Ich bin doch noch so jung, daß es sich leicht ent- schuldigen läßt, wenn ich unwissend bin. Ach, für Wis- senschaft hab' ich keinen Boden, ich fühl's, ich kann's nicht lernen, was ich nicht weiß, ich muß es erwarten, wie der Prophet in der Wüste die Raben erwartet, daß sie ihm Speise bringen. Der Vergleich ist so uneben nicht: durch die Lüfte wird meinem Geist Nahrung zu- getragen, -- oft grade, wenn er im Verschmachten ist.
Seitdem ich Dich liebe, schwebt ein unerreichbares mir im Geist; ein Geheimniß, das mich nährt. Wie vom Baum die reifen Früchte fallen, so fallen hier mir Gedanken zu, die mich erquicken und reitzen. O Goethe, hätte der Springquell eine Seele, er könnte sich nicht erwartungsvoller an's Licht drängen, um wieder empor zu steigen, als ich mit ahnender Gewißheit mich diesem neuen Leben entgegen dränge, das mir durch Dich ge- geben ist, und das mir zu erkennen giebt, daß ein hö- herer Lebenstrieb den Kerker sprengen will, der nicht schont der Ruhe und Gemächlichkeit gewohnter Tage, die er in brausender Begeisterung zertrümmert. Diesen erhabenen Geschick entgeht der liebende Geist nicht, so wenig der Saame der Blüthe entgeht, wenn er einmal in frischer Erde liegt. So fühl' ich mich in Dir, du fruchtbarer geseegneter Boden! Ich kann sagen, wie
I. 9
Ich bin doch noch ſo jung, daß es ſich leicht ent- ſchuldigen läßt, wenn ich unwiſſend bin. Ach, für Wiſ- ſenſchaft hab' ich keinen Boden, ich fühl's, ich kann's nicht lernen, was ich nicht weiß, ich muß es erwarten, wie der Prophet in der Wüſte die Raben erwartet, daß ſie ihm Speiſe bringen. Der Vergleich iſt ſo uneben nicht: durch die Lüfte wird meinem Geiſt Nahrung zu- getragen, — oft grade, wenn er im Verſchmachten iſt.
Seitdem ich Dich liebe, ſchwebt ein unerreichbares mir im Geiſt; ein Geheimniß, das mich nährt. Wie vom Baum die reifen Früchte fallen, ſo fallen hier mir Gedanken zu, die mich erquicken und reitzen. O Goethe, hätte der Springquell eine Seele, er könnte ſich nicht erwartungsvoller an's Licht drängen, um wieder empor zu ſteigen, als ich mit ahnender Gewißheit mich dieſem neuen Leben entgegen dränge, das mir durch Dich ge- geben iſt, und das mir zu erkennen giebt, daß ein hö- herer Lebenstrieb den Kerker ſprengen will, der nicht ſchont der Ruhe und Gemächlichkeit gewohnter Tage, die er in brauſender Begeiſterung zertrümmert. Dieſen erhabenen Geſchick entgeht der liebende Geiſt nicht, ſo wenig der Saame der Blüthe entgeht, wenn er einmal in friſcher Erde liegt. So fühl' ich mich in Dir, du fruchtbarer geſeegneter Boden! Ich kann ſagen, wie
I. 9
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0225"n="193"/><p>Ich bin doch noch ſo jung, daß es ſich leicht ent-<lb/>ſchuldigen läßt, wenn ich unwiſſend bin. Ach, für Wiſ-<lb/>ſenſchaft hab' ich keinen Boden, ich fühl's, ich kann's<lb/>
nicht lernen, was ich nicht weiß, ich muß es erwarten,<lb/>
wie der Prophet in der Wüſte die Raben erwartet, daß<lb/>ſie ihm Speiſe bringen. Der Vergleich iſt ſo uneben<lb/>
nicht: durch die Lüfte wird meinem Geiſt Nahrung zu-<lb/>
getragen, — oft grade, wenn er im Verſchmachten iſt.</p><lb/><p>Seitdem ich Dich liebe, ſchwebt ein unerreichbares<lb/>
mir im Geiſt; ein Geheimniß, das mich nährt. Wie<lb/>
vom Baum die reifen Früchte fallen, ſo fallen hier mir<lb/>
Gedanken zu, die mich erquicken und reitzen. O Goethe,<lb/>
hätte der Springquell eine Seele, er könnte ſich nicht<lb/>
erwartungsvoller an's Licht drängen, um wieder empor<lb/>
zu ſteigen, als ich mit ahnender Gewißheit mich dieſem<lb/>
neuen Leben entgegen dränge, das mir durch Dich ge-<lb/>
geben iſt, und das mir zu erkennen giebt, daß ein hö-<lb/>
herer Lebenstrieb den Kerker ſprengen will, der nicht<lb/>ſchont der Ruhe und Gemächlichkeit gewohnter Tage,<lb/>
die er in brauſender Begeiſterung zertrümmert. Dieſen<lb/>
erhabenen Geſchick entgeht der liebende Geiſt nicht, ſo<lb/>
wenig der Saame der Blüthe entgeht, wenn er einmal<lb/>
in friſcher Erde liegt. So fühl' ich mich in Dir, du<lb/>
fruchtbarer geſeegneter Boden! Ich kann ſagen, wie<lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#aq">I.</hi> 9</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[193/0225]
Ich bin doch noch ſo jung, daß es ſich leicht ent-
ſchuldigen läßt, wenn ich unwiſſend bin. Ach, für Wiſ-
ſenſchaft hab' ich keinen Boden, ich fühl's, ich kann's
nicht lernen, was ich nicht weiß, ich muß es erwarten,
wie der Prophet in der Wüſte die Raben erwartet, daß
ſie ihm Speiſe bringen. Der Vergleich iſt ſo uneben
nicht: durch die Lüfte wird meinem Geiſt Nahrung zu-
getragen, — oft grade, wenn er im Verſchmachten iſt.
Seitdem ich Dich liebe, ſchwebt ein unerreichbares
mir im Geiſt; ein Geheimniß, das mich nährt. Wie
vom Baum die reifen Früchte fallen, ſo fallen hier mir
Gedanken zu, die mich erquicken und reitzen. O Goethe,
hätte der Springquell eine Seele, er könnte ſich nicht
erwartungsvoller an's Licht drängen, um wieder empor
zu ſteigen, als ich mit ahnender Gewißheit mich dieſem
neuen Leben entgegen dränge, das mir durch Dich ge-
geben iſt, und das mir zu erkennen giebt, daß ein hö-
herer Lebenstrieb den Kerker ſprengen will, der nicht
ſchont der Ruhe und Gemächlichkeit gewohnter Tage,
die er in brauſender Begeiſterung zertrümmert. Dieſen
erhabenen Geſchick entgeht der liebende Geiſt nicht, ſo
wenig der Saame der Blüthe entgeht, wenn er einmal
in friſcher Erde liegt. So fühl' ich mich in Dir, du
fruchtbarer geſeegneter Boden! Ich kann ſagen, wie
I. 9
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/225>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.