Antonius Anthus [i. e. Blumröder, Gustav]: Vorlesungen über Esskunst. Leipzig, 1838.Alles ganz weichgekocht und schon zerschnitten aufgetragen wird. Zum rechten Verständniß und Genuß eines Kunstwerkes Doch ist ein zu nahes und zu genaues Besehen eben so Im Dunkeln kann man nicht essen. Kerzenbeleuchtung Den Kunstakademieen will man in neuerer Zeit, wie ich Alles ganz weichgekocht und ſchon zerſchnitten aufgetragen wird. Zum rechten Verſtaͤndniß und Genuß eines Kunſtwerkes Doch iſt ein zu nahes und zu genaues Beſehen eben ſo Im Dunkeln kann man nicht eſſen. Kerzenbeleuchtung Den Kunſtakademieen will man in neuerer Zeit, wie ich <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0104" n="90"/> Alles ganz weichgekocht und ſchon zerſchnitten aufgetragen wird.<lb/> Moͤchten dieſe Vorleſungen nicht zu hart und nicht zu weich<lb/> gekocht ſein!</p><lb/> <p>Zum rechten Verſtaͤndniß und Genuß eines Kunſtwerkes<lb/> iſt ferner erforderlich, daſſelbe im rechten Licht und in gehoͤriger<lb/> Naͤhe zu ſehen. Letzteres iſt beſonders fuͤr den Eßkuͤnſtler wich-<lb/> tig, fuͤr welchen eine zu große Ferne des Gegenſtandes immer<lb/> etwas ſehr Unangenehmes hat. Der Eßkuͤnſtler faſſe alſo ſei-<lb/> nen Gegenſtand ſcharf in’s Auge. Einer meiner Bekannten<lb/> heirathete ein Maͤdchen, welches er vor lauter Liebe gar nicht<lb/> recht angeſehen hatte. Nach und nach, und zwar bald nach der<lb/> Hochzeit, konnte er ſie ruhig genau anſehen, und fand zu<lb/> ſonderbarer Ueberraſchung, daß ſie, nun ſeine feſte Frau, drei<lb/> und zwanzig Zaͤhne zu wenig und funfzehn Warzen zu viel hatte.</p><lb/> <p>Doch iſt ein zu nahes und zu genaues Beſehen eben ſo<lb/> unpaſſend. Wer ein Oelgemaͤlde in ſpannenlanger Naͤhe be-<lb/> trachtet, ſieht ſo viel wie gar nichts. Wer mit der Naſe un-<lb/> mittelbar auf’s Eſſen ſtoͤßt, wird nichts Angenehmes riechen,<lb/> und alſo auch ſchmecken. Der von ferne lieblich duftende Mo-<lb/> ſchus ſtinkt zu nahe berochen.</p><lb/> <p>Im Dunkeln kann man nicht eſſen. Kerzenbeleuchtung<lb/> bei Nacht giebt den Speiſen und Getraͤnken — wie Fackelbe-<lb/> leuchtung Marmorſtatuen — ein viel hoͤheres Licht, hebendere<lb/> Schatten, einen viel lebendigeren Ton, als die trockne Proſa<lb/> des Tageslichtes. Die Nacht, ſagt <hi rendition="#g">Byron</hi>, zeigt Stern’ und<lb/> Weiber in erhoͤhter Pracht.</p><lb/> <p>Den Kunſtakademieen will man in neuerer Zeit, wie ich<lb/> glaube, nicht ohne Grund, ihr Foͤrderliches fuͤr Kunſtbildung<lb/> abſprechen, oder doch in ſehr beſcheidenem Maaße zugeſtehen.<lb/> Die Nothwendigkeit und Nuͤtzlichkeit der Kunſtreiſen ſtellt aber<lb/> meines Wiſſens niemand in Abrede, als ein unmenſchlich, oder<lb/> doch unmaͤnnlich frommer Rezenſent der Halleſchen allgemeinen<lb/> Literaturzeitung, welcher bitter und ſchmerzlich klagt, daß Reiſen<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [90/0104]
Alles ganz weichgekocht und ſchon zerſchnitten aufgetragen wird.
Moͤchten dieſe Vorleſungen nicht zu hart und nicht zu weich
gekocht ſein!
Zum rechten Verſtaͤndniß und Genuß eines Kunſtwerkes
iſt ferner erforderlich, daſſelbe im rechten Licht und in gehoͤriger
Naͤhe zu ſehen. Letzteres iſt beſonders fuͤr den Eßkuͤnſtler wich-
tig, fuͤr welchen eine zu große Ferne des Gegenſtandes immer
etwas ſehr Unangenehmes hat. Der Eßkuͤnſtler faſſe alſo ſei-
nen Gegenſtand ſcharf in’s Auge. Einer meiner Bekannten
heirathete ein Maͤdchen, welches er vor lauter Liebe gar nicht
recht angeſehen hatte. Nach und nach, und zwar bald nach der
Hochzeit, konnte er ſie ruhig genau anſehen, und fand zu
ſonderbarer Ueberraſchung, daß ſie, nun ſeine feſte Frau, drei
und zwanzig Zaͤhne zu wenig und funfzehn Warzen zu viel hatte.
Doch iſt ein zu nahes und zu genaues Beſehen eben ſo
unpaſſend. Wer ein Oelgemaͤlde in ſpannenlanger Naͤhe be-
trachtet, ſieht ſo viel wie gar nichts. Wer mit der Naſe un-
mittelbar auf’s Eſſen ſtoͤßt, wird nichts Angenehmes riechen,
und alſo auch ſchmecken. Der von ferne lieblich duftende Mo-
ſchus ſtinkt zu nahe berochen.
Im Dunkeln kann man nicht eſſen. Kerzenbeleuchtung
bei Nacht giebt den Speiſen und Getraͤnken — wie Fackelbe-
leuchtung Marmorſtatuen — ein viel hoͤheres Licht, hebendere
Schatten, einen viel lebendigeren Ton, als die trockne Proſa
des Tageslichtes. Die Nacht, ſagt Byron, zeigt Stern’ und
Weiber in erhoͤhter Pracht.
Den Kunſtakademieen will man in neuerer Zeit, wie ich
glaube, nicht ohne Grund, ihr Foͤrderliches fuͤr Kunſtbildung
abſprechen, oder doch in ſehr beſcheidenem Maaße zugeſtehen.
Die Nothwendigkeit und Nuͤtzlichkeit der Kunſtreiſen ſtellt aber
meines Wiſſens niemand in Abrede, als ein unmenſchlich, oder
doch unmaͤnnlich frommer Rezenſent der Halleſchen allgemeinen
Literaturzeitung, welcher bitter und ſchmerzlich klagt, daß Reiſen
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