bedeckt; ich saß auf einem abgebrochnen Fensterbalken und fror, und doch durchdrang mich heiße Liebe zu Dir, und ich zitterte vor Angst, hinunter zu stürzen, und klet- terte doch noch höher, weil mir's einfiel Dir zu lieb' wollt' ich's wagen. So machst Du mich oft kühn; es ist ein Glück, daß die wilden Wölfe aus dem Oden- walde nicht herbei kamen, ich hätte mich mit ihnen bal- gen müssen, hätte ich Deiner Ehre dabei gedacht; es scheint Unsinn, aber so ist's. -- Die Mitternacht, die böse Stunde der Geister, weckt mich; ich leg' mich im kalten Winterwind an's Fenster; ganz Frankfurt ist todt, der Docht in den Straßenlaternen ist im Ver- glimmen, die alten rostigen Wetterfahnen greinen mir was vor, und da denk' ich: ist das die ewige Leier? -- Und da fühl' ich, daß dies Leben ein Ge- fängniß ist, wo ein jeder nur eine kümmerliche Aus- sicht hat in die Freiheit: das ist die eigne Seele. -- Siehst Du, da ras't es in mir; ich möchte hinauf über die alten spitzen Giebeldächer, die mir den Himmel abschneiden; ich verlasse das Zimmer, eile über die weiten Gänge unseres Hauses, suche mir einen Weg über die alten Böden, und hinter dem Sparrwerk ahnde ich Gespenster, aber ich achte ihrer nicht; da suche ich die Treppe zum kleinen Thürmchen, wenn
bedeckt; ich ſaß auf einem abgebrochnen Fenſterbalken und fror, und doch durchdrang mich heiße Liebe zu Dir, und ich zitterte vor Angſt, hinunter zu ſtürzen, und klet- terte doch noch höher, weil mir's einfiel Dir zu lieb' wollt' ich's wagen. So machſt Du mich oft kühn; es iſt ein Glück, daß die wilden Wölfe aus dem Oden- walde nicht herbei kamen, ich hätte mich mit ihnen bal- gen müſſen, hätte ich Deiner Ehre dabei gedacht; es ſcheint Unſinn, aber ſo iſt's. — Die Mitternacht, die böſe Stunde der Geiſter, weckt mich; ich leg' mich im kalten Winterwind an's Fenſter; ganz Frankfurt iſt todt, der Docht in den Straßenlaternen iſt im Ver- glimmen, die alten roſtigen Wetterfahnen greinen mir was vor, und da denk' ich: iſt das die ewige Leier? — Und da fühl' ich, daß dies Leben ein Ge- fängniß iſt, wo ein jeder nur eine kümmerliche Aus- ſicht hat in die Freiheit: das iſt die eigne Seele. — Siehſt Du, da raſ't es in mir; ich möchte hinauf über die alten ſpitzen Giebeldächer, die mir den Himmel abſchneiden; ich verlaſſe das Zimmer, eile über die weiten Gänge unſeres Hauſes, ſuche mir einen Weg über die alten Böden, und hinter dem Sparrwerk ahnde ich Geſpenſter, aber ich achte ihrer nicht; da ſuche ich die Treppe zum kleinen Thürmchen, wenn
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bedeckt; ich ſaß auf einem abgebrochnen Fenſterbalken
und fror, und doch durchdrang mich heiße Liebe zu Dir,
und ich zitterte vor Angſt, hinunter zu ſtürzen, und klet-
terte doch noch höher, weil mir's einfiel Dir zu lieb'
wollt' ich's wagen. So machſt Du mich oft kühn; es
iſt ein Glück, daß die wilden Wölfe aus dem Oden-
walde nicht herbei kamen, ich hätte mich mit ihnen bal-
gen müſſen, hätte ich Deiner Ehre dabei gedacht; es
ſcheint Unſinn, aber ſo iſt's. — Die Mitternacht, die
böſe Stunde der Geiſter, weckt mich; ich leg' mich im
kalten Winterwind an's Fenſter; ganz Frankfurt iſt
todt, der Docht in den Straßenlaternen iſt im Ver-
glimmen, die alten roſtigen Wetterfahnen greinen
mir was vor, und da denk' ich: iſt das die ewige
Leier? — Und da fühl' ich, daß dies Leben ein Ge-
fängniß iſt, wo ein jeder nur eine kümmerliche Aus-
ſicht hat in die Freiheit: das iſt die eigne Seele. —
Siehſt Du, da raſ't es in mir; ich möchte hinauf über
die alten ſpitzen Giebeldächer, die mir den Himmel
abſchneiden; ich verlaſſe das Zimmer, eile über die
weiten Gänge unſeres Hauſes, ſuche mir einen Weg
über die alten Böden, und hinter dem Sparrwerk
ahnde ich Geſpenſter, aber ich achte ihrer nicht; da
ſuche ich die Treppe zum kleinen Thürmchen, wenn
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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/238>, abgerufen am 24.11.2024.
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