in manchen Schichten wenigstens, zu einer natürlichen Unabhängigkeit gegenüber der nackten Notdurft des Triebhaften geworden ist, – sie, die es sich heute deshalb noch dreimal, nein: zehntausendmal überlegen sollten, ehe sie eine ihnen persönlich schon fast mühelos in den Schoß fallende Frucht langen, harten Kulturringens, sich wieder entgleiten lassen für modernere Liebesfreiheit, denn sehr viel wenigere Generationen genügen zur Beraubung als zur Erwerbung.

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unsachliche Rücksichten voreingenommene Abschätzung überhaupt, der sexuellen Betätigung wie Abstinenz. Wenn sie nach manchen Seiten immer noch unter die offenen Fragen gehört, so mag es unter anderm damit zusammenhängen, daß uns über die innern Sekretionen der Blutdrüsen sowie deren Verwandtschaft untereinander (die möglicherweise stellvertretender wirken kann als wir wissen) nicht im entferntesten so Genaues bekannt ist wie über die geschlechtlichen Außensekretionen; so daß wir nicht wirklich übersehn können, welchen Einflüssen von ihnen her wir unterstellt sein mögen auch da, wo die sexuelle Betätigung nach außen fortfällt (wie, im üblichsten Beispiel, bei Entfernung nur von Mutter oder Glied, nicht auch von Eierstöcken und Hodensäcken, die sekundären Geschlechtscharaktere nicht beeinflußt werden). Denkbar bliebe es ja, daß von diesem oder jenem andern ähnlichen Punkt aus, sich für die sexuelle Enthaltsamkeit einmal Schlüsse ergeben, die sie nicht bloß gesundheitlich statthaft, sondern wertvoll, &#x2013; im Sinne des kraftsteigernden, weil kraftresorbierenden und &#x2013; umsetzenden Wertes, &#x2013; erscheinen lassen. Und viele Frauen werden es dann sein, die mit einem heimlichen Lächeln fühlen werden, daß sie davon längst etwas wußten, &#x2013; sie, in denen die zwingende sexuelle Zucht aller christlichen Jahrhunderte, in manchen Schichten wenigstens, zu einer natürlichen Unabhängigkeit gegenüber der nackten Notdurft des Triebhaften geworden ist, &#x2013; sie, die es sich heute deshalb noch dreimal, nein: zehntausendmal überlegen sollten, ehe sie eine ihnen persönlich schon fast mühelos in den Schoß fallende Frucht langen, harten Kulturringens, sich wieder entgleiten lassen für modernere Liebesfreiheit, denn sehr viel wenigere Generationen genügen zur Beraubung als zur Erwerbung.</p>
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[9/0009] unsachliche Rücksichten voreingenommene Abschätzung überhaupt, der sexuellen Betätigung wie Abstinenz. Wenn sie nach manchen Seiten immer noch unter die offenen Fragen gehört, so mag es unter anderm damit zusammenhängen, daß uns über die innern Sekretionen der Blutdrüsen sowie deren Verwandtschaft untereinander (die möglicherweise stellvertretender wirken kann als wir wissen) nicht im entferntesten so Genaues bekannt ist wie über die geschlechtlichen Außensekretionen; so daß wir nicht wirklich übersehn können, welchen Einflüssen von ihnen her wir unterstellt sein mögen auch da, wo die sexuelle Betätigung nach außen fortfällt (wie, im üblichsten Beispiel, bei Entfernung nur von Mutter oder Glied, nicht auch von Eierstöcken und Hodensäcken, die sekundären Geschlechtscharaktere nicht beeinflußt werden). Denkbar bliebe es ja, daß von diesem oder jenem andern ähnlichen Punkt aus, sich für die sexuelle Enthaltsamkeit einmal Schlüsse ergeben, die sie nicht bloß gesundheitlich statthaft, sondern wertvoll, – im Sinne des kraftsteigernden, weil kraftresorbierenden und – umsetzenden Wertes, – erscheinen lassen. Und viele Frauen werden es dann sein, die mit einem heimlichen Lächeln fühlen werden, daß sie davon längst etwas wußten, – sie, in denen die zwingende sexuelle Zucht aller christlichen Jahrhunderte, in manchen Schichten wenigstens, zu einer natürlichen Unabhängigkeit gegenüber der nackten Notdurft des Triebhaften geworden ist, – sie, die es sich heute deshalb noch dreimal, nein: zehntausendmal überlegen sollten, ehe sie eine ihnen persönlich schon fast mühelos in den Schoß fallende Frucht langen, harten Kulturringens, sich wieder entgleiten lassen für modernere Liebesfreiheit, denn sehr viel wenigere Generationen genügen zur Beraubung als zur Erwerbung.

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Zitationshilfe: Andreas-Salomé, Lou: Die Erotik. In: Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsychologischer Monographien (Hg. Martin Buber), 33. Band. Frankfurt (Main), 1910, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/andreas_erotik_1910/9>, abgerufen am 19.04.2024.