Andreas-Salome, Lou: Fenitschka. Eine Ausschweifung. Stuttgart, 1898.kaum existiert, und was mir selbst immer schattenhaft An einem heißen Sommertag, weit hinten an der Viele früheste Kindheitserinnerungen vorher und nach¬ kaum exiſtiert, und was mir ſelbſt immer ſchattenhaft An einem heißen Sommertag, weit hinten an der Viele früheſte Kindheitserinnerungen vorher und nach¬ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0107" n="103"/><fw type="pageNum" place="top">— 103 —<lb/></fw>kaum exiſtiert, und was mir ſelbſt immer ſchattenhaft<lb/> undeutlich geblieben iſt.</p><lb/> <p>An einem heißen Sommertag, weit hinten an der<lb/> deutſch-galiziſchen Grenze, wo mein Vater damals in Gar¬<lb/> niſon ſtand, ſaß ich einſt als ganz kleines Mädchen auf<lb/> dem Arm meiner frühern Amme und ſah zu, wie ſie<lb/> von ihrem Mann über den Nacken geſchlagen wurde,<lb/> während ihre Augen in verliebter Demut an ihm hingen.<lb/> Der kraftvolle gebräunte Nacken, den ſie der Hitze wegen<lb/> offen trug, behielt einen tiefroten Striemen, doch als<lb/> ich im Schrecken darüber zu weinen anfing, da lachte<lb/> meine galiziſche Amme mir ſo glückſelig ins Geſicht, daß<lb/> mein Kinderherz meinen mußte, dieſer brutale Schlag<lb/> gehöre zweifellos zu den beſondern Annehmlichkeiten ihres<lb/> Lebens. Und vielleicht war es in der That ein wenig der<lb/> Fall, denn weil ſie ſich, mit der faſt hündiſchen Anhäng¬<lb/> lichkeit mancher ſlaviſchen Weiber, geweigert hatte, unſer<lb/> Haus zu verlaſſen, nachdem ſie mich neun Monate lang<lb/> mit ihrer Muttermilch genährt, fürchtete ſie nun immer,<lb/> ihr Mann möchte einmal aufhören zu ihr zu kommen<lb/> und weder Liebe noch Zorn für ſie übrig behalten. Jeden¬<lb/> falls prügelte er ſie oft, wenn er kam, und niemals<lb/> tönten ihr die Volkslieder heller von den Lippen, als<lb/> nach ſolch einem feſtlichen Wiederſehen.</p><lb/> <p>Viele früheſte Kindheitserinnerungen vorher und nach¬<lb/> her, — ja ſelbſt noch jahrelang nachher, — ſind mir ſpur¬<lb/> los verblichen. Aber etwas von der faſt wolluſtweichen<lb/> Demut im Ausdruck der Blicke und Gebärden meiner<lb/> Amme in jenem Augenblick iſt mir ſpäter oft noch im<lb/> Gedächtnis wieder aufgetaucht, immer zugleich mit dem<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [103/0107]
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kaum exiſtiert, und was mir ſelbſt immer ſchattenhaft
undeutlich geblieben iſt.
An einem heißen Sommertag, weit hinten an der
deutſch-galiziſchen Grenze, wo mein Vater damals in Gar¬
niſon ſtand, ſaß ich einſt als ganz kleines Mädchen auf
dem Arm meiner frühern Amme und ſah zu, wie ſie
von ihrem Mann über den Nacken geſchlagen wurde,
während ihre Augen in verliebter Demut an ihm hingen.
Der kraftvolle gebräunte Nacken, den ſie der Hitze wegen
offen trug, behielt einen tiefroten Striemen, doch als
ich im Schrecken darüber zu weinen anfing, da lachte
meine galiziſche Amme mir ſo glückſelig ins Geſicht, daß
mein Kinderherz meinen mußte, dieſer brutale Schlag
gehöre zweifellos zu den beſondern Annehmlichkeiten ihres
Lebens. Und vielleicht war es in der That ein wenig der
Fall, denn weil ſie ſich, mit der faſt hündiſchen Anhäng¬
lichkeit mancher ſlaviſchen Weiber, geweigert hatte, unſer
Haus zu verlaſſen, nachdem ſie mich neun Monate lang
mit ihrer Muttermilch genährt, fürchtete ſie nun immer,
ihr Mann möchte einmal aufhören zu ihr zu kommen
und weder Liebe noch Zorn für ſie übrig behalten. Jeden¬
falls prügelte er ſie oft, wenn er kam, und niemals
tönten ihr die Volkslieder heller von den Lippen, als
nach ſolch einem feſtlichen Wiederſehen.
Viele früheſte Kindheitserinnerungen vorher und nach¬
her, — ja ſelbſt noch jahrelang nachher, — ſind mir ſpur¬
los verblichen. Aber etwas von der faſt wolluſtweichen
Demut im Ausdruck der Blicke und Gebärden meiner
Amme in jenem Augenblick iſt mir ſpäter oft noch im
Gedächtnis wieder aufgetaucht, immer zugleich mit dem
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