Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Antonius Anthus [i. e. Blumröder, Gustav]: Vorlesungen über Esskunst. Leipzig, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

Gesindel bis auf die letzten Tage herab unsere größten Dichter
anwinselte und anbellte.

Der Eßkünstler will, daß es ihm und der ganzen Welt
schmecke, und wie er niemand etwas wegißt, so verlangt er
seinerseits billig ein Gleiches. Er opfert als Mensch seinen
Appetit dem Hunger eines Andern auf, kommt aber Hunger
mit Hunger in Collision, so tritt der fatale Fall von den zwei
Schiffbrüchigen auf Einem Balken ein, der nur Einen trägt.
Welcher von Beiden hinunter und ertrinken soll, findet man
sehr genau und lang in Cicero's berühmtem Buch über die
Pflichten erörtert. Es ist nur nicht zu vergessen, daß in solchen
Extremitäten der Eßkünstler als solcher gar nicht in Frage
kommt.

Allerdings erwachsen für den Eßkünstler als solchem aus
diesem, seinem speziellen Berufe auch eigenthümliche Pflichten,
und diese mögen denn, da gegenwärtige Vorlesungen ihren Ge-
genstand nach allen seinen Seiten und Richtungen darzustellen
haben, auch hier zunächst besprochen sein.

Ueber die absolute Verpflichtung zum Essen überhaupt
gedenke ich nur wenig zu sagen. Schon Avicenna spricht die
große Wahrheit aus, daß wer hungerig ist, essen soll, und wie
Prosper Alpinus bezeugt, ist es zwar sehr bedenklich, wenn
ein Mensch keinen Durst hat und nicht trinken mag, tödlich
aber ist's, wenn Wahnsinn oder Delirium so weit geht, daß
der Mensch nicht essen will. Nicht essen zu wollen wird von
allen erfahrenen Aerzten als der höchste Gipfel der Narrheit be-
trachtet. Umgekehrt ist aber noch kein einziger Fall bekannt,
daß die Neigung zur Eßkunst sich so wild leidenschaftlich gestal-
tet hätte, daß Wahnsinn daraus hervorgegangen wäre.

Nach den glaubwürdigsten Zeugnissen der Geschichtschreiber
haben alle großen Männer gegessen, und gerne und ohne Be-
denken gegessen und die ersten und tiefsten Denker aller Völker
und Zeiten die Verpflichtung zum Essen, wenn nicht ausdrücklich,

Geſindel bis auf die letzten Tage herab unſere groͤßten Dichter
anwinſelte und anbellte.

Der Eßkuͤnſtler will, daß es ihm und der ganzen Welt
ſchmecke, und wie er niemand etwas wegißt, ſo verlangt er
ſeinerſeits billig ein Gleiches. Er opfert als Menſch ſeinen
Appetit dem Hunger eines Andern auf, kommt aber Hunger
mit Hunger in Colliſion, ſo tritt der fatale Fall von den zwei
Schiffbruͤchigen auf Einem Balken ein, der nur Einen traͤgt.
Welcher von Beiden hinunter und ertrinken ſoll, findet man
ſehr genau und lang in Cicero’s beruͤhmtem Buch uͤber die
Pflichten eroͤrtert. Es iſt nur nicht zu vergeſſen, daß in ſolchen
Extremitaͤten der Eßkuͤnſtler als ſolcher gar nicht in Frage
kommt.

Allerdings erwachſen fuͤr den Eßkuͤnſtler als ſolchem aus
dieſem, ſeinem ſpeziellen Berufe auch eigenthuͤmliche Pflichten,
und dieſe moͤgen denn, da gegenwaͤrtige Vorleſungen ihren Ge-
genſtand nach allen ſeinen Seiten und Richtungen darzuſtellen
haben, auch hier zunaͤchſt beſprochen ſein.

