Arent, Wilhelm (Hrsg.): Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig, [1885].Carl Bleibtreu. Bin Vampyr, der aus wunder Brust Zwar saugt das Blut der Lebenslust, Doch auch fortfächelt alle Leiden; Bin Stab, der zur Erkenntniß führt, Doch welken macht, was er berührt -- Ich bin die Mutter dieser Beiden." Sie wies auf jene andern Zwei. Vortrat die zweite stolz und frei Mit festem herrschaft-sicherm Tritte. Sie prahlte nicht mit Prunkgeschmaid, Nur einen Spiegel hielt die Maid Und neigte sich in stummer Bitte. "Erwähle mich!" so rief sie hell. "Wir kennen uns ja lang, Gesell, Ich kann dir mehr als jene geben. Bereitet sie dich vor zum Tod, So lehre ich trotz aller Noth Dich tugendhaft und glücklich leben. Wenn Sinnlichkeit dich unterjocht, Wenn dir's im Busen kocht und pocht, Ergreife meine kühle Rechte! In meinem Spiegel man erkennt, Mit meinem Messer man zertrennt Der Leidenschaften Truggeflechte." Da schallte es wie Orgelklang, Wie Aeolsharfen, Sphärensang. Es schwebte in der Andern Mitte Mit Engelsflügeln, goldnem Haar, Mit Sternenaugen süß und klar Im Regenbogenkleid die Dritte. Sie säuselte mit Silberton: "Erriethest du die Andern schon? "Die Einsamkeit, so heißt die Eine. Die Andre heißt Philosophie. Ich herrsche mit der zweiten nie, Wohl mit der ersten im Vereine. Carl Bleibtreu. Bin Vampyr, der aus wunder Bruſt Zwar ſaugt das Blut der Lebensluſt, Doch auch fortfächelt alle Leiden; Bin Stab, der zur Erkenntniß führt, Doch welken macht, was er berührt — Ich bin die Mutter dieſer Beiden.“ Sie wies auf jene andern Zwei. Vortrat die zweite ſtolz und frei Mit feſtem herrſchaft-ſicherm Tritte. Sie prahlte nicht mit Prunkgeſchmaid, Nur einen Spiegel hielt die Maid Und neigte ſich in ſtummer Bitte. „Erwähle mich!“ ſo rief ſie hell. „Wir kennen uns ja lang, Geſell, Ich kann dir mehr als jene geben. Bereitet ſie dich vor zum Tod, So lehre ich trotz aller Noth Dich tugendhaft und glücklich leben. Wenn Sinnlichkeit dich unterjocht, Wenn dir’s im Buſen kocht und pocht, Ergreife meine kühle Rechte! In meinem Spiegel man erkennt, Mit meinem Meſſer man zertrennt Der Leidenſchaften Truggeflechte.“ Da ſchallte es wie Orgelklang, Wie Aeolsharfen, Sphärenſang. Es ſchwebte in der Andern Mitte Mit Engelsflügeln, goldnem Haar, Mit Sternenaugen ſüß und klar Im Regenbogenkleid die Dritte. Sie ſäuſelte mit Silberton: „Errietheſt du die Andern ſchon? „Die Einſamkeit, ſo heißt die Eine. Die Andre heißt Philoſophie. Ich herrſche mit der zweiten nie, Wohl mit der erſten im Vereine. <TEI> <text> <back> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <lg type="poem"> <pb facs="#f0337" n="15"/> <fw place="top" type="header">Carl Bleibtreu.</fw><lb/> <lg n="3"> <l>Bin Vampyr, der aus wunder Bruſt</l><lb/> <l>Zwar ſaugt das Blut der Lebensluſt,</l><lb/> <l>Doch auch fortfächelt alle Leiden;</l><lb/> <l>Bin Stab, der zur Erkenntniß führt,</l><lb/> <l>Doch welken macht, was er berührt —</l><lb/> <l>Ich bin die Mutter dieſer Beiden.