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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835.

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An Goethe.


Hier sind noch tausend herrliche Wege, die alle nach
berühmten Gegenden des Rheins führen; jenseits liegt
der Johannisberg, auf dessen steilen Rücken wir täglich
Prozessionen hinaufklettern sehen, die den Weinbergen
Seegen erflehen, dort überströmt die scheidende Sonne
das reiche Land mit ihrem Purpur, und der Abendwind
trägt feierlich die Fahnen der Schutzheiligen in den Lüf-
ten, und bläht die weitfaltigen weißen Chorhemden der
Geistlichkeit auf, die sich in der Dämmerung wie ein
räthselhaftes Wolkengebilde den Berg hinabschlängeln.
Im Näherrücken entwickelt sich der Gesang; die Kin-
derstimmen klingen am vernehmlichsten; der Baß stößt
nur ruckweise die Melodie in die rechten Fugen, damit
sie das kleine Schulgewimmel nicht all' zu hoch treibe,
und dann pausirt er am Fuß des Bergs, wo die Wein-
lagen aufhören. Nachdem der Herr Kaplan den letz-
ten Rebstock mit dem Wadel aus dem Weihwasserkessel
bespritzt hat, fliegt die ganze Prozession wie Spreu aus-
einander, der Küster nimmt Fahne, Weihkessel und Wa-
del, Stola und Chorhemd, alles unter dem Arm, und
trägt's eilends davon, und als ob die Grenze der Wein-

An Goethe.


Hier ſind noch tauſend herrliche Wege, die alle nach
berühmten Gegenden des Rheins führen; jenſeits liegt
der Johannisberg, auf deſſen ſteilen Rücken wir täglich
Prozeſſionen hinaufklettern ſehen, die den Weinbergen
Seegen erflehen, dort überſtrömt die ſcheidende Sonne
das reiche Land mit ihrem Purpur, und der Abendwind
trägt feierlich die Fahnen der Schutzheiligen in den Lüf-
ten, und bläht die weitfaltigen weißen Chorhemden der
Geiſtlichkeit auf, die ſich in der Dämmerung wie ein
räthſelhaftes Wolkengebilde den Berg hinabſchlängeln.
Im Näherrücken entwickelt ſich der Geſang; die Kin-
derſtimmen klingen am vernehmlichſten; der Baß ſtößt
nur ruckweiſe die Melodie in die rechten Fugen, damit
ſie das kleine Schulgewimmel nicht all' zu hoch treibe,
und dann pauſirt er am Fuß des Bergs, wo die Wein-
lagen aufhören. Nachdem der Herr Kaplan den letz-
ten Rebſtock mit dem Wadel aus dem Weihwaſſerkeſſel
beſpritzt hat, fliegt die ganze Prozeſſion wie Spreu aus-
einander, der Küſter nimmt Fahne, Weihkeſſel und Wa-
del, Stola und Chorhemd, alles unter dem Arm, und
trägt's eilends davon, und als ob die Grenze der Wein-

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[231/0263] An Goethe. Am 16. Juni. Hier ſind noch tauſend herrliche Wege, die alle nach berühmten Gegenden des Rheins führen; jenſeits liegt der Johannisberg, auf deſſen ſteilen Rücken wir täglich Prozeſſionen hinaufklettern ſehen, die den Weinbergen Seegen erflehen, dort überſtrömt die ſcheidende Sonne das reiche Land mit ihrem Purpur, und der Abendwind trägt feierlich die Fahnen der Schutzheiligen in den Lüf- ten, und bläht die weitfaltigen weißen Chorhemden der Geiſtlichkeit auf, die ſich in der Dämmerung wie ein räthſelhaftes Wolkengebilde den Berg hinabſchlängeln. Im Näherrücken entwickelt ſich der Geſang; die Kin- derſtimmen klingen am vernehmlichſten; der Baß ſtößt nur ruckweiſe die Melodie in die rechten Fugen, damit ſie das kleine Schulgewimmel nicht all' zu hoch treibe, und dann pauſirt er am Fuß des Bergs, wo die Wein- lagen aufhören. Nachdem der Herr Kaplan den letz- ten Rebſtock mit dem Wadel aus dem Weihwaſſerkeſſel beſpritzt hat, fliegt die ganze Prozeſſion wie Spreu aus- einander, der Küſter nimmt Fahne, Weihkeſſel und Wa- del, Stola und Chorhemd, alles unter dem Arm, und trägt's eilends davon, und als ob die Grenze der Wein-

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Zitationshilfe: Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/263>, abgerufen am 22.11.2024.