Ueber die abſolute Verpflichtung zum Eſſen uͤberhaupt
gedenke ich nur wenig zu ſagen. Schon Avicenna ſpricht die
große Wahrheit aus, daß wer hungerig iſt, eſſen ſoll, und wie
Prosper Alpinus bezeugt, iſt es zwar ſehr bedenklich, wenn
ein Menſch keinen Durſt hat und nicht trinken mag, toͤdlich
aber iſt’s, wenn Wahnſinn oder Delirium ſo weit geht, daß
der Menſch nicht eſſen will. Nicht eſſen zu wollen wird von
allen erfahrenen Aerzten als der hoͤchſte Gipfel der Narrheit be-
trachtet. Umgekehrt iſt aber noch kein einziger Fall bekannt,
daß die Neigung zur Eßkunſt ſich ſo wild leidenſchaftlich geſtal-
tet haͤtte, daß Wahnſinn daraus hervorgegangen waͤre.

Nach den glaubwuͤrdigſten Zeugniſſen der Geſchichtſchreiber
haben alle großen Maͤnner gegeſſen, und gerne und ohne Be-
denken gegeſſen und die erſten und tiefſten Denker aller Voͤlker
und Zeiten die Verpflichtung zum Eſſen, wenn nicht ausdruͤcklich,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0112" n="98"/>
Ge&#x017F;indel bis auf die letzten Tage herab un&#x017F;ere gro&#x0364;ßten Dichter<lb/>
anwin&#x017F;elte und anbellte.</p><lb/>
        <p>Der Eßku&#x0364;n&#x017F;tler will, daß es ihm und der ganzen Welt<lb/>
&#x017F;chmecke, und wie er niemand etwas wegißt, &#x017F;o verlangt er<lb/>
&#x017F;einer&#x017F;eits billig ein Gleiches. Er opfert als Men&#x017F;ch &#x017F;einen<lb/>
Appetit dem Hunger eines Andern auf, kommt aber Hunger<lb/>
mit Hunger in Colli&#x017F;ion, &#x017F;o tritt der fatale Fall von den zwei<lb/>
Schiffbru&#x0364;chigen auf Einem Balken ein, der nur Einen tra&#x0364;gt.<lb/>
Welcher von Beiden hinunter und ertrinken &#x017F;oll, findet man<lb/>
&#x017F;ehr genau und lang in <hi rendition="#g">Cicero</hi>&#x2019;s beru&#x0364;hmtem Buch u&#x0364;ber die<lb/>
Pflichten ero&#x0364;rtert. Es i&#x017F;t nur nicht zu verge&#x017F;&#x017F;en, daß in &#x017F;olchen<lb/>
Extremita&#x0364;ten der Eßku&#x0364;n&#x017F;tler als &#x017F;olcher gar nicht in Frage<lb/>
kommt.</p><lb/>
        <p>Allerdings erwach&#x017F;en fu&#x0364;r den Eßku&#x0364;n&#x017F;tler als &#x017F;olchem aus<lb/>
die&#x017F;em, &#x017F;einem &#x017F;peziellen Berufe auch eigenthu&#x0364;mliche Pflichten,<lb/>
und die&#x017F;e mo&#x0364;gen denn, da gegenwa&#x0364;rtige Vorle&#x017F;ungen ihren Ge-<lb/>
gen&#x017F;tand nach allen &#x017F;einen Seiten und Richtungen darzu&#x017F;tellen<lb/>
haben, auch hier zuna&#x0364;ch&#x017F;t be&#x017F;prochen &#x017F;ein.</p><lb/>
        <p>Ueber die ab&#x017F;olute Verpflichtung zum E&#x017F;&#x017F;en u&#x0364;berhaupt<lb/>
gedenke ich nur wenig zu &#x017F;agen. Schon <hi rendition="#g">Avicenna</hi> &#x017F;pricht die<lb/>
große Wahrheit aus, daß wer hungerig i&#x017F;t, e&#x017F;&#x017F;en &#x017F;oll, und wie<lb/><hi rendition="#g">Prosper Alpinus</hi> bezeugt, i&#x017F;t es zwar &#x017F;ehr bedenklich, wenn<lb/>
ein Men&#x017F;ch keinen Dur&#x017F;t hat und nicht trinken mag, to&#x0364;dlich<lb/>
aber i&#x017F;t&#x2019;s, wenn Wahn&#x017F;inn oder Delirium &#x017F;o weit geht, daß<lb/>
der Men&#x017F;ch nicht e&#x017F;&#x017F;en will. Nicht e&#x017F;&#x017F;en zu wollen wird von<lb/>
