Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

lancholischer Laune; -- und im Scherz beschrieb ich sie,
wie sie sich umbringen werde im rothen Kleid, mit auf-
gelöstem Schnürband, dicht unter der Brust die Wunde;
das nannte man tollen Übermuth von mir, es war aber
bewußtloser Überreiz, in dem ich die Wahrheit vollkom-
men genau beschrieb. -- Am andern Tag kam Franz
und sagte: Mädchen, wir wollen in's Rheingau ge-
hen, da kannst Du die Günderode besuchen. -- Wann?
fragte ich. -- Morgen, sagte er; -- ach, ich packte mit
Übereile ein, ich konnte kaum erwarten, daß wir gin-
gen; alles was ich begegnete, schob ich hastig aus dem
Weg, aber es vergingen mehrere Tage und es ward
die Reise immer verschoben; endlich, da war meine Lust
zur Reise in tiefe Trauer verwandelt, und ich wär' lie-
ber zurückgeblieben. -- Da wir in Geisenheim anka-
men, wo wir übernachteten, lag ich im Fenster und sah
in's mondbespiegelte Wasser; meine Schwägrin Tonie
saß am Fenster; die Magd, die den Tisch deckte, sagte:
Gestern hat sich auch eine junge schöne Dame, die schon
sechs Wochen hier sich aufhielt, bei Winckel umgebracht;
sie ging am Rhein spazieren ganz lang, dann lief sie
nach Hause, holte ein Handtuch; am Abend suchte man
sie vergebens; am andern Morgen fand man sie am
Ufer unter Weidenbüschen, sie hatte das Handtuch voll

lancholiſcher Laune; — und im Scherz beſchrieb ich ſie,
wie ſie ſich umbringen werde im rothen Kleid, mit auf-
gelöſtem Schnürband, dicht unter der Bruſt die Wunde;
das nannte man tollen Übermuth von mir, es war aber
bewußtloſer Überreiz, in dem ich die Wahrheit vollkom-
men genau beſchrieb. — Am andern Tag kam Franz
und ſagte: Mädchen, wir wollen in's Rheingau ge-
hen, da kannſt Du die Günderode beſuchen. — Wann?
fragte ich. — Morgen, ſagte er; — ach, ich packte mit
Übereile ein, ich konnte kaum erwarten, daß wir gin-
gen; alles was ich begegnete, ſchob ich haſtig aus dem
Weg, aber es vergingen mehrere Tage und es ward
die Reiſe immer verſchoben; endlich, da war meine Luſt
zur Reiſe in tiefe Trauer verwandelt, und ich wär' lie-
ber zurückgeblieben. — Da wir in Geiſenheim anka-
men, wo wir übernachteten, lag ich im Fenſter und ſah
in's mondbeſpiegelte Waſſer; meine Schwägrin Tonie
ſaß am Fenſter; die Magd, die den Tiſch deckte, ſagte:
Geſtern hat ſich auch eine junge ſchöne Dame, die ſchon
ſechs Wochen hier ſich aufhielt, bei Winckel umgebracht;
ſie ging am Rhein ſpazieren ganz lang, dann lief ſie
nach Hauſe, holte ein Handtuch; am Abend ſuchte man
ſie vergebens; am andern Morgen fand man ſie am
Ufer unter Weidenbüſchen, ſie hatte das Handtuch voll

