Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 2. Berlin, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

mir den Kutschersitz, von wo herab wir die ganze Natur
mit Spott und Witz begrüßten; warum ich Dir diese
alle so deutlich beschreibe? -- weil keiner unter ihnen
ist, der nicht durch Reinheit und Wahrheit im allgemei-
nen Leben hervorleuchten würde, und weil sie Dir als
Grundlagen zu schönen Charaktern in deiner Welt die-
nen können; diese alle feiern dein Andenken in treuem
Herzen, Du bist wie der Kaiser, wo er hinkömmt, jauch-
zen ihm die Unterthanen entgegen.

Der Tagereisen waren zwei bis Salzburg, auf der
ersten kamen wir bis Alt-Ortingen, wo das wunderthä-
tige Marienbild in einer düsteren Kapelle die Pilger
von allen Seiten herbeilockt. Schon der ganze Platz
umher und die äußern Mauern sind mit Votiftafeln
gedeckt, es macht einen sehr ängstlichen Eindruck, die
Zeugnisse schauerlicher Geschicke und tausendfachen Elen-
des gedrängt neben einander, und über diese hin ein
beständiges Ein- und Ausströmen der Wallfahrer mit
bedrängenden Gebeten und Gelübden um Erhörung, je-
den Tag des Jahres von Sonnenaufgang bis Sonnen-
untergang. Früh Morgens um 4 Uhr beginnt der
Gottesdienst mit Musik und währt bis zur Nacht. Das
innere der Kapelle ist ganz mit schwarzem Sammt über-
zogen, auch selbst das Gewölbe, und mehr durch Ker-

mir den Kutſcherſitz, von wo herab wir die ganze Natur
mit Spott und Witz begrüßten; warum ich Dir dieſe
alle ſo deutlich beſchreibe? — weil keiner unter ihnen
iſt, der nicht durch Reinheit und Wahrheit im allgemei-
nen Leben hervorleuchten würde, und weil ſie Dir als
Grundlagen zu ſchönen Charaktern in deiner Welt die-
nen können; dieſe alle feiern dein Andenken in treuem
Herzen, Du biſt wie der Kaiſer, wo er hinkömmt, jauch-
zen ihm die Unterthanen entgegen.

Der Tagereiſen waren zwei bis Salzburg, auf der
erſten kamen wir bis Alt-Ortingen, wo das wunderthä-
tige Marienbild in einer düſteren Kapelle die Pilger
von allen Seiten herbeilockt. Schon der ganze Platz
umher und die äußern Mauern ſind mit Votiftafeln
gedeckt, es macht einen ſehr ängſtlichen Eindruck, die
Zeugniſſe ſchauerlicher Geſchicke und tauſendfachen Elen-
des gedrängt neben einander, und über dieſe hin ein
beſtändiges Ein- und Ausſtrömen der Wallfahrer mit
bedrängenden Gebeten und Gelübden um Erhörung, je-
den Tag des Jahres von Sonnenaufgang bis Sonnen-
untergang. Früh Morgens um 4 Uhr beginnt der
Gottesdienſt mit Muſik und währt bis zur Nacht. Das
innere der Kapelle iſt ganz mit ſchwarzem Sammt über-
zogen, auch ſelbſt das Gewölbe, und mehr durch Ker-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0193" n="183"/>
mir den Kut&#x017F;cher&#x017F;itz, von wo herab wir die ganze Natur<lb/>
mit Spott und Witz begrüßten; warum ich Dir die&#x017F;e<lb/>
alle &#x017F;o deutlich be&#x017F;chreibe? &#x2014; weil keiner unter ihnen<lb/>
i&#x017F;t, der nicht durch Reinheit und Wahrheit im allgemei-<lb/>
nen Leben hervorleuchten würde, und weil &#x017F;ie Dir als<lb/>
Grundlagen zu &#x017F;chönen Charaktern in deiner Welt die-<lb/>
nen können; die&#x017F;e alle feiern dein Andenken in treuem<lb/>
Herzen, Du bi&#x017F;t wie der Kai&#x017F;er, wo er hinkömmt, jauch-<lb/>
zen ihm die Unterthanen entgegen.</p><lb/>
          <p>Der Tagerei&#x017F;en waren zwei bis Salzburg, auf der<lb/>
er&#x017F;ten kamen wir bis Alt-Ortingen, wo das wunderthä-<lb/>
tige Marienbild in einer dü&#x017F;teren Kapelle die Pilger<lb/>
von allen Seiten herbeilockt. Schon der ganze Platz<lb/>
umher und die äußern Mauern &#x017F;ind mit Votiftafeln<lb/>
gedeckt, es macht einen &#x017F;ehr äng&#x017F;tlichen Eindruck, die<lb/>
Zeugni&#x017F;&#x017F;e &#x017F;chauerlicher Ge&#x017F;chicke und tau&#x017F;endfachen Elen-<lb/>
des gedrängt neben einander, und über die&#x017F;e hin ein<lb/>
be&#x017F;tändiges Ein- und Aus&#x017F;trömen der Wallfahrer mit<lb/>
bedrängenden Gebeten und Gelübden um Erhörung, je-<lb/>
den Tag des Jahres von Sonnenaufgang bis Sonnen-<lb/>
untergang. Früh Morgens um 4 Uhr beginnt der<lb/>
Gottesdien&#x017F;t mit Mu&#x017F;ik und währt bis zur Nacht. Das<lb/>
innere der Kapelle i&#x017F;t ganz mit &#x017F;chwarzem Sammt über-<lb/>
zogen, auch &#x017F;elb&#x017F;t das Gewölbe, und mehr durch Ker-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[183/0193] mir den Kutſcherſitz, von wo herab wir die ganze Natur mit Spott und Witz begrüßten; warum ich Dir dieſe alle ſo deutlich beſchreibe? — weil keiner unter ihnen iſt, der nicht durch Reinheit und Wahrheit im allgemei- nen Leben hervorleuchten würde, und weil ſie Dir als Grundlagen zu ſchönen Charaktern in deiner Welt die- nen können; dieſe alle feiern dein Andenken in treuem Herzen, Du biſt wie der Kaiſer, wo er hinkömmt, jauch- zen ihm die Unterthanen entgegen. Der Tagereiſen waren zwei bis Salzburg, auf der erſten kamen wir bis Alt-Ortingen, wo das wunderthä- tige Marienbild in einer düſteren Kapelle die Pilger von allen Seiten herbeilockt. Schon der ganze Platz umher und die äußern Mauern ſind mit Votiftafeln gedeckt, es macht einen ſehr ängſtlichen Eindruck, die Zeugniſſe ſchauerlicher Geſchicke und tauſendfachen Elen- des gedrängt neben einander, und über dieſe hin ein beſtändiges Ein- und Ausſtrömen der Wallfahrer mit bedrängenden Gebeten und Gelübden um Erhörung, je- den Tag des Jahres von Sonnenaufgang bis Sonnen- untergang. Früh Morgens um 4 Uhr beginnt der Gottesdienſt mit Muſik und währt bis zur Nacht. Das innere der Kapelle iſt ganz mit ſchwarzem Sammt über- zogen, auch ſelbſt das Gewölbe, und mehr durch Ker-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe02_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe02_1835/193
Zitationshilfe: Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 2. Berlin, 1835, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe02_1835/193>, abgerufen am 18.05.2024.