Die Leute gehen jetzt häufig in die Kirche, sie gehen zum Abendmahl, sie sprechen viel von ihrem Freund und Herrn von dem Sohn ihres Gottes; ich habe nicht einmal den Freund bewahrt, den ich mir selbst erwählte, mein Mund hat sich geschlossen über ihn, als ob ich ihn nicht kenne, ich habe das Richtschwerd der Zunge über ihm blitzen sehen und hab' es nicht abgewehrt, siehst Du so wenig gutes ist in mir, da ich doch damals so gewiß besser sein wollte als alle die so sind.
Mir träumte vor drei Jahren, ich erwache aus ei- nem ruhigen Schlaf auf Deinen Knieen sitzend an einer langen gedeckten Tafel, Du zeigtest mir ein Licht was tief herabgebrennt war und sagtest: "so lange hab' ich dich an meinem Herzen schlafen lassen, alle Gäste sind von der Tafel weggegangen ich allein bin um deine Ruhe nicht zu stören sitzen geblieben, nun werfe mir nicht mehr vor, daß ich keine Geduld mir dir habe" -- ja wahrlich, das träumte ich, ich wollte Dir damals schreiben, aber eine Bangigkeit, die mir bis in die Fin- gerspitzen ging hielt mich davon ab; nun grüße ich Dich nochmals durch alle Nacht der Vergangenheit, und drücke die Wunden wieder zu, die ich so lange nicht zu be- schauen wagte, und warte ab ob Du mich auch noch hören willst, eh ich Dir mehr erzähle.
Bettine.
Die Leute gehen jetzt häufig in die Kirche, ſie gehen zum Abendmahl, ſie ſprechen viel von ihrem Freund und Herrn von dem Sohn ihres Gottes; ich habe nicht einmal den Freund bewahrt, den ich mir ſelbſt erwählte, mein Mund hat ſich geſchloſſen über ihn, als ob ich ihn nicht kenne, ich habe das Richtſchwerd der Zunge über ihm blitzen ſehen und hab' es nicht abgewehrt, ſiehſt Du ſo wenig gutes iſt in mir, da ich doch damals ſo gewiß beſſer ſein wollte als alle die ſo ſind.
Mir träumte vor drei Jahren, ich erwache aus ei- nem ruhigen Schlaf auf Deinen Knieen ſitzend an einer langen gedeckten Tafel, Du zeigteſt mir ein Licht was tief herabgebrennt war und ſagteſt: „ſo lange hab' ich dich an meinem Herzen ſchlafen laſſen, alle Gäſte ſind von der Tafel weggegangen ich allein bin um deine Ruhe nicht zu ſtören ſitzen geblieben, nun werfe mir nicht mehr vor, daß ich keine Geduld mir dir habe“ — ja wahrlich, das träumte ich, ich wollte Dir damals ſchreiben, aber eine Bangigkeit, die mir bis in die Fin- gerſpitzen ging hielt mich davon ab; nun grüße ich Dich nochmals durch alle Nacht der Vergangenheit, und drücke die Wunden wieder zu, die ich ſo lange nicht zu be- ſchauen wagte, und warte ab ob Du mich auch noch hören willſt, eh ich Dir mehr erzähle.
Bettine.
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Die Leute gehen jetzt häufig in die Kirche, ſie gehen
zum Abendmahl, ſie ſprechen viel von ihrem Freund
und Herrn von dem Sohn ihres Gottes; ich habe nicht
einmal den Freund bewahrt, den ich mir ſelbſt erwählte,
mein Mund hat ſich geſchloſſen über ihn, als ob ich
ihn nicht kenne, ich habe das Richtſchwerd der Zunge
über ihm blitzen ſehen und hab' es nicht abgewehrt,
ſiehſt Du ſo wenig gutes iſt in mir, da ich doch damals
ſo gewiß beſſer ſein wollte als alle die ſo ſind.
Mir träumte vor drei Jahren, ich erwache aus ei-
nem ruhigen Schlaf auf Deinen Knieen ſitzend an einer
langen gedeckten Tafel, Du zeigteſt mir ein Licht was
tief herabgebrennt war und ſagteſt: „ſo lange hab' ich
dich an meinem Herzen ſchlafen laſſen, alle Gäſte ſind
von der Tafel weggegangen ich allein bin um deine
Ruhe nicht zu ſtören ſitzen geblieben, nun werfe mir
nicht mehr vor, daß ich keine Geduld mir dir habe“ —
ja wahrlich, das träumte ich, ich wollte Dir damals
ſchreiben, aber eine Bangigkeit, die mir bis in die Fin-
gerſpitzen ging hielt mich davon ab; nun grüße ich Dich
nochmals durch alle Nacht der Vergangenheit, und drücke
die Wunden wieder zu, die ich ſo lange nicht zu be-
ſchauen wagte, und warte ab ob Du mich auch noch
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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 2. Berlin, 1835, S. 301. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe02_1835/311>, abgerufen am 21.11.2024.
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