Heute Morgen hat mich die Sonne schon halb fünf Uhr geweckt; ich glaub' ich hab' keine zwei Stund' geschlafen; sie mußte mir grad' in die Augen scheinen. Eben hatte es aufgehört mit Wolkenbrechen und Wind- wirblen, die goldne Ruh breitete sich aus am blauen Morgenhimmel; ich sah die Wasser sich sammlen und ihren Weg zwischen den Felskanten suchen hinab in die Fluth; gestürzte Tannen brachen den brausenden Wassersturz, und Felssteine spalteten seinen Lauf; er war unaufhaltsam; er riß mit sich, was nicht wider- stehen konnte. -- Da überkam mich eine so gewaltige Lust -- ich konnte auch nicht widerstehen: ich schürzte mich hoch, der Morgenwind hielt mich bei den Haaren im Zaum; ich stützte beide Hände in die Seite, um mich im Gleichgewicht zu halten, und sprang hinab, in küh- nen Sätzen von einem Felsstück zum andern, bald hü- ben bald drüben, das brausende Wasser mit mir, kam ich unten an; da lag, als wenn ein Keil sie gespalten hätte bis an die Wurzel, der halbe Stamm einer hoh- len Linde, quer über den sich sammlenden Wassern.
O liebster Freund! der Mensch, wenn er Morgen- nebel trinkt und die frischen Winde sich mit ihm jagen, und der Duft der jungen Kräuter in die Brust eindringt
Am 2. Auguſt.
Heute Morgen hat mich die Sonne ſchon halb fünf Uhr geweckt; ich glaub' ich hab' keine zwei Stund' geſchlafen; ſie mußte mir grad' in die Augen ſcheinen. Eben hatte es aufgehört mit Wolkenbrechen und Wind- wirblen, die goldne Ruh breitete ſich aus am blauen Morgenhimmel; ich ſah die Waſſer ſich ſammlen und ihren Weg zwiſchen den Felskanten ſuchen hinab in die Fluth; geſtürzte Tannen brachen den brauſenden Waſſerſturz, und Felsſteine ſpalteten ſeinen Lauf; er war unaufhaltſam; er riß mit ſich, was nicht wider- ſtehen konnte. — Da überkam mich eine ſo gewaltige Luſt — ich konnte auch nicht widerſtehen: ich ſchürzte mich hoch, der Morgenwind hielt mich bei den Haaren im Zaum; ich ſtützte beide Hände in die Seite, um mich im Gleichgewicht zu halten, und ſprang hinab, in küh- nen Sätzen von einem Felsſtück zum andern, bald hü- ben bald drüben, das brauſende Waſſer mit mir, kam ich unten an; da lag, als wenn ein Keil ſie geſpalten hätte bis an die Wurzel, der halbe Stamm einer hoh- len Linde, quer über den ſich ſammlenden Waſſern.
O liebſter Freund! der Menſch, wenn er Morgen- nebel trinkt und die friſchen Winde ſich mit ihm jagen, und der Duft der jungen Kräuter in die Bruſt eindringt
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Am 2. Auguſt.
Heute Morgen hat mich die Sonne ſchon halb
fünf Uhr geweckt; ich glaub' ich hab' keine zwei Stund'
geſchlafen; ſie mußte mir grad' in die Augen ſcheinen.
Eben hatte es aufgehört mit Wolkenbrechen und Wind-
wirblen, die goldne Ruh breitete ſich aus am blauen
Morgenhimmel; ich ſah die Waſſer ſich ſammlen und
ihren Weg zwiſchen den Felskanten ſuchen hinab in
die Fluth; geſtürzte Tannen brachen den brauſenden
Waſſerſturz, und Felsſteine ſpalteten ſeinen Lauf; er
war unaufhaltſam; er riß mit ſich, was nicht wider-
ſtehen konnte. — Da überkam mich eine ſo gewaltige
Luſt — ich konnte auch nicht widerſtehen: ich ſchürzte
mich hoch, der Morgenwind hielt mich bei den Haaren
im Zaum; ich ſtützte beide Hände in die Seite, um mich
im Gleichgewicht zu halten, und ſprang hinab, in küh-
nen Sätzen von einem Felsſtück zum andern, bald hü-
ben bald drüben, das brauſende Waſſer mit mir, kam
ich unten an; da lag, als wenn ein Keil ſie geſpalten
hätte bis an die Wurzel, der halbe Stamm einer hoh-
len Linde, quer über den ſich ſammlenden Waſſern.
O liebſter Freund! der Menſch, wenn er Morgen-
nebel trinkt und die friſchen Winde ſich mit ihm jagen,
und der Duft der jungen Kräuter in die Bruſt eindringt
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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/182>, abgerufen am 21.11.2024.
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