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0139" n="107"/>
lancholi&#x017F;cher Laune; &#x2014; und im Scherz be&#x017F;chrieb ich &#x017F;ie,<lb/>
wie &#x017F;ie &#x017F;ich umbringen werde im rothen Kleid, mit auf-<lb/>
gelö&#x017F;tem Schnürband, dicht unter der Bru&#x017F;t die Wunde;<lb/>
das nannte man tollen Übermuth von mir, es war aber<lb/>
bewußtlo&#x017F;er Überreiz, in dem ich die Wahrheit vollkom-<lb/>
men genau be&#x017F;chrieb. &#x2014; Am andern Tag kam Franz<lb/>
und &#x017F;agte: Mädchen, wir wollen in's Rheingau ge-<lb/>
hen, da kann&#x017F;t Du die Günderode be&#x017F;uchen. &#x2014; Wann?<lb/>
fragte ich. &#x2014; Morgen, &#x017F;agte er; &#x2014; ach, ich packte mit<lb/>
Übereile ein, ich konnte kaum erwarten, daß wir gin-<lb/>
gen; alles was ich begegnete, &#x017F;chob ich ha&#x017F;tig aus dem<lb/>
Weg, aber es vergingen mehrere Tage und es ward<lb/>
die Rei&#x017F;e immer ver&#x017F;choben; endlich, da war meine Lu&#x017F;t<lb/>
zur Rei&#x017F;e in tiefe Trauer verwandelt, und ich wär' lie-<lb/>
ber zurückgeblieben. &#x2014; Da wir in Gei&#x017F;enheim anka-<lb/>
men, wo wir übernachteten, lag ich im Fen&#x017F;ter und &#x017F;ah<lb/>
in's mondbe&#x017F;piegelte Wa&#x017F;&#x017F;er; meine Schwägrin Tonie<lb/>
&#x017F;aß am Fen&#x017F;ter; die Magd, die den Ti&#x017F;ch deckte, &#x017F;agte:<lb/>
Ge&#x017F;tern hat &#x017F;ich auch eine junge &#x017F;chöne Dame, die &#x017F;chon<lb/>
&#x017F;echs Wochen hier &#x017F;ich aufhielt, bei Winckel umgebracht;<lb/>
&#x017F;ie ging am Rhein &#x017F;pazieren ganz lang, dann lief &#x017F;ie<lb/>
nach Hau&#x017F;e, holte ein Handtuch; am Abend &#x017F;uchte man<lb/>
&#x017F;ie vergebens; am andern Morgen fand man &#x017F;ie am<lb/>
Ufer unter Weidenbü&#x017F;chen, &#x017F;ie hatte das Handtuch voll<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[107/0139] lancholiſcher Laune; — und im Scherz beſchrieb ich ſie, wie ſie ſich umbringen werde im rothen Kleid, mit auf- gelöſtem Schnürband, dicht unter der Bruſt die Wunde; das nannte man tollen Übermuth von mir, es war aber bewußtloſer Überreiz, in dem ich die Wahrheit vollkom- men genau beſchrieb. — Am andern Tag kam Franz und ſagte: Mädchen, wir wollen in's Rheingau ge- hen, da kannſt Du die Günderode beſuchen. — Wann? fragte ich. — Morgen, ſagte er; — ach, ich packte mit Übereile ein, ich konnte kaum erwarten, daß wir gin- gen; alles was ich begegnete, ſchob ich haſtig aus dem Weg, aber es vergingen mehrere Tage und es ward die Reiſe immer verſchoben; endlich, da war meine Luſt zur Reiſe in tiefe Trauer verwandelt, und ich wär' lie- ber zurückgeblieben. — Da wir in Geiſenheim anka- men, wo wir übernachteten, lag ich im Fenſter und ſah in's mondbeſpiegelte Waſſer; meine Schwägrin Tonie ſaß am Fenſter; die Magd, die den Tiſch deckte, ſagte: Geſtern hat ſich auch eine junge ſchöne Dame, die ſchon ſechs Wochen hier ſich aufhielt, bei Winckel umgebracht; ſie ging am Rhein ſpazieren ganz lang, dann lief ſie nach Hauſe, holte ein Handtuch; am Abend ſuchte man ſie vergebens; am andern Morgen fand man ſie am Ufer unter Weidenbüſchen, ſie hatte das Handtuch voll

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/139
Zitationshilfe: Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/139>, abgerufen am 21.11.2024.