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Arent, Wilhelm (Hrsg.): Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig, [1885].

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Einleitung
das Wahre, das Natürliche, das Ursprüngliche, das Große und Begeisternde,
offene Ohren und gläubige Herzen findet.

Wir brechen mit den alten, überlieferten Motiven. Wir werfen die
abgenutzten Schablonen von uns. Wir fingen nicht für die Salons, das
Badezimmer, die Spinnstube -- wir singen frei und offen, wie es uns um's
Herz ist: für den Fürsten im geschmeidefunkelnden Thronsaal wie für den
Bettler, der am Wegstein hockt und mit blöden, erloschenen Augen in das
verdämmernde Abendroth starrt ...

Das ist es ja eben: Wir haben wohl eine Cliquen-, eine Partei-
litteratur, aber keine Litteratur, die aus germanischem Wesen herausgeboren,
in sich stark und daseinskräftig genug wäre, um für alle Durstigen, mögen
sie nun Söhne des Tages oder der Nacht sein, Stätte und Zehrung zu haben.
Wir sind eigentlich recht arm. Was sollen wir's uns verhehlen? Scheinbar
zeitigt unsere Litteratur fortwährend die edelsten Früchte -- wieder und
wieder neue Triebe, neue Blüthen, neue Erzeugnisse: aber ist nur der dritte
Theil von dem, was -- und noch dazu in unabsehbaren Massen! -- unsere
Poeten schaffen und bilden, auch existenzberechtigt? -- Existenzberechtigt, weil
es lebenswahr, weil es national, weil es auch wirklich Künstlerwerk ist und
nicht fein und sauber polirtes, zierlich gedrechseltes und gefeiltes und bei
aller Peinlichkeit doch roh und geistlos gebliebenes Stümperwerk -- gleißende,
aber in sich morsche und haltlose Fabrikarbeit?

Das ist es ja eben: Unsere Litteratur ist überreich an Romanen, Epen,
Dramen -- an sauber gegossener, feingeistiger, eleganter, geistreicher Lyrik -- --
aber sie hat mit wenigen Ausnahmen nichts Großes, Hinreißendes, Imposantes,
Majestätisches, nichts Göttliches, das doch zugleich die Spuren reinster,
intimster Menschlichkeit an sich trüge! Sie hat nichts Titanisches, nichts
Geniales.

Sie zeigt den Menschen nicht mehr in seiner confliktgeschwängerten
Gegenstellung zur Natur, zum Fatum, zum Ueberirdischen. Alles philosophisch
Problematische geht ihr ab. Aber auch alles hartkantig Sociale. Alles
Urewige und doch zeitlich Moderne. Unsere Lyrik spielt, tändelt. Wie gesagt:
mit wenigen Ausnahmen. Zu diesen rechne ich u. A. Dranmor, Lingg,
Grosse, Schack, Hamerling. Vor allen Dranmor. Er ist eigentlich der
Einzige, der in seinen Dichtungen einen prophetischen, einen confessionellen
Klang anschlägt. Bei ihm fließt jede Strophe aus einer ernsten, tiefen, ge-
waltigen, vulkanischen Dichternatur. Aus ihm spricht ein großartig erhabener
Dichtergeist. Dranmor darf mit seiner hinreißenden Intimität, seiner macht-

Einleitung
das Wahre, das Natürliche, das Urſprüngliche, das Große und Begeiſternde,
offene Ohren und gläubige Herzen findet.

Wir brechen mit den alten, überlieferten Motiven. Wir werfen die
abgenutzten Schablonen von uns. Wir fingen nicht für die Salons, das
Badezimmer, die Spinnſtube — wir ſingen frei und offen, wie es uns um’s
Herz iſt: für den Fürſten im geſchmeidefunkelnden Thronſaal wie für den
Bettler, der am Wegſtein hockt und mit blöden, erloſchenen Augen in das
verdämmernde Abendroth ſtarrt …

Das iſt es ja eben: Wir haben wohl eine Cliquen-, eine Partei-
litteratur, aber keine Litteratur, die aus germaniſchem Weſen herausgeboren,
in ſich ſtark und daſeinskräftig genug wäre, um für alle Durſtigen, mögen
ſie nun Söhne des Tages oder der Nacht ſein, Stätte und Zehrung zu haben.
Wir ſind eigentlich recht arm. Was ſollen wir’s uns verhehlen? Scheinbar
zeitigt unſere Litteratur fortwährend die edelſten Früchte — wieder und
wieder neue Triebe, neue Blüthen, neue Erzeugniſſe: aber iſt nur der dritte
Theil von dem, was — und noch dazu in unabſehbaren Maſſen! — unſere
Poeten ſchaffen und bilden, auch exiſtenzberechtigt? — Exiſtenzberechtigt, weil
es lebenswahr, weil es national, weil es auch wirklich Künſtlerwerk iſt und
nicht fein und ſauber polirtes, zierlich gedrechſeltes und gefeiltes und bei
aller Peinlichkeit doch roh und geiſtlos gebliebenes Stümperwerk — gleißende,
aber in ſich morſche und haltloſe Fabrikarbeit?

