schung! Am andern Tag mußte ich abreisen, ohne Aussicht zur Wiederkehr. Ich durchzog die Schweiz nach allen Rich- tungen, fragend und forschend; -- niemals wieder fand ich mei- nem Urbilde nur entfernt Aehnliches. Wie der Dichter Ernst Wagner mit unvergeßlicher Sehnsucht noch im Mannesalter einer einzigen überreifen Birne gedenkt, die er als Knabe hoch in den Zweigen des Baumes sich schauckelnd, gegessen, und dergleichen unbeschreiblichen Wohlgeschmack er nie wieder fand, so ging es mir mit dem in Genf genossenen Emmenthaler.
"Doch den entfloh'nen Augenblick Bringt keine Reu', kein Gram zurück."
Wie für die schönen Künste und die Lebenskunst, so gilt auch für die Eßlust das Erfassen des Momentes, das Festhalten glücklicher Apercus.
Frankreich wird in Beziehung auf Koch- und Eßkunst be- sonders von Engländern und Deutschen auf das Schiefste beur- theilt. Geschieht dieß von Engländern, so hat es seinen guten Grund. Was aber berechtigt denn die Deutschen, dasjenige zu tadeln, was sie gleichwohl so eifrig beflissen sind, auf das Genaueste nachzuahmen?
Der Engländer, bei dem, wie Byron sagt, die Quanti- tät blos zur Qualität verdickt ist, der Engländer hat seinen ei- genthümlich nationalen Styl, seine Schule, wenn auch nicht in der Malerei, doch in der Koch- und Eßkunst. Er schaut von der edlen, wohlhäbigen Simplicität seiner großen kräftigen Roastbeefs, Kalbs- und Lammsbraten, seiner ausgiebigen Puddings und massenhaften Schildkrötensuppen stolz auf die französischen Froschschenkel und mageren Suppen, auf das Land herab, wo Kopfsalat als ein eigentliches Gericht für sich gilt. Trotz alledem aber sagt, wie schon Lichtenberg bemerkt, ein Französischer Koch bei der großen Welt in London sehr viel und fast so viel als die große Welt selbst.
ſchung! Am andern Tag mußte ich abreiſen, ohne Ausſicht zur Wiederkehr. Ich durchzog die Schweiz nach allen Rich- tungen, fragend und forſchend; — niemals wieder fand ich mei- nem Urbilde nur entfernt Aehnliches. Wie der Dichter Ernſt Wagner mit unvergeßlicher Sehnſucht noch im Mannesalter einer einzigen uͤberreifen Birne gedenkt, die er als Knabe hoch in den Zweigen des Baumes ſich ſchauckelnd, gegeſſen, und dergleichen unbeſchreiblichen Wohlgeſchmack er nie wieder fand, ſo ging es mir mit dem in Genf genoſſenen Emmenthaler.
„Doch den entfloh’nen Augenblick Bringt keine Reu’, kein Gram zuruͤck.“
Wie fuͤr die ſchoͤnen Kuͤnſte und die Lebenskunſt, ſo gilt auch fuͤr die Eßluſt das Erfaſſen des Momentes, das Feſthalten gluͤcklicher Aperçus.
Frankreich wird in Beziehung auf Koch- und Eßkunſt be- ſonders von Englaͤndern und Deutſchen auf das Schiefſte beur- theilt. Geſchieht dieß von Englaͤndern, ſo hat es ſeinen guten Grund. Was aber berechtigt denn die Deutſchen, dasjenige zu tadeln, was ſie gleichwohl ſo eifrig befliſſen ſind, auf das Genaueſte nachzuahmen?
Der Englaͤnder, bei dem, wie Byron ſagt, die Quanti- taͤt blos zur Qualitaͤt verdickt iſt, der Englaͤnder hat ſeinen ei- genthuͤmlich nationalen Styl, ſeine Schule, wenn auch nicht in der Malerei, doch in der Koch- und Eßkunſt. Er ſchaut von der edlen, wohlhaͤbigen Simplicitaͤt ſeiner großen kraͤftigen Roaſtbeefs, Kalbs- und Lammsbraten, ſeiner ausgiebigen Puddings und maſſenhaften Schildkroͤtenſuppen ſtolz auf die franzoͤſiſchen Froſchſchenkel und mageren Suppen, auf das Land herab, wo Kopfſalat als ein eigentliches Gericht fuͤr ſich gilt. Trotz alledem aber ſagt, wie ſchon Lichtenberg bemerkt, ein Franzoͤſiſcher Koch bei der großen Welt in London ſehr viel und faſt ſo viel als die große Welt ſelbſt.
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ſchung! Am andern Tag mußte ich abreiſen, ohne Ausſicht
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nem Urbilde nur entfernt Aehnliches. Wie der Dichter Ernſt
Wagner mit unvergeßlicher Sehnſucht noch im Mannesalter
einer einzigen uͤberreifen Birne gedenkt, die er als Knabe hoch
in den Zweigen des Baumes ſich ſchauckelnd, gegeſſen, und
dergleichen unbeſchreiblichen Wohlgeſchmack er nie wieder fand,
ſo ging es mir mit dem in Genf genoſſenen Emmenthaler.
„Doch den entfloh’nen Augenblick
Bringt keine Reu’, kein Gram zuruͤck.“
Wie fuͤr die ſchoͤnen Kuͤnſte und die Lebenskunſt, ſo gilt auch
fuͤr die Eßluſt das Erfaſſen des Momentes, das Feſthalten
gluͤcklicher Aperçus.
Frankreich wird in Beziehung auf Koch- und Eßkunſt be-
ſonders von Englaͤndern und Deutſchen auf das Schiefſte beur-
theilt. Geſchieht dieß von Englaͤndern, ſo hat es ſeinen guten
Grund. Was aber berechtigt denn die Deutſchen, dasjenige
zu tadeln, was ſie gleichwohl ſo eifrig befliſſen ſind, auf das
Genaueſte nachzuahmen?
Der Englaͤnder, bei dem, wie Byron ſagt, die Quanti-
taͤt blos zur Qualitaͤt verdickt iſt, der Englaͤnder hat ſeinen ei-
genthuͤmlich nationalen Styl, ſeine Schule, wenn auch nicht in
der Malerei, doch in der Koch- und Eßkunſt. Er ſchaut von
der edlen, wohlhaͤbigen Simplicitaͤt ſeiner großen kraͤftigen
Roaſtbeefs, Kalbs- und Lammsbraten, ſeiner ausgiebigen
Puddings und maſſenhaften Schildkroͤtenſuppen ſtolz auf die
franzoͤſiſchen Froſchſchenkel und mageren Suppen, auf das
Land herab, wo Kopfſalat als ein eigentliches Gericht fuͤr ſich
gilt. Trotz alledem aber ſagt, wie ſchon Lichtenberg bemerkt,
ein Franzoͤſiſcher Koch bei der großen Welt in London ſehr
viel und faſt ſo viel als die große Welt ſelbſt.
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Antonius Anthus [i. e. Blumröder, Gustav]: Vorlesungen über Esskunst. Leipzig, 1838, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/anthus_esskunst_1838/78>, abgerufen am 16.02.2025.
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