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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835.

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in der Gegenwart fortsetzten. Von dem, was sich in
der Wirklichkeit ereignete, machten wir uns keine Mit-
theilungen; das Reich, in dem wir zusammentrafen,
senkte sich herab wie eine Wolke, die sich öffnete um
uns in ein verborgenes Paradies aufzunehmen; da war
alles neu, überraschend, aber passend für Geist und
Herz; und so vergingen die Tage. Sie wollte mir
Philosophie lehren, was sie mir mittheilte, verlangte sie
von mir aufgefaßt, und dann auf meine Art schriftlich
wiedergegeben; die Aufsätze, die ich ihr hierüber brachte,
las sie mit Staunen; es war nie auch eine entfernte
Ahndung von dem, was sie mir mitgetheilt hatte; ich
behauptete im Gegentheil, so hätt' ich es verstanden; --
sie nannte diese Aufsätze Offenbarungen, gehöht durch
die süßesten Farben einer entzückten Imagination; sie
sammelte sie sorgfältig, sie schrieb mir einmal: Jetzt ver-
stehst Du nicht, wie tief diese Eingänge in das Berg-
werk des Geistes führen, aber einst wird es Dir sehr
wichtig sein, denn der Mensch geht oft öde Straßen;
je mehr er Anlage hat durchzudringen, je schauerlicher
ist die Einsamkeit seiner Wege, je endloser die Wüste.
Wenn Du aber gewahr wirst, wie tief Du Dich hier
in den Brunnen des Denkens niedergelassen hast und
wie Du da unten ein neues Morgenroth findest, und

in der Gegenwart fortſetzten. Von dem, was ſich in
der Wirklichkeit ereignete, machten wir uns keine Mit-
theilungen; das Reich, in dem wir zuſammentrafen,
ſenkte ſich herab wie eine Wolke, die ſich öffnete um
uns in ein verborgenes Paradies aufzunehmen; da war
alles neu, überraſchend, aber paſſend für Geiſt und
Herz; und ſo vergingen die Tage. Sie wollte mir
Philoſophie lehren, was ſie mir mittheilte, verlangte ſie
von mir aufgefaßt, und dann auf meine Art ſchriftlich
wiedergegeben; die Aufſätze, die ich ihr hierüber brachte,
las ſie mit Staunen; es war nie auch eine entfernte
Ahndung von dem, was ſie mir mitgetheilt hatte; ich
behauptete im Gegentheil, ſo hätt' ich es verſtanden; —
ſie nannte dieſe Aufſätze Offenbarungen, gehöht durch
die ſüßeſten Farben einer entzückten Imagination; ſie
ſammelte ſie ſorgfältig, ſie ſchrieb mir einmal: Jetzt ver-
ſtehſt Du nicht, wie tief dieſe Eingänge in das Berg-
werk des Geiſtes führen, aber einſt wird es Dir ſehr
wichtig ſein, denn der Menſch geht oft öde Straßen;
je mehr er Anlage hat durchzudringen, je ſchauerlicher
iſt die Einſamkeit ſeiner Wege, je endloſer die Wüſte.
Wenn Du aber gewahr wirſt, wie tief Du Dich hier
in den Brunnen des Denkens niedergelaſſen haſt und
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[79/0111] in der Gegenwart fortſetzten. Von dem, was ſich in der Wirklichkeit ereignete, machten wir uns keine Mit- theilungen; das Reich, in dem wir zuſammentrafen, ſenkte ſich herab wie eine Wolke, die ſich öffnete um uns in ein verborgenes Paradies aufzunehmen; da war alles neu, überraſchend, aber paſſend für Geiſt und Herz; und ſo vergingen die Tage. Sie wollte mir Philoſophie lehren, was ſie mir mittheilte, verlangte ſie von mir aufgefaßt, und dann auf meine Art ſchriftlich wiedergegeben; die Aufſätze, die ich ihr hierüber brachte, las ſie mit Staunen; es war nie auch eine entfernte Ahndung von dem, was ſie mir mitgetheilt hatte; ich behauptete im Gegentheil, ſo hätt' ich es verſtanden; — ſie nannte dieſe Aufſätze Offenbarungen, gehöht durch die ſüßeſten Farben einer entzückten Imagination; ſie ſammelte ſie ſorgfältig, ſie ſchrieb mir einmal: Jetzt ver- ſtehſt Du nicht, wie tief dieſe Eingänge in das Berg- werk des Geiſtes führen, aber einſt wird es Dir ſehr wichtig ſein, denn der Menſch geht oft öde Straßen; je mehr er Anlage hat durchzudringen, je ſchauerlicher iſt die Einſamkeit ſeiner Wege, je endloſer die Wüſte. Wenn Du aber gewahr wirſt, wie tief Du Dich hier in den Brunnen des Denkens niedergelaſſen haſt und wie Du da unten ein neues Morgenroth findeſt, und

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Zitationshilfe: Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/111>, abgerufen am 21.11.2024.