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Antonius Anthus [i. e. Blumröder, Gustav]: Vorlesungen über Esskunst. Leipzig, 1838.

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sagt Goethe, "muß das die ersten Wege verleimen und ver-
stopfen, besonders bei den Kindern und Frauen, und die kachek-
tische Farbe deutet auf solches Verderben."

Verlassen wir das Beklagenswerthe! Wir begegnen Freund-
licherem. Welche muthblitzenden Augen, welche blühenden,
vollen, lachenden Backen, welche Fülle der festen Waden, wel-
che Kraft und Gelenkigkeit des starken, riesigen Gliederbaues! --
Woher denn diese Entschiedenheit des Charakters, dieser kühne
Unternehmungsgeist, dieser durchdachte Plan, dieses kräftige
Wollen?

Seht Ihr denn die, bis auf die mächtigen Knochen abge-
nagten Reste des saftigen Bratens nicht, steht nicht die bis zur
Nagelprobe geleerte Flasche trefflichen Weines daneben? --

Sagt doch der alte Galen, man könne durch die bloße
Wahl der Nahrungsmittel einen Weisen, Klugen, Geschickten,
Muthigen, Keuschen oder das Gegentheil von dem Allen machen,
und auch Cartesius spricht es aus: Si l'espece humain peut
etre perfectionnee c'est dans la medecine
(im Essen) qu'il
faut en chercher les moyens.
Interessant ist die Geschichte
der moralischen Folgen einer Schildkrötensuppe an Herr und
Madame Skate in vierten Theil von Yorick's empfindsamer
Reise, und der Herr Stadtphysikus Schimko in Olmütz hat
ganz recht, das Menschengeschlecht durch bessere Nahrungsmit-
tel regeneriren und amelioriren zu wollen.

Warum blühen denn in jener Provinz Gewerbe und Han-
del, Ackerbau und Viehzucht, woher der hohe Werth der Grund-
stücke, woher deren trefflicher Anbau, die gigantischen Gemüse
und Früchte, die 800 Pfund schweren Ochsen, die 140 Pfund
schweren Kälber, die 23pfündigen Truthähne, woher der rege
Absatz, woher die fröhlichen Gesichter, Musik und Tanz? Die
Leute leben gut, und Leben fördert Leben.

Doch ich lasse mich von meinem Gegenstand zu sehr hin-
reißen. Der Mensch ist zu einem frohen Lebensgenuß nicht

ſagt Goethe, „muß das die erſten Wege verleimen und ver-
ſtopfen, beſonders bei den Kindern und Frauen, und die kachek-
tiſche Farbe deutet auf ſolches Verderben.“

Verlaſſen wir das Beklagenswerthe! Wir begegnen Freund-
licherem. Welche muthblitzenden Augen, welche bluͤhenden,
vollen, lachenden Backen, welche Fuͤlle der feſten Waden, wel-
che Kraft und Gelenkigkeit des ſtarken, rieſigen Gliederbaues! —
Woher denn dieſe Entſchiedenheit des Charakters, dieſer kuͤhne
Unternehmungsgeiſt, dieſer durchdachte Plan, dieſes kraͤftige
Wollen?

Seht Ihr denn die, bis auf die maͤchtigen Knochen abge-
nagten Reſte des ſaftigen Bratens nicht, ſteht nicht die bis zur
Nagelprobe geleerte Flaſche trefflichen Weines daneben? —

Sagt doch der alte Galen, man koͤnne durch die bloße
Wahl der Nahrungsmittel einen Weiſen, Klugen, Geſchickten,
Muthigen, Keuſchen oder das Gegentheil von dem Allen machen,
und auch Carteſius ſpricht es aus: Si l’espèce humain peut
être perfectionnée c’est dans la médecine
(im Eſſen) qu’il
faut en chercher les moyens.
Intereſſant iſt die Geſchichte
der moraliſchen Folgen einer Schildkroͤtenſuppe an Herr und
Madame Skate in vierten Theil von Yorick’s empfindſamer
Reiſe, und der Herr Stadtphyſikus Schimko in Olmuͤtz hat
ganz recht, das Menſchengeſchlecht durch beſſere Nahrungsmit-
tel regeneriren und amelioriren zu wollen.

Warum bluͤhen denn in jener Provinz Gewerbe und Han-
del, Ackerbau und Viehzucht, woher der hohe Werth der Grund-
ſtuͤcke, woher deren trefflicher Anbau, die gigantiſchen Gemuͤſe
und Fruͤchte, die 800 Pfund ſchweren Ochſen, die 140 Pfund
ſchweren Kaͤlber, die 23pfuͤndigen Truthaͤhne, woher der rege
Abſatz, woher die froͤhlichen Geſichter, Muſik und Tanz? Die
Leute leben gut, und Leben foͤrdert Leben.

Doch ich laſſe mich von meinem Gegenſtand zu ſehr hin-
reißen. Der Menſch iſt zu einem frohen Lebensgenuß nicht

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[101/0115] ſagt Goethe, „muß das die erſten Wege verleimen und ver- ſtopfen, beſonders bei den Kindern und Frauen, und die kachek- tiſche Farbe deutet auf ſolches Verderben.“ Verlaſſen wir das Beklagenswerthe! Wir begegnen Freund- licherem. Welche muthblitzenden Augen, welche bluͤhenden, vollen, lachenden Backen, welche Fuͤlle der feſten Waden, wel- che Kraft und Gelenkigkeit des ſtarken, rieſigen Gliederbaues! — Woher denn dieſe Entſchiedenheit des Charakters, dieſer kuͤhne Unternehmungsgeiſt, dieſer durchdachte Plan, dieſes kraͤftige Wollen? Seht Ihr denn die, bis auf die maͤchtigen Knochen abge- nagten Reſte des ſaftigen Bratens nicht, ſteht nicht die bis zur Nagelprobe geleerte Flaſche trefflichen Weines daneben? — Sagt doch der alte Galen, man koͤnne durch die bloße Wahl der Nahrungsmittel einen Weiſen, Klugen, Geſchickten, Muthigen, Keuſchen oder das Gegentheil von dem Allen machen, und auch Carteſius ſpricht es aus: Si l’espèce humain peut être perfectionnée c’est dans la médecine (im Eſſen) qu’il faut en chercher les moyens. Intereſſant iſt die Geſchichte der moraliſchen Folgen einer Schildkroͤtenſuppe an Herr und Madame Skate in vierten Theil von Yorick’s empfindſamer Reiſe, und der Herr Stadtphyſikus Schimko in Olmuͤtz hat ganz recht, das Menſchengeſchlecht durch beſſere Nahrungsmit- tel regeneriren und amelioriren zu wollen. Warum bluͤhen denn in jener Provinz Gewerbe und Han- del, Ackerbau und Viehzucht, woher der hohe Werth der Grund- ſtuͤcke, woher deren trefflicher Anbau, die gigantiſchen Gemuͤſe und Fruͤchte, die 800 Pfund ſchweren Ochſen, die 140 Pfund ſchweren Kaͤlber, die 23pfuͤndigen Truthaͤhne, woher der rege Abſatz, woher die froͤhlichen Geſichter, Muſik und Tanz? Die Leute leben gut, und Leben foͤrdert Leben. Doch ich laſſe mich von meinem Gegenſtand zu ſehr hin- reißen. Der Menſch iſt zu einem frohen Lebensgenuß nicht

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Zitationshilfe: Antonius Anthus [i. e. Blumröder, Gustav]: Vorlesungen über Esskunst. Leipzig, 1838, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/anthus_esskunst_1838/115>, abgerufen am 21.11.2024.