“</l> </lg><lb/> <lg n="4"> <l>Sie wies auf jene andern Zwei.</l><lb/> <l>Vortrat die zweite ſtolz und frei</l><lb/> <l>Mit feſtem herrſchaft-ſicherm Tritte.</l><lb/> <l>Sie prahlte nicht mit Prunkgeſchmaid,</l><lb/> <l>Nur einen Spiegel hielt die Maid</l><lb/> <l>Und neigte ſich in ſtummer Bitte.</l> </lg><lb/> <lg n="5"> <l>„Erwähle mich!“ ſo rief ſie hell.</l><lb/> <l>„Wir kennen uns ja lang, Geſell,</l><lb/> <l>Ich kann dir mehr als jene geben.</l><lb/> <l>Bereitet ſie dich vor zum <hi rendition="#g">Tod</hi>,</l><lb/> <l>So lehre ich trotz aller Noth</l><lb/> <l>Dich tugendhaft und glücklich <hi rendition="#g">leben</hi>.</l> </lg><lb/> <lg n="6"> <l>Wenn Sinnlichkeit dich unterjocht,</l><lb/> <l>Wenn dir’s im Buſen kocht und pocht,</l><lb/> <l>Ergreife meine kühle Rechte!</l><lb/> <l>In meinem Spiegel man erkennt,</l><lb/> <l>Mit meinem Meſſer man zertrennt</l><lb/> <l>Der Leidenſchaften Truggeflechte.“</l> </lg><lb/> <lg n="7"> <l>Da ſchallte es wie Orgelklang,</l><lb/> <l>Wie Aeolsharfen, Sphärenſang.</l><lb/> <l>Es ſchwebte in der Andern Mitte</l><lb/> <l>Mit Engelsflügeln, goldnem Haar,</l><lb/> <l>Mit Sternenaugen ſüß und klar</l><lb/> <l>Im Regenbogenkleid die Dritte.</l> </lg><lb/> <lg n="8"> <l>Sie ſäuſelte mit Silberton:</l><lb/> <l>„Errietheſt du die Andern ſchon?</l><lb/> <l>„<hi rendition="#g">Die Einſamkeit</hi>, ſo heißt die Eine.</l><lb/> <l>Die Andre heißt <hi rendition="#g">Philoſophie</hi>.</l><lb/> <l>Ich herrſche mit der zweiten nie,</l><lb/> <l>Wohl mit der erſten im Vereine.</l> </lg><lb/> </lg> </div> </div> </div> </back> </text> </TEI> [15/0337]
Carl Bleibtreu.
Bin Vampyr, der aus wunder Bruſt
Zwar ſaugt das Blut der Lebensluſt,
Doch auch fortfächelt alle Leiden;
Bin Stab, der zur Erkenntniß führt,
Doch welken macht, was er berührt —
Ich bin die Mutter dieſer Beiden.“
Sie wies auf jene andern Zwei.
Vortrat die zweite ſtolz und frei
Mit feſtem herrſchaft-ſicherm Tritte.
Sie prahlte nicht mit Prunkgeſchmaid,
Nur einen Spiegel hielt die Maid
Und neigte ſich in ſtummer Bitte.
„Erwähle mich!“ ſo rief ſie hell.
„Wir kennen uns ja lang, Geſell,
Ich kann dir mehr als jene geben.
Bereitet ſie dich vor zum Tod,
So lehre ich trotz aller Noth
Dich tugendhaft und glücklich leben.
Wenn Sinnlichkeit dich unterjocht,
Wenn dir’s im Buſen kocht und pocht,
Ergreife meine kühle Rechte!
In meinem Spiegel man erkennt,
Mit meinem Meſſer man zertrennt
Der Leidenſchaften Truggeflechte.“
Da ſchallte es wie Orgelklang,
Wie Aeolsharfen, Sphärenſang.
Es ſchwebte in der Andern Mitte
Mit Engelsflügeln, goldnem Haar,
Mit Sternenaugen ſüß und klar
Im Regenbogenkleid die Dritte.
Sie ſäuſelte mit Silberton:
„Errietheſt du die Andern ſchon?
„Die Einſamkeit, ſo heißt die Eine.
Die Andre heißt Philoſophie.
Ich herrſche mit der zweiten nie,
Wohl mit der erſten im Vereine.
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