Das iſt es ja eben: Unſere Litteratur iſt überreich an Romanen, Epen,
Dramen — an ſauber gegoſſener, feingeiſtiger, eleganter, geiſtreicher Lyrik — —
aber ſie hat mit wenigen Ausnahmen nichts Großes, Hinreißendes, Impoſantes,
Majeſtätiſches, nichts Göttliches, das doch zugleich die Spuren reinſter,
intimſter Menſchlichkeit an ſich trüge! Sie hat nichts Titaniſches, nichts
Geniales.

Sie zeigt den Menſchen nicht mehr in ſeiner confliktgeſchwängerten
Gegenſtellung zur Natur, zum Fatum, zum Ueberirdiſchen. Alles philoſophiſch
Problematiſche geht ihr ab. Aber auch alles hartkantig Sociale. Alles
Urewige und doch zeitlich Moderne. Unſere Lyrik ſpielt, tändelt. Wie geſagt:
mit wenigen Ausnahmen. Zu dieſen rechne ich u. A. Dranmor, Lingg,
Groſſe, Schack, Hamerling. Vor allen Dranmor. Er iſt eigentlich der
Einzige, der in ſeinen Dichtungen einen prophetiſchen, einen confeſſionellen
Klang anſchlägt. Bei ihm fließt jede Strophe aus einer ernſten, tiefen, ge-
waltigen, vulkaniſchen Dichternatur. Aus ihm ſpricht ein großartig erhabener
Dichtergeiſt. Dranmor darf mit ſeiner hinreißenden Intimität, ſeiner macht-

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[II/0012] Einleitung das Wahre, das Natürliche, das Urſprüngliche, das Große und Begeiſternde, offene Ohren und gläubige Herzen findet. Wir brechen mit den alten, überlieferten Motiven. Wir werfen die abgenutzten Schablonen von uns. Wir fingen nicht für die Salons, das Badezimmer, die Spinnſtube — wir ſingen frei und offen, wie es uns um’s Herz iſt: für den Fürſten im geſchmeidefunkelnden Thronſaal wie für den Bettler, der am Wegſtein hockt und mit blöden, erloſchenen Augen in das verdämmernde Abendroth ſtarrt … Das iſt es ja eben: Wir haben wohl eine Cliquen-, eine Partei- litteratur, aber keine Litteratur, die aus germaniſchem Weſen herausgeboren, in ſich ſtark und daſeinskräftig genug wäre, um für alle Durſtigen, mögen ſie nun Söhne des Tages oder der Nacht ſein, Stätte und Zehrung zu haben. Wir ſind eigentlich recht arm. Was ſollen wir’s uns verhehlen? Scheinbar zeitigt unſere Litteratur fortwährend die edelſten Früchte — wieder und wieder neue Triebe, neue Blüthen, neue Erzeugniſſe: aber iſt nur der dritte Theil von dem, was — und noch dazu in unabſehbaren Maſſen! — unſere Poeten ſchaffen und bilden, auch exiſtenzberechtigt? — Exiſtenzberechtigt, weil es lebenswahr, weil es national, weil es auch wirklich Künſtlerwerk iſt und nicht fein und ſauber polirtes, zierlich gedrechſeltes und gefeiltes und bei aller Peinlichkeit doch roh und geiſtlos gebliebenes Stümperwerk — gleißende, aber in ſich morſche und haltloſe Fabrikarbeit? Das iſt es ja eben: Unſere Litteratur iſt überreich an Romanen, Epen, Dramen — an ſauber gegoſſener, feingeiſtiger, eleganter, geiſtreicher Lyrik — — aber ſie hat mit wenigen Ausnahmen nichts Großes, Hinreißendes, Impoſantes, Majeſtätiſches, nichts Göttliches, das doch zugleich die Spuren reinſter, intimſter Menſchlichkeit an ſich trüge! Sie hat nichts Titaniſches, nichts Geniales. Sie zeigt den Menſchen nicht mehr in ſeiner confliktgeſchwängerten Gegenſtellung zur Natur, zum Fatum, zum Ueberirdiſchen. Alles philoſophiſch Problematiſche geht ihr ab. Aber auch alles hartkantig Sociale. Alles Urewige und doch zeitlich Moderne. Unſere Lyrik ſpielt, tändelt. Wie geſagt: mit wenigen Ausnahmen. Zu dieſen rechne ich u. A. Dranmor, Lingg, Groſſe, Schack, Hamerling. Vor allen Dranmor. Er iſt eigentlich der Einzige, der in ſeinen Dichtungen einen prophetiſchen, einen confeſſionellen Klang anſchlägt. Bei ihm fließt jede Strophe aus einer ernſten, tiefen, ge- waltigen, vulkaniſchen Dichternatur. Aus ihm ſpricht ein großartig erhabener Dichtergeiſt. Dranmor darf mit ſeiner hinreißenden Intimität, ſeiner macht-

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Zitationshilfe: Arent, Wilhelm (Hrsg.): Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig, [1885], S. II. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arent_dichtercharaktere_1885/12>, abgerufen am 21.11.2024.