Finsterniß her; alle Läden sind zu im ganzen Hause, alle Vorhänge vorgezogen; früher machte ich Morgens weite Spaziergänge, aber das ist bei dieser Hitze nicht mehr möglich; die Sonne beizt die Weinberge, und die ganze Natur seufzt unter der Brutwärme. Ich gehe doch jeden Morgen zwischen vier und fünf Uhr heraus mit einem Schnikermesser, und hole frische kühle Zweige, die ich im Zimmer aufpflanze. Vor acht Wochen hatte ich Birken und Pappeln, die glänzten wie Gold und Sil- ber, und dazwischen dicke duftende Sträußer von Mai- blumen. Wie ein Heiligthum ist der Saal, an den alle Schlafkabinette stoßen; da liegen sie noch in den Bet- ten, wenn ich nach Hause komme und warten, bis ich fertig bin; dann haben die Linden und Kastanien hier abgeblüht, und himmelhohes Schilf, das sich oben an der Decke umbiegt, mit blühenden Winden umstrickt; und die Feldblumen sind reizend, die kleinen Grasdol- den, die Schafgarbe, die Johannisblume, Wasserlilien, die ich mit einiger Gefahr fische, und das ewig schöne Vergißmeinnicht. Heute hab' ich Eichen aufgepflanzt, hohe Äste, die ich aus dem obersten Gipfel geholt. Ich klettere wie eine Katze; die Blätter sind ganz purpur- roth, und in so zierlichen Sträusern gewachsen, als hät- ten sie sich tanzend in Gruppen vertheilt.
Finſterniß her; alle Läden ſind zu im ganzen Hauſe, alle Vorhänge vorgezogen; früher machte ich Morgens weite Spaziergänge, aber das iſt bei dieſer Hitze nicht mehr möglich; die Sonne beizt die Weinberge, und die ganze Natur ſeufzt unter der Brutwärme. Ich gehe doch jeden Morgen zwiſchen vier und fünf Uhr heraus mit einem Schnikermeſſer, und hole friſche kühle Zweige, die ich im Zimmer aufpflanze. Vor acht Wochen hatte ich Birken und Pappeln, die glänzten wie Gold und Sil- ber, und dazwiſchen dicke duftende Sträußer von Mai- blumen. Wie ein Heiligthum iſt der Saal, an den alle Schlafkabinette ſtoßen; da liegen ſie noch in den Bet- ten, wenn ich nach Hauſe komme und warten, bis ich fertig bin; dann haben die Linden und Kaſtanien hier abgeblüht, und himmelhohes Schilf, das ſich oben an der Decke umbiegt, mit blühenden Winden umſtrickt; und die Feldblumen ſind reizend, die kleinen Grasdol- den, die Schafgarbe, die Johannisblume, Waſſerlilien, die ich mit einiger Gefahr fiſche, und das ewig ſchöne Vergißmeinnicht. Heute hab' ich Eichen aufgepflanzt, hohe Äſte, die ich aus dem oberſten Gipfel geholt. Ich klettere wie eine Katze; die Blätter ſind ganz purpur- roth, und in ſo zierlichen Sträuſern gewachſen, als hät- ten ſie ſich tanzend in Gruppen vertheilt.
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Finſterniß her; alle Läden ſind zu im ganzen Hauſe,
alle Vorhänge vorgezogen; früher machte ich Morgens
weite Spaziergänge, aber das iſt bei dieſer Hitze nicht
mehr möglich; die Sonne beizt die Weinberge, und die
ganze Natur ſeufzt unter der Brutwärme. Ich gehe doch
jeden Morgen zwiſchen vier und fünf Uhr heraus mit
einem Schnikermeſſer, und hole friſche kühle Zweige, die
ich im Zimmer aufpflanze. Vor acht Wochen hatte ich
Birken und Pappeln, die glänzten wie Gold und Sil-
ber, und dazwiſchen dicke duftende Sträußer von Mai-
blumen. Wie ein Heiligthum iſt der Saal, an den alle
Schlafkabinette ſtoßen; da liegen ſie noch in den Bet-
ten, wenn ich nach Hauſe komme und warten, bis ich
fertig bin; dann haben die Linden und Kaſtanien hier
abgeblüht, und himmelhohes Schilf, das ſich oben an
der Decke umbiegt, mit blühenden Winden umſtrickt;
und die Feldblumen ſind reizend, die kleinen Grasdol-
den, die Schafgarbe, die Johannisblume, Waſſerlilien,
die ich mit einiger Gefahr fiſche, und das ewig ſchöne
Vergißmeinnicht. Heute hab' ich Eichen aufgepflanzt,
hohe Äſte, die ich aus dem oberſten Gipfel geholt. Ich
klettere wie eine Katze; die Blätter ſind ganz purpur-
roth, und in ſo zierlichen Sträuſern gewachſen, als hät-
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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 323. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/355>, abgerufen am 21.11.2024.
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