so verloren die Regierungen alle Achtung, alles Vertrauen zu dem Einzelnen; was nicht durch allgemeinen Widerspruch und Aufruhr sich verdammte, das schien der Aufmerksamkeit unwür- dig, und dieser allgemeine Widerspruch wurde durch drückende Verbote in seiner Aeußerung, selbst dem bestgesinnten Herrscher so lange unhörbar gemacht, bis seine Wuth, nicht sein besserer Wille alles überschrieen. Wem der Zufall zu einer wirksamen Stelle verhalf, dem glaubte man einen solchen vollständigen Volksverstand angetauft, daß sich das ganze Volk in ihm aus- spreche. Freilich, wenn einer nur reden darf, so redet er im- mer am klügsten, die Mühe verschiedene Sinne zu vereinigen, wie es in der Berathschlagung versucht, in der Gesetzgebung ausgeführt wird, ward ganz überflüßig dadurch, man verwun- derte sich über das kinderleichte Regierungsgeschäft. Das Volk kam dahin, die Gesetze, wie Sturmwind, oder irgend eine an- dre unmenschliche Gewalt zu betrachten, wogegen Waffnen, oder Verkriechen, oder Verzweifeln diente. In diesem Sinne wurde lange geglaubt, viele zusammen könnten etwas werden, was kein Einzelner darunter zu seyn brauche, so sollte sich kein ein- zelner Krieger bilden, sie wurden zur Ruhe und zum nährenden Leben eingepfercht, sie musten dem ewigen Streite gegen die Barbaren entsagen. Man wollte keinen Krieger, doch wollte man Kriegsheere, man wollte Geistlichkeit, aber keinen einzelnen Geist. So wurde das Thätige und Poetische im Lehr- und Wehrstande allmählig aufgehoben, wo nicht die allmächtige Noth alle Kräfte lüftete, nur der Nährstand konnte nicht so unum- schränkt vernichtet werden, nähren muste sich doch jeder, so küm- merlich es seyn mochte. Darum finden wir auch das neuere Volkslied, wo es sich entwickelt, diesem angeschlossen in mäßiger Liebe, Gewerb- und Handelsklagen, Wetterwechsel und gepflüg- tem Frühling. Aber so wenig die Glieder ohne den Magen, so
ſo verloren die Regierungen alle Achtung, alles Vertrauen zu dem Einzelnen; was nicht durch allgemeinen Widerſpruch und Aufruhr ſich verdammte, das ſchien der Aufmerkſamkeit unwuͤr- dig, und dieſer allgemeine Widerſpruch wurde durch druͤckende Verbote in ſeiner Aeußerung, ſelbſt dem beſtgeſinnten Herrſcher ſo lange unhoͤrbar gemacht, bis ſeine Wuth, nicht ſein beſſerer Wille alles uͤberſchrieen. Wem der Zufall zu einer wirkſamen Stelle verhalf, dem glaubte man einen ſolchen vollſtaͤndigen Volksverſtand angetauft, daß ſich das ganze Volk in ihm aus- ſpreche. Freilich, wenn einer nur reden darf, ſo redet er im- mer am kluͤgſten, die Muͤhe verſchiedene Sinne zu vereinigen, wie es in der Berathſchlagung verſucht, in der Geſetzgebung ausgefuͤhrt wird, ward ganz uͤberfluͤßig dadurch, man verwun- derte ſich uͤber das kinderleichte Regierungsgeſchaͤft. Das Volk kam dahin, die Geſetze, wie Sturmwind, oder irgend eine an- dre unmenſchliche Gewalt zu betrachten, wogegen Waffnen, oder Verkriechen, oder Verzweifeln diente. In dieſem Sinne wurde lange geglaubt, viele zuſammen koͤnnten etwas werden, was kein Einzelner darunter