Seit mehreren Wochen bin ich in München, treib Musik und singe viel bei dem Kapellmeister Winter, der ein wunderlicher Kauz ist aber grade für mich paßt; denn er sagt: Sängerinnen müssen Launen haben, und so darf ich alle an ihm auslassen; viel Zeit bringe ich am Krankenlager von Ludwig Tiek zu, er leidet an Gicht, eine Krankheit die allen bösen Launen und Me- lancholie Audienz giebt; ich harre eben so wohl aus Ge- schmack wie aus Menschlichkeit bei ihm aus; ein Kran- kenzimmer ist an und für sich, schon durch die große Ruhe ein anziehender Aufenthalt, ein Kranker der mit gelassnem Muth seine Schmerzen bekämpft macht es zum Heiligthum. Du bist ein großer Dichter, der Tiek ist ein großer Dulder, und für mich ein Phänomen, da ich vorher nicht gewußt habe, daß es solche Leiden giebt; keine Bewegung kann er machen ohne aufzuseufzen, sein Gesicht trieft von Angstschweiß, und sein Blick irrt über der Schmerzensfluth oft umher, wie eine müde geäng- stigte Schwalbe die vergeblich einen Ort sucht wo sie ausruhen kann, und ich steh' vor ihm verwundert und beschämt, daß ich so gesund bin; dabei dichtet er noch Frühlingslieder, und freut sich über einen Strauß Schnee- glöckchen die ich ihm bringe, so oft ich komme fordert er zuerst daß ich dem Strauß frisch Wasser gebe, dann
Seit mehreren Wochen bin ich in München, treib Muſik und ſinge viel bei dem Kapellmeiſter Winter, der ein wunderlicher Kauz iſt aber grade für mich paßt; denn er ſagt: Sängerinnen müſſen Launen haben, und ſo darf ich alle an ihm auslaſſen; viel Zeit bringe ich am Krankenlager von Ludwig Tiek zu, er leidet an Gicht, eine Krankheit die allen böſen Launen und Me- lancholie Audienz giebt; ich harre eben ſo wohl aus Ge- ſchmack wie aus Menſchlichkeit bei ihm aus; ein Kran- kenzimmer iſt an und für ſich, ſchon durch die große Ruhe ein anziehender Aufenthalt, ein Kranker der mit gelaſſnem Muth ſeine Schmerzen bekämpft macht es zum Heiligthum. Du biſt ein großer Dichter, der Tiek iſt ein großer Dulder, und für mich ein Phänomen, da ich vorher nicht gewußt habe, daß es ſolche Leiden giebt; keine Bewegung kann er machen ohne aufzuſeufzen, ſein Geſicht trieft von Angſtſchweiß, und ſein Blick irrt über der Schmerzensfluth oft umher, wie eine müde geäng- ſtigte Schwalbe die vergeblich einen Ort ſucht wo ſie ausruhen kann, und ich ſteh' vor ihm verwundert und beſchämt, daß ich ſo geſund bin; dabei dichtet er noch Frühlingslieder, und freut ſich über einen Strauß Schnee- glöckchen die ich ihm bringe, ſo oft ich komme fordert er zuerſt daß ich dem Strauß friſch Waſſer gebe, dann
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Seit mehreren Wochen bin ich in München, treib
Muſik und ſinge viel bei dem Kapellmeiſter Winter, der
ein wunderlicher Kauz iſt aber grade für mich paßt;
denn er ſagt: Sängerinnen müſſen Launen haben, und
ſo darf ich alle an ihm auslaſſen; viel Zeit bringe ich
am Krankenlager von Ludwig Tiek zu, er leidet an
Gicht, eine Krankheit die allen böſen Launen und Me-
lancholie Audienz giebt; ich harre eben ſo wohl aus Ge-
ſchmack wie aus Menſchlichkeit bei ihm aus; ein Kran-
kenzimmer iſt an und für ſich, ſchon durch die große
Ruhe ein anziehender Aufenthalt, ein Kranker der mit
gelaſſnem Muth ſeine Schmerzen bekämpft macht es
zum Heiligthum. Du biſt ein großer Dichter, der Tiek
iſt ein großer Dulder, und für mich ein Phänomen, da
ich vorher nicht gewußt habe, daß es ſolche Leiden giebt;
keine Bewegung kann er machen ohne aufzuſeufzen, ſein
Geſicht trieft von Angſtſchweiß, und ſein Blick irrt über
der Schmerzensfluth oft umher, wie eine müde geäng-
ſtigte Schwalbe die vergeblich einen Ort ſucht wo ſie
ausruhen kann, und ich ſteh' vor ihm verwundert und
beſchämt, daß ich ſo geſund bin; dabei dichtet er noch
Frühlingslieder, und freut ſich über einen Strauß Schnee-
glöckchen die ich ihm bringe, ſo oft ich komme fordert
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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 2. Berlin, 1835, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe02_1835/18>, abgerufen am 21.11.2024.
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