malte und unser Erscheinen unter tausenderlei Verände- rungen; -- jetzt kenne ich ihn und weiß, wie er lächelt und den Ton seiner Stimme, wie die so ruhig ist und doch voll Liebe, und seine Ausrufungen, wie die so aus dem tiefen Herzen anschwellen, wie der Ton im Gesang; und wie er so freundlich beschwichtigt und bejaht, was man im Herzensdrang unordentlich herausstürmt; -- wie ich im vorigen Jahr so unverhofft wieder mit ihm zusammentraf, da war ich so außer mir, und wollte sprechen und konnte mich nicht zurecht finden; da legt' er mir die Hand auf den Mund und sagt': Sprech' mit den Augen, ich versteh' alles; und wie er sah, daß die voll Thränen standen, so drückt' er mir die Augen zu, und sagte: Ruhe, Ruhe, die bekommt uns beiden am besten; -- ja, liebe Mutter, die Ruhe war gleich über mich hingegossen, ich hatte ja alles, wonach ich seit Jahren mich einzig gesehnt habe. -- O Mutter, ich dank' es Ihr ewig, daß Sie mir den Freund in die Welt geboren, -- wo sollt' ich ihn sonst finden! Lach' Sie nicht da drüber, und denk' Sie doch, daß ich ihn geliebt hab', eh' ich das Geringste von ihm wußt', und hätt' Sie ihn nicht geboren, wo er dann geblieben wär', das ist doch die Frage, die Sie nicht beantworten kann.
malte und unſer Erſcheinen unter tauſenderlei Verände- rungen; — jetzt kenne ich ihn und weiß, wie er lächelt und den Ton ſeiner Stimme, wie die ſo ruhig iſt und doch voll Liebe, und ſeine Ausrufungen, wie die ſo aus dem tiefen Herzen anſchwellen, wie der Ton im Geſang; und wie er ſo freundlich beſchwichtigt und bejaht, was man im Herzensdrang unordentlich herausſtürmt; — wie ich im vorigen Jahr ſo unverhofft wieder mit ihm zuſammentraf, da war ich ſo außer mir, und wollte ſprechen und konnte mich nicht zurecht finden; da legt' er mir die Hand auf den Mund und ſagt': Sprech' mit den Augen, ich verſteh' alles; und wie er ſah, daß die voll Thränen ſtanden, ſo drückt' er mir die Augen zu, und ſagte: Ruhe, Ruhe, die bekommt uns beiden am beſten; — ja, liebe Mutter, die Ruhe war gleich über mich hingegoſſen, ich hatte ja alles, wonach ich ſeit Jahren mich einzig geſehnt habe. — O Mutter, ich dank' es Ihr ewig, daß Sie mir den Freund in die Welt geboren, — wo ſollt' ich ihn ſonſt finden! Lach' Sie nicht da drüber, und denk' Sie doch, daß ich ihn geliebt hab', eh' ich das Geringſte von ihm wußt', und hätt' Sie ihn nicht geboren, wo er dann geblieben wär', das iſt doch die Frage, die Sie nicht beantworten kann.
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malte und unſer Erſcheinen unter tauſenderlei Verände-
rungen; — jetzt kenne ich ihn und weiß, wie er lächelt
und den Ton ſeiner Stimme, wie die ſo ruhig iſt und
doch voll Liebe, und ſeine Ausrufungen, wie die ſo aus
dem tiefen Herzen anſchwellen, wie der Ton im Geſang;
und wie er ſo freundlich beſchwichtigt und bejaht, was
man im Herzensdrang unordentlich herausſtürmt; —
wie ich im vorigen Jahr ſo unverhofft wieder mit ihm
zuſammentraf, da war ich ſo außer mir, und wollte
ſprechen und konnte mich nicht zurecht finden; da legt'
er mir die Hand auf den Mund und ſagt': Sprech'
mit den Augen, ich verſteh' alles; und wie er ſah, daß
die voll Thränen ſtanden, ſo drückt' er mir die Augen
zu, und ſagte: Ruhe, Ruhe, die bekommt uns beiden
am beſten; — ja, liebe Mutter, die Ruhe war gleich
über mich hingegoſſen, ich hatte ja alles, wonach ich
ſeit Jahren mich einzig geſehnt habe. — O Mutter,
ich dank' es Ihr ewig, daß Sie mir den Freund in
die Welt geboren, — wo ſollt' ich ihn ſonſt finden!
Lach' Sie nicht da drüber, und denk' Sie doch, daß
ich ihn geliebt hab', eh' ich das Geringſte von ihm
wußt', und hätt' Sie ihn nicht geboren, wo er dann
geblieben wär', das iſt doch die Frage, die Sie nicht
beantworten kann.
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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/106>, abgerufen am 24.11.2024.
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