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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835.

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Ich sollte mich scheuen, Dir von Blumen zu sprechen;
Du hast mich schon einmal ein bischen ausgelacht, und
doch ist der Reiz gar zu groß; die vielen schlafenden
Blüthen, die nur im Tod erwachen, das träumende Ge-
schlecht der Wicken, die Herrgottsschückelchen, Himmels-
schlüssel mit ihrem sanften freundlichen Duft -- sie ist
die geringste aller Blumen. Wie ich kaum sechs Jahr
alt war, und die Milchfrau hatte versprochen, mir einen
Strauß Himmelsschlüssel mitzubringen, da riß mich die
Erwartung schon mit dem ersten Morgenstrahl aus dem
Schlaf im Hemdchen an's Fenster; wie frisch waren die
Blumen! Wie athmeten sie in meiner Hand! -- Ein-
mal brachte sie mir dunkle Nelken in einen Topf ein-
gepflanzt; welcher Reichthum! -- Wie war ich über-
rascht von der Großmuth! -- Diese Blumen in der
Erde -- sie schienen mir ewig an's Leben gebunden, es
waren mehr als ich zählen konnte; immer fing ich von
vorne an; ich wollte kein Knöspchen überspringen; wie
dufteten sie! Wie war ich demüthig vor dem Geist,
den sie ausströmten! -- Ich wußte ja noch wenig von
Wald und Flur, und die erste Wiese, im Abendschein
eine unendliche Fläche für's Kinderaug', mit goldnen
Sternen übersäet; -- ach, wie hat Natur aus Liebe es
dem Geist Gottes nachahmen wollen. -- Und wie liebt

Ich ſollte mich ſcheuen, Dir von Blumen zu ſprechen;
Du haſt mich ſchon einmal ein bischen ausgelacht, und
doch iſt der Reiz gar zu groß; die vielen ſchlafenden
Blüthen, die nur im Tod erwachen, das träumende Ge-
ſchlecht der Wicken, die Herrgottsſchückelchen, Himmels-
ſchlüſſel mit ihrem ſanften freundlichen Duft — ſie iſt
die geringſte aller Blumen. Wie ich kaum ſechs Jahr
alt war, und die Milchfrau hatte verſprochen, mir einen
Strauß Himmelsſchlüſſel mitzubringen, da riß mich die
Erwartung ſchon mit dem erſten Morgenſtrahl aus dem
Schlaf im Hemdchen an's Fenſter; wie friſch waren die
Blumen! Wie athmeten ſie in meiner Hand! — Ein-
mal brachte ſie mir dunkle Nelken in einen Topf ein-
gepflanzt; welcher Reichthum! — Wie war ich über-
raſcht von der Großmuth! — Dieſe Blumen in der
Erde — ſie ſchienen mir ewig an's Leben gebunden, es
waren mehr als ich zählen konnte; immer fing ich von
vorne an; ich wollte kein Knöſpchen überſpringen; wie
dufteten ſie! Wie war ich demüthig vor dem Geiſt,
den ſie ausſtrömten! — Ich wußte ja noch wenig von
Wald und Flur, und die erſte Wieſe, im Abendſchein
eine unendliche Fläche für's Kinderaug', mit goldnen
Sternen überſäet; — ach, wie hat Natur aus Liebe es
dem Geiſt Gottes nachahmen wollen. — Und wie liebt

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[324/0356] Ich ſollte mich ſcheuen, Dir von Blumen zu ſprechen; Du haſt mich ſchon einmal ein bischen ausgelacht, und doch iſt der Reiz gar zu groß; die vielen ſchlafenden Blüthen, die nur im Tod erwachen, das träumende Ge- ſchlecht der Wicken, die Herrgottsſchückelchen, Himmels- ſchlüſſel mit ihrem ſanften freundlichen Duft — ſie iſt die geringſte aller Blumen. Wie ich kaum ſechs Jahr alt war, und die Milchfrau hatte verſprochen, mir einen Strauß Himmelsſchlüſſel mitzubringen, da riß mich die Erwartung ſchon mit dem erſten Morgenſtrahl aus dem Schlaf im Hemdchen an's Fenſter; wie friſch waren die Blumen! Wie athmeten ſie in meiner Hand! — Ein- mal brachte ſie mir dunkle Nelken in einen Topf ein- gepflanzt; welcher Reichthum! — Wie war ich über- raſcht von der Großmuth! — Dieſe Blumen in der Erde — ſie ſchienen mir ewig an's Leben gebunden, es waren mehr als ich zählen konnte; immer fing ich von vorne an; ich wollte kein Knöſpchen überſpringen; wie dufteten ſie! Wie war ich demüthig vor dem Geiſt, den ſie ausſtrömten! — Ich wußte ja noch wenig von Wald und Flur, und die erſte Wieſe, im Abendſchein eine unendliche Fläche für's Kinderaug', mit goldnen Sternen überſäet; — ach, wie hat Natur aus Liebe es dem Geiſt Gottes nachahmen wollen. — Und wie liebt

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Zitationshilfe: Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 324. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/356>, abgerufen am 21.11.2024.