allen erfahrenen Aerzten als der ho&#x0364;ch&#x017F;te Gipfel der Narrheit be-<lb/>
trachtet. Umgekehrt i&#x017F;t aber noch kein einziger Fall bekannt,<lb/>
daß die Neigung zur Eßkun&#x017F;t &#x017F;ich &#x017F;o wild leiden&#x017F;chaftlich ge&#x017F;tal-<lb/>
tet ha&#x0364;tte, daß Wahn&#x017F;inn daraus hervorgegangen wa&#x0364;re.</p><lb/>
        <p>Nach den glaubwu&#x0364;rdig&#x017F;ten Zeugni&#x017F;&#x017F;en der Ge&#x017F;chicht&#x017F;chreiber<lb/>
haben alle großen Ma&#x0364;nner gege&#x017F;&#x017F;en, und gerne und ohne Be-<lb/>
denken gege&#x017F;&#x017F;en und die er&#x017F;ten und tief&#x017F;ten Denker aller Vo&#x0364;lker<lb/>
und Zeiten die Verpflichtung zum E&#x017F;&#x017F;en, wenn nicht ausdru&#x0364;cklich,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[98/0112] Geſindel bis auf die letzten Tage herab unſere groͤßten Dichter anwinſelte und anbellte. Der Eßkuͤnſtler will, daß es ihm und der ganzen Welt ſchmecke, und wie er niemand etwas wegißt, ſo verlangt er ſeinerſeits billig ein Gleiches. Er opfert als Menſch ſeinen Appetit dem Hunger eines Andern auf, kommt aber Hunger mit Hunger in Colliſion, ſo tritt der fatale Fall von den zwei Schiffbruͤchigen auf Einem Balken ein, der nur Einen traͤgt. Welcher von Beiden hinunter und ertrinken ſoll, findet man ſehr genau und lang in Cicero’s beruͤhmtem Buch uͤber die Pflichten eroͤrtert. Es iſt nur nicht zu vergeſſen, daß in ſolchen Extremitaͤten der Eßkuͤnſtler als ſolcher gar nicht in Frage kommt. Allerdings erwachſen fuͤr den Eßkuͤnſtler als ſolchem aus dieſem, ſeinem ſpeziellen Berufe auch eigenthuͤmliche Pflichten, und dieſe moͤgen denn, da gegenwaͤrtige Vorleſungen ihren Ge- genſtand nach allen ſeinen Seiten und Richtungen darzuſtellen haben, auch hier zunaͤchſt beſprochen ſein. Ueber die abſolute Verpflichtung zum Eſſen uͤberhaupt gedenke ich nur wenig zu ſagen. Schon Avicenna ſpricht die große Wahrheit aus, daß wer hungerig iſt, eſſen ſoll, und wie Prosper Alpinus bezeugt, iſt es zwar ſehr bedenklich, wenn ein Menſch keinen Durſt hat und nicht trinken mag, toͤdlich aber iſt’s, wenn Wahnſinn oder Delirium ſo weit geht, daß der Menſch nicht eſſen will. Nicht eſſen zu wollen wird von allen erfahrenen Aerzten als der hoͤchſte Gipfel der Narrheit be- trachtet. Umgekehrt iſt aber noch kein einziger Fall bekannt, daß die Neigung zur Eßkunſt ſich ſo wild leidenſchaftlich geſtal- tet haͤtte, daß Wahnſinn daraus hervorgegangen waͤre. Nach den glaubwuͤrdigſten Zeugniſſen der Geſchichtſchreiber haben alle großen Maͤnner gegeſſen, und gerne und ohne Be- denken gegeſſen und die erſten und tiefſten Denker aller Voͤlker und Zeiten die Verpflichtung zum Eſſen, wenn nicht ausdruͤcklich,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/anthus_esskunst_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/anthus_esskunst_1838/112
Zitationshilfe: Antonius Anthus [i. e. Blumröder, Gustav]: Vorlesungen über Esskunst. Leipzig, 1838, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/anthus_esskunst_1838/112>, abgerufen am 24.11.2024.