Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835.Da ich noch an deinem Arm durch die Straßen ging: Wenn ich den blauen Umschlag dann erblickte; Neugierig schnell, wie es gezi mt dem Weibe, Riss' ich ihn auf, daß nichts verborgen bleibe; Da läs' ich was mich mündlich sonst entzückte: Lieb Kind! Mein artig Herz! Mein einzig Wesen! Wie du so freundlich meine Sehnsucht stilltest Mit süßem Wort und mich so ganz verwöhntest. Sogar dein Lispeln glaubt' ich auch zu lesen, Womit du liebend meine Seele fülltest Und mich auf ewig vor mir selbst verschöntest. Da ich noch an deinem Arm durch die Straßen ging: Wenn ich den blauen Umſchlag dann erblickte; Neugierig ſchnell, wie es gezi mt dem Weibe, Riſſ' ich ihn auf, daß nichts verborgen bleibe; Da läſ' ich was mich mündlich ſonſt entzückte: Lieb Kind! Mein artig Herz! Mein einzig Weſen! Wie du ſo freundlich meine Sehnſucht ſtillteſt Mit ſüßem Wort und mich ſo ganz verwöhnteſt. Sogar dein Liſpeln glaubt' ich auch zu leſen, Womit du liebend meine Seele füllteſt Und mich auf ewig vor mir ſelbſt verſchönteſt. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0223" n="191"/> Da ich noch an deinem Arm durch die Straßen ging:<lb/> Ach, wie eine geraume Zeit dünkt mir's, da war ich zu-<lb/> frieden, alle Wünſche waren ſchlafen gegangen, hatten<lb/> wie die Berge, Geſtalt und Farbe, in Nebel eingehüllt;<lb/> ich dachte, ſo ging es, und weiter, ohne große Müh-<lb/> ſeeligkeit vom Land' in die hohe See, kühn und ſtolz,<lb/> mit gelöſ'ten Flaggen und friſchem Wind. — Aber Goe-<lb/> the, feurige Jugend will die Sitten der heißen Jahres-<lb/> zeit, wenn die Abendſchatten ſich über's Land ziehen,<lb/> dann ſollen die Nachtigallen nicht ſchweigen: ſingen ſoll<lb/> alles, oder ſich freudig ausſprechen; die Welt ſoll ein<lb/> üppiger Fruchtkranz ſein, alles ſoll ſich drängen im Ge-<lb/> nuß, und aller Genuß ſoll ſich mächtig ausbreiten, er<lb/> ſoll ſich ergießen wie gährender Moſt, der brauſend ar-<lb/><note xml:id="note-0223" prev="#note-0222" place="foot" n="*)"><lg type="poem"><lg n="1"><l>Wenn ich den blauen Umſchlag dann erblickte;</l><lb/><l>Neugierig ſchnell, wie es gezi mt dem Weibe,</l><lb/><l>Riſſ' ich ihn auf, daß nichts verborgen bleibe;</l><lb/><l>Da läſ' ich was mich mündlich ſonſt entzückte:</l></lg><lb/><lg n="2"><l><hi rendition="#g">Lieb Kind! Mein artig Herz! Mein einzig Weſen</hi>!</l><lb/><l>Wie du ſo freundlich meine Sehnſucht ſtillteſt</l><lb/><l>Mit ſüßem Wort und mich ſo ganz verwöhnteſt.</l></lg><lb/><lg n="3"><l>Sogar dein Liſpeln glaubt' ich auch zu leſen,</l><lb/><l>Womit du liebend meine Seele füllteſt</l><lb/><l>Und mich auf ewig vor mir ſelbſt verſchönteſt.</l></lg></lg><lb/><hi rendition="#et">(Goethes Werke 2ter Band Seite 12.)</hi></note><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [191/0223]
Da ich noch an deinem Arm durch die Straßen ging:
Ach, wie eine geraume Zeit dünkt mir's, da war ich zu-
frieden, alle Wünſche waren ſchlafen gegangen, hatten
wie die Berge, Geſtalt und Farbe, in Nebel eingehüllt;
ich dachte, ſo ging es, und weiter, ohne große Müh-
ſeeligkeit vom Land' in die hohe See, kühn und ſtolz,
mit gelöſ'ten Flaggen und friſchem Wind. — Aber Goe-
the, feurige Jugend will die Sitten der heißen Jahres-
zeit, wenn die Abendſchatten ſich über's Land ziehen,
dann ſollen die Nachtigallen nicht ſchweigen: ſingen ſoll
alles, oder ſich freudig ausſprechen; die Welt ſoll ein
üppiger Fruchtkranz ſein, alles ſoll ſich drängen im Ge-
nuß, und aller Genuß ſoll ſich mächtig ausbreiten, er
ſoll ſich ergießen wie gährender Moſt, der brauſend ar-
*)
*) Wenn ich den blauen Umſchlag dann erblickte;
Neugierig ſchnell, wie es gezi mt dem Weibe,
Riſſ' ich ihn auf, daß nichts verborgen bleibe;
Da läſ' ich was mich mündlich ſonſt entzückte:
Lieb Kind! Mein artig Herz! Mein einzig Weſen!
Wie du ſo freundlich meine Sehnſucht ſtillteſt
Mit ſüßem Wort und mich ſo ganz verwöhnteſt.
Sogar dein Liſpeln glaubt' ich auch zu leſen,
Womit du liebend meine Seele füllteſt
Und mich auf ewig vor mir ſelbſt verſchönteſt.
(Goethes Werke 2ter Band Seite 12.)
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |