Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Antonius Anthus [i. e. Blumröder, Gustav]: Vorlesungen über Esskunst. Leipzig, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

ich auf eine wiederholte Einladung. Man aß vor meinen
sehnsüchtig schmachtenden Blicken fort, und ich hatte die Qual,
zusehen zu müssen. Niemals sind diese fürchterlichen reuezer-
malmenden Augenblicke aus meinem Gedächtnisse entschwunden,
fast täglich werden sie durch prosaische und poetische Reminis-
cenzen auf's Neue lebendig, und wohl verfolgt mich diese bittre
Reue, bis dieß arme Herz aufgehört, zu schlagen.

Ueber die Lehre vom Reputationsbissen, d. h. über das
Postulat, nicht Alles aufzuessen, sondern ehrenhalber etwas auf
dem Teller liegen zu lassen, bemerke ich nur kurz, daß sie gegen-
wärtig mit Recht nicht nur als obsolet betrachtet wird', sondern
deren Befolgung auch jetzigen reiferen Begriffen widerspräche.
Der Bewirthende kann durch nichts auf schmeichelhaftere und
augenfälligere Weise zu der genugthuenden Ueberzeugung ge-
langen, daß Alles gut war, als wenn Alles aufgegessen wird.
Daß man aber nicht Alles auftunken, den Teller nicht ängstlich
von aller Sauce etc. reinigen solle, -- daß man nicht von allen
präsentirten Speisen zu essen braucht, wenn man nicht selbst
Lust hat, -- daß man namentlich Nachbarinnen auf das Auf-
merksamste zu bedienen habe, -- daß man nicht eher um etwas
bitten soll, als es gewährt werden kann, z. B. transchirt ist, --
daß man bei'm Dessert, wo es der Anstand erfordert, satt zu
sein, nicht erst recht anfängt, sich etwa ein großes Stück Butter-
brod streicht, und anderes dergleichen verdient keine ausführ-
lichere Erwähnung.

Obgleich ich von einem bedeutenden Kunstakademiker Käse
mit der bloßen Hand habe anfassen sehen, so verdienten doch
junge Leute, welche sich dieses erlauben, auf die Finger geklopft
zu werden. (Der Usus, Käse ohne Gabel, blos mit dem
Messer zu Munde zu führen, stützt sich auf den Grundsatz:
fieri potest per pauca, non fieri debet per plura.) Obst
aber, Confituren etc. nimmt man mit der bloßen Hand, wobei
es jedoch nicht nöthig ist, wie neuere Anleitungen fordern,

ich auf eine wiederholte Einladung. Man aß vor meinen
ſehnſuͤchtig ſchmachtenden Blicken fort, und ich hatte die Qual,
zuſehen zu muͤſſen. Niemals ſind dieſe fuͤrchterlichen reuezer-
malmenden Augenblicke aus meinem Gedaͤchtniſſe entſchwunden,
faſt taͤglich werden ſie durch proſaiſche und poetiſche Reminis-
cenzen auf’s Neue lebendig, und wohl verfolgt mich dieſe bittre
Reue, bis dieß arme Herz aufgehoͤrt, zu ſchlagen.

Ueber die Lehre vom Reputationsbiſſen, d. h. uͤber das
Poſtulat, nicht Alles aufzueſſen, ſondern ehrenhalber etwas auf
dem Teller liegen zu laſſen, bemerke ich nur kurz, daß ſie gegen-
waͤrtig mit Recht nicht nur als obſolet betrachtet wird’, ſondern
deren Befolgung auch jetzigen reiferen Begriffen widerſpraͤche.
Der Bewirthende kann durch nichts auf ſchmeichelhaftere und
augenfaͤlligere Weiſe zu der genugthuenden Ueberzeugung ge-
langen, daß Alles gut war, als wenn Alles aufgegeſſen wird.
Daß man aber nicht Alles auftunken, den Teller nicht aͤngſtlich
von aller Sauce ꝛc. reinigen ſolle, — daß man nicht von allen
praͤſentirten Speiſen zu eſſen braucht, wenn man nicht ſelbſt
Luſt hat, — daß man namentlich Nachbarinnen auf das Auf-
merkſamſte zu bedienen habe, — daß man nicht eher um etwas
bitten ſoll, als es gewaͤhrt werden kann, z. B. tranſchirt iſt, —
daß man bei’m Deſſert, wo es der Anſtand erfordert, ſatt zu
ſein, nicht erſt recht anfaͤngt, ſich etwa ein großes Stuͤck Butter-
brod ſtreicht, und anderes dergleichen verdient keine ausfuͤhr-
lichere Erwaͤhnung.

