Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

und in den Kopf steigt; und wenn die Schläfe pochen
und die Wangen glühen, und wenn er die Regentropfen
aus den Haaren schüttelt, was ist das für eine Lust!

Auf dem umgestürzten Stamm ruhte ich aus, und
da entdeckte ich unter den dick belaubten Ästen unzählige
Vogelnester, kleine Meisen mit schwarzen Köpfchen und
weißen Kehlen, sieben in einem Neste, und Finken und
Distelfinken; die alten Vögel flatterten über meinem
Kopf und wollten die jungen ätzen; ach, wenn's ihnen
nur gelingt, sie groß zu ziehen in so schwieriger Lage;
denk' nur: aus dem blauen Himmel herabgestürzt an
die Erde, quer über einen reißenden Bach, wenn so ein
Vögelchen heraus fällt, muß es gleich ersaufen, und
noch dazu hängen alle Nester schief. -- Aber die hun-
derttausend Bienen und Mücken die mich umschwirrten,
die all' in der Linde Nahrung suchten; -- wenn Du
doch das Leben mit angesehen hättest! Da ist kein
Markt so reich an Verkehr, und alles war so bekannt,
jedes suchte sein kleines Wirthshaus unter den Blüthen,
wo es einkehrte; und emsig flog es wieder hinweg und
begegnete dem Nachbar, und da summten sie an einan-
der vorbei, als ob sie sich's sagten, wo gut Bier feil
ist. -- Was schwätze ich Dir alles von der Linde! --
und doch ist's noch nicht genug; an der Wurzel hängt

und in den Kopf ſteigt; und wenn die Schläfe pochen
und die Wangen glühen, und wenn er die Regentropfen
aus den Haaren ſchüttelt, was iſt das für eine Luſt!

Auf dem umgeſtürzten Stamm ruhte ich aus, und
da entdeckte ich unter den dick belaubten Äſten unzählige
Vogelneſter, kleine Meiſen mit ſchwarzen Köpfchen und
weißen Kehlen, ſieben in einem Neſte, und Finken und
Diſtelfinken; die alten Vögel flatterten über meinem
Kopf und wollten die jungen ätzen; ach, wenn's ihnen
nur gelingt, ſie groß zu ziehen in ſo ſchwieriger Lage;
denk' nur: aus dem blauen Himmel herabgeſtürzt an
die Erde, quer über einen reißenden Bach, wenn ſo ein
Vögelchen heraus fällt, muß es gleich erſaufen, und
noch dazu hängen alle Neſter ſchief. — Aber die hun-
derttauſend Bienen und Mücken die mich umſchwirrten,
die all' in der Linde Nahrung ſuchten; — wenn Du
doch das Leben mit angeſehen hätteſt! Da iſt kein
Markt ſo reich an Verkehr, und alles war ſo bekannt,
jedes ſuchte ſein kleines Wirthshaus unter den Blüthen,
wo es einkehrte; und emſig flog es wieder hinweg und
begegnete dem Nachbar, und da ſummten ſie an einan-
der vorbei, als ob ſie ſich's ſagten, wo gut Bier feil
iſt. — Was ſchwätze ich Dir alles von der Linde! —
und doch iſt's noch nicht genug; an der Wurzel hängt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0183" n="151"/>
und in den Kopf &#x017F;teigt; und wenn die Schläfe pochen<lb/>
und die Wangen glühen, und wenn er die Regentropfen<lb/>
aus den Haaren &#x017F;chüttelt, was i&#x017F;t das für eine Lu&#x017F;t!</p><lb/>
          <p>Auf dem umge&#x017F;türzten Stamm ruhte ich aus, und<lb/>
da entdeckte ich unter den dick belaubten Ä&#x017F;ten unzählige<lb/>
Vogelne&#x017F;ter, kleine Mei&#x017F;en mit &#x017F;chwarzen Köpfchen und<lb/>
weißen Kehlen, &#x017F;ieben in einem Ne&#x017F;te, und Finken und<lb/>
Di&#x017F;telfinken; die alten Vögel flatterten über meinem<lb/>
Kopf und wollten die jungen ätzen; ach, wenn's ihnen<lb/>
nur gelingt, &#x017F;ie groß zu ziehen in &#x017F;o &#x017F;chwieriger Lage;<lb/>
denk' nur: aus dem blauen Himmel herabge&#x017F;türzt an<lb/>
die Erde, quer über einen reißenden Bach, wenn &#x017F;o ein<lb/>
Vögelchen heraus fällt, muß es gleich er&#x017F;aufen, und<lb/>
noch dazu hängen alle Ne&#x017F;ter &#x017F;chief. &#x2014; Aber die hun-<lb/>
derttau&#x017F;end Bienen und Mücken die mich um&#x017F;chwirrten,<lb/>
die all' in der Linde Nahrung &#x017F;uchten; &#x2014; wenn Du<lb/>
doch das Leben mit ange&#x017F;ehen hätte&#x017F;t! Da i&#x017F;t kein<lb/>
Markt &#x017F;o reich an Verkehr, und alles war &#x017F;o bekannt,<lb/>
jedes &#x017F;uchte &#x017F;ein kleines Wirthshaus unter den Blüthen,<lb/>
wo es einkehrte; und em&#x017F;ig flog es wieder hinweg und<lb/>
begegnete dem Nachbar, und da &#x017F;ummten &#x017F;ie an einan-<lb/>
der vorbei, als ob &#x017F;ie &#x017F;ich's &#x017F;agten, wo gut Bier feil<lb/>
i&#x017F;t. &#x2014; Was &#x017F;chwätze ich Dir alles von der Linde! &#x2014;<lb/>
und doch i&#x017F;t's noch nicht genug; an der Wurzel hängt<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[151/0183] und in den Kopf ſteigt; und wenn die Schläfe pochen und die Wangen glühen, und wenn er die Regentropfen aus den Haaren ſchüttelt, was iſt das für eine Luſt! Auf dem umgeſtürzten Stamm ruhte ich aus, und da entdeckte ich unter den dick belaubten Äſten unzählige Vogelneſter, kleine Meiſen mit ſchwarzen Köpfchen und weißen Kehlen, ſieben in einem Neſte, und Finken und Diſtelfinken; die alten Vögel flatterten über meinem Kopf und wollten die jungen ätzen; ach, wenn's ihnen nur gelingt, ſie groß zu ziehen in ſo ſchwieriger Lage; denk' nur: aus dem blauen Himmel herabgeſtürzt an die Erde, quer über einen reißenden Bach, wenn ſo ein Vögelchen heraus fällt, muß es gleich erſaufen, und noch dazu hängen alle Neſter ſchief. — Aber die hun- derttauſend Bienen und Mücken die mich umſchwirrten, die all' in der Linde Nahrung ſuchten; — wenn Du doch das Leben mit angeſehen hätteſt! Da iſt kein Markt ſo reich an Verkehr, und alles war ſo bekannt, jedes ſuchte ſein kleines Wirthshaus unter den Blüthen, wo es einkehrte; und emſig flog es wieder hinweg und begegnete dem Nachbar, und da ſummten ſie an einan- der vorbei, als ob ſie ſich's ſagten, wo gut Bier feil iſt. — Was ſchwätze ich Dir alles von der Linde! — und doch iſt's noch nicht genug; an der Wurzel hängt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/183
Zitationshilfe: Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/183>, abgerufen am 24.11.2024.