zu ſeyn brauche, ſo ſollte ſich kein ein- zelner Krieger bilden, ſie wurden zur Ruhe und zum naͤhrenden Leben eingepfercht, ſie muſten dem ewigen Streite gegen die Barbaren entſagen. Man wollte keinen Krieger, doch wollte man Kriegsheere, man wollte Geiſtlichkeit, aber keinen einzelnen Geiſt. So wurde das Thaͤtige und Poetiſche im Lehr- und Wehrſtande allmaͤhlig aufgehoben, wo nicht die allmaͤchtige Noth alle Kraͤfte luͤftete, nur der Naͤhrſtand konnte nicht ſo unum- ſchraͤnkt vernichtet werden, naͤhren muſte ſich doch jeder, ſo kuͤm- merlich es ſeyn mochte. Darum finden wir auch das neuere Volkslied, wo es ſich entwickelt, dieſem angeſchloſſen in maͤßiger Liebe, Gewerb- und Handelsklagen, Wetterwechſel und gepfluͤg- tem Fruͤhling. Aber ſo wenig die Glieder ohne den Magen, ſo
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[438[448]/0457]
ſo verloren die Regierungen alle Achtung, alles Vertrauen zu
dem Einzelnen; was nicht durch allgemeinen Widerſpruch und
Aufruhr ſich verdammte, das ſchien der Aufmerkſamkeit unwuͤr-
dig, und dieſer allgemeine Widerſpruch wurde durch druͤckende
Verbote in ſeiner Aeußerung, ſelbſt dem beſtgeſinnten Herrſcher
ſo lange unhoͤrbar gemacht, bis ſeine Wuth, nicht ſein beſſerer
Wille alles uͤberſchrieen. Wem der Zufall zu einer wirkſamen
Stelle verhalf, dem glaubte man einen ſolchen vollſtaͤndigen
Volksverſtand angetauft, daß ſich das ganze Volk in ihm aus-
ſpreche. Freilich, wenn einer nur reden darf, ſo redet er im-
mer am kluͤgſten, die Muͤhe verſchiedene Sinne zu vereinigen,
wie es in der Berathſchlagung verſucht, in der Geſetzgebung
ausgefuͤhrt wird, ward ganz uͤberfluͤßig dadurch, man verwun-
derte ſich uͤber das kinderleichte Regierungsgeſchaͤft. Das Volk
kam dahin, die Geſetze, wie Sturmwind, oder irgend eine an-
dre unmenſchliche Gewalt zu betrachten, wogegen Waffnen, oder
Verkriechen, oder Verzweifeln diente. In dieſem Sinne wurde
lange geglaubt, viele zuſammen koͤnnten etwas werden, was
kein Einzelner darunter zu ſeyn brauche, ſo ſollte ſich kein ein-
zelner Krieger bilden, ſie wurden zur Ruhe und zum naͤhrenden
Leben eingepfercht, ſie muſten dem ewigen Streite gegen die
Barbaren entſagen. Man wollte keinen Krieger, doch wollte
man Kriegsheere, man wollte Geiſtlichkeit, aber keinen einzelnen
Geiſt. So wurde das Thaͤtige und Poetiſche im Lehr- und
Wehrſtande allmaͤhlig aufgehoben, wo nicht die allmaͤchtige Noth
alle Kraͤfte luͤftete, nur der Naͤhrſtand konnte nicht ſo unum-
ſchraͤnkt vernichtet werden, naͤhren muſte ſich doch jeder, ſo kuͤm-
merlich es ſeyn mochte. Darum finden wir auch das neuere
Volkslied, wo es ſich entwickelt, dieſem angeſchloſſen in maͤßiger
Liebe, Gewerb- und Handelsklagen, Wetterwechſel und gepfluͤg-
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Arnim, Achim von; Brentano, Clemens: Des Knaben Wunderhorn. Bd. 1. Heidelberg, 1806, S. 438[448]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnim_wunderhorn01_1806/457>, abgerufen am 21.11.2024.
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