Obgleich ich von einem bedeutenden Kunſtakademiker Kaͤſe
mit der bloßen Hand habe anfaſſen ſehen, ſo verdienten doch
junge Leute, welche ſich dieſes erlauben, auf die Finger geklopft
zu werden. (Der Uſus, Kaͤſe ohne Gabel, blos mit dem
Meſſer zu Munde zu fuͤhren, ſtuͤtzt ſich auf den Grundſatz:
fieri potest per pauca, non fieri debet per plura.) Obſt
aber, Confituren ꝛc. nimmt man mit der bloßen Hand, wobei
es jedoch nicht noͤthig iſt, wie neuere Anleitungen fordern,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0198" n="184"/>
ich auf eine wiederholte Einladung. Man aß vor meinen<lb/>
&#x017F;ehn&#x017F;u&#x0364;chtig &#x017F;chmachtenden Blicken fort, und ich hatte die Qual,<lb/>
zu&#x017F;ehen zu mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en. Niemals &#x017F;ind die&#x017F;e fu&#x0364;rchterlichen reuezer-<lb/>
malmenden Augenblicke aus meinem Geda&#x0364;chtni&#x017F;&#x017F;e ent&#x017F;chwunden,<lb/>
fa&#x017F;t ta&#x0364;glich werden &#x017F;ie durch pro&#x017F;ai&#x017F;che und poeti&#x017F;che Reminis-<lb/>
cenzen auf&#x2019;s Neue lebendig, und wohl verfolgt mich die&#x017F;e bittre<lb/>
Reue, bis dieß arme Herz aufgeho&#x0364;rt, zu &#x017F;chlagen.</p><lb/>
        <p>Ueber die Lehre vom Reputationsbi&#x017F;&#x017F;en, d. h. u&#x0364;ber das<lb/>
Po&#x017F;tulat, nicht Alles aufzue&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;ondern ehrenhalber etwas auf<lb/>
dem Teller liegen zu la&#x017F;&#x017F;en, bemerke ich nur kurz, daß &#x017F;ie gegen-<lb/>
wa&#x0364;rtig mit Recht nicht nur als ob&#x017F;olet betrachtet wird&#x2019;, &#x017F;ondern<lb/>
deren Befolgung auch jetzigen reiferen Begriffen wider&#x017F;pra&#x0364;che.<lb/>
Der Bewirthende kann durch nichts auf &#x017F;chmeichelhaftere und<lb/>
augenfa&#x0364;lligere Wei&#x017F;e zu der genugthuenden Ueberzeugung ge-<lb/>
langen, daß Alles gut war, als wenn Alles aufgege&#x017F;&#x017F;en wird.<lb/>
Daß man aber nicht Alles auftunken, den Teller nicht a&#x0364;ng&#x017F;tlich<lb/>
von aller Sauce &#xA75B;c. reinigen &#x017F;olle, &#x2014; daß man nicht von allen<lb/>
pra&#x0364;&#x017F;entirten Spei&#x017F;en zu e&#x017F;&#x017F;en braucht, wenn man nicht &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
Lu&#x017F;t hat, &#x2014; daß man namentlich Nachbarinnen auf das Auf-<lb/>
merk&#x017F;am&#x017F;te zu bedienen habe, &#x2014; daß man nicht eher um etwas<lb/>
bitten &#x017F;oll, als es gewa&#x0364;hrt werden kann, z. B. tran&#x017F;chirt i&#x017F;t, &#x2014;<lb/>
daß man bei&#x2019;m De&#x017F;&#x017F;ert, wo es der An&#x017F;tand erfordert, &#x017F;att zu<lb/>
&#x017F;ein, nicht er&#x017F;t recht anfa&#x0364;ngt, &#x017F;ich etwa ein großes Stu&#x0364;ck Butter-<lb/>
brod &#x017F;treicht, und anderes dergleichen verdient keine ausfu&#x0364;hr-<lb/>
lichere Erwa&#x0364;hnung.</p><lb/>
        <p>Obgleich ich von einem bedeutenden Kun&#x017F;takademiker Ka&#x0364;&#x017F;e<lb/>
mit der bloßen Hand habe anfa&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ehen, &#x017F;o verdienten doch<lb/>
junge Leute, welche &#x017F;ich die&#x017F;es erlauben, auf die Finger geklopft<lb/>
zu werden. (Der U&#x017F;us, Ka&#x0364;&#x017F;e ohne Gabel, blos mit dem<lb/>
Me&#x017F;&#x017F;er zu Munde zu fu&#x0364;hren, &#x017F;tu&#x0364;tzt &#x017F;ich auf den Grund&#x017F;atz:<lb/><hi rendition="#aq">fieri potest per pauca, non fieri debet per plura.</hi>) Ob&#x017F;t<lb/>
aber, Confituren &#xA75B;c. nimmt man mit der bloßen Hand, wobei<lb/>
es jedoch nicht no&#x0364;thig i&#x017F;t, wie neuere Anleitungen fordern,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[184/0198] ich auf eine wiederholte Einladung. Man aß vor meinen ſehnſuͤchtig ſchmachtenden Blicken fort, und ich hatte die Qual, zuſehen zu muͤſſen. Niemals ſind dieſe fuͤrchterlichen reuezer- malmenden Augenblicke aus meinem Gedaͤchtniſſe entſchwunden, faſt taͤglich werden ſie durch proſaiſche und poetiſche Reminis- cenzen auf’s Neue lebendig, und wohl verfolgt mich dieſe bittre Reue, bis dieß arme Herz aufgehoͤrt, zu ſchlagen. Ueber die Lehre vom Reputationsbiſſen, d. h. uͤber das Poſtulat, nicht Alles aufzueſſen, ſondern ehrenhalber etwas auf dem Teller liegen zu laſſen, bemerke ich nur kurz, daß ſie gegen- waͤrtig mit Recht nicht nur als obſolet betrachtet wird’, ſondern deren Befolgung auch jetzigen reiferen Begriffen widerſpraͤche. Der Bewirthende kann durch nichts auf ſchmeichelhaftere und augenfaͤlligere Weiſe zu der genugthuenden Ueberzeugung ge- langen, daß Alles gut war, als wenn Alles aufgegeſſen wird. Daß man aber nicht Alles auftunken, den Teller nicht aͤngſtlich von aller Sauce ꝛc. reinigen ſolle, — daß man nicht von allen praͤſentirten Speiſen zu eſſen braucht, wenn man nicht ſelbſt Luſt hat, — daß man namentlich Nachbarinnen auf das Auf- merkſamſte zu bedienen habe, — daß man nicht eher um etwas bitten ſoll, als es gewaͤhrt werden kann, z. B. tranſchirt iſt, — daß man bei’m Deſſert, wo es der Anſtand erfordert, ſatt zu ſein, nicht erſt recht anfaͤngt, ſich etwa ein großes Stuͤck Butter- brod ſtreicht, und anderes dergleichen verdient keine ausfuͤhr- lichere Erwaͤhnung. Obgleich ich von einem bedeutenden Kunſtakademiker Kaͤſe mit der bloßen Hand habe anfaſſen ſehen, ſo verdienten doch junge Leute, welche ſich dieſes erlauben, auf die Finger geklopft zu werden. (Der Uſus, Kaͤſe ohne Gabel, blos mit dem Meſſer zu Munde zu fuͤhren, ſtuͤtzt ſich auf den Grundſatz: fieri potest per pauca, non fieri debet per plura.) Obſt aber, Confituren ꝛc. nimmt man mit der bloßen Hand, wobei es jedoch nicht noͤthig iſt, wie neuere Anleitungen fordern,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/anthus_esskunst_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/anthus_esskunst_1838/198
Zitationshilfe: Antonius Anthus [i. e. Blumröder, Gustav]: Vorlesungen über Esskunst. Leipzig, 1838, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/anthus_esskunst_1838/198>, abgerufen am 24.11.2024.