Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Arnim, Bettina von]: Tagebuch. Berlin, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Am Weinacht Morgen, -- das waren drei Jahre
eh' ich Dich gesehen habe, -- gingen wir bei früher
Zeit in die Kirche; es war noch Nacht, eine Laterne
leuchtete voran, um durch den Schnee den Fußpfad zu
finden, wir kamen an einer verödeten, verfallnen Klo-
sterkirche vorüber, der Wind pfiff durch die zerbrochnen
Fenster und klapperte mit den losen Dachziegeln; "in
diesem Gemäuer hausen die Geister," sagte der Later-
nenträger, "da ist es unsicher!" -- Am Abend, im Zim-
mer der Großmutter, wo eine eben so verödete und
verfallene Gesellschaft eine Spielparthie machte, er-
innerte ich mich dieser Bemerkung; ich dachte, wie schau-
erlich es sein müsse, da allein zu sein, und wie ich um
alles in der Welt jetzt nicht dort sein möchte. Kaum
hatte ich mir dies überlegt, so war die Frage innerlich,
ob ich's nicht wagen möchte? -- ich schüttelte den Ge-
danken ab, er kam wieder, immer furchtsamer war ich,
immer mehr wehrte ich mich gegen diesen unausführba-
ren Einfall, immer dringender wurde die Aufforderung
dazu. Ich wollte ihr entgehen, und setzte mich in eine
andere Ecke des wohlerleuchteten Zimmers, aber da war's
grade der offnen Thür eines dunklen Raumes gegen-
über, und nun spielten und zingelten Winke in der


Am Weinacht Morgen, — das waren drei Jahre
eh' ich Dich geſehen habe, — gingen wir bei früher
Zeit in die Kirche; es war noch Nacht, eine Laterne
leuchtete voran, um durch den Schnee den Fußpfad zu
finden, wir kamen an einer verödeten, verfallnen Klo-
ſterkirche vorüber, der Wind pfiff durch die zerbrochnen
Fenſter und klapperte mit den loſen Dachziegeln; „in
dieſem Gemäuer hauſen die Geiſter,“ ſagte der Later-
nenträger, „da iſt es unſicher!“ — Am Abend, im Zim-
mer der Großmutter, wo eine eben ſo verödete und
verfallene Geſellſchaft eine Spielparthie machte, er-
innerte ich mich dieſer Bemerkung; ich dachte, wie ſchau-
erlich es ſein müſſe, da allein zu ſein, und wie ich um
alles in der Welt jetzt nicht dort ſein möchte. Kaum
hatte ich mir dies überlegt, ſo war die Frage innerlich,
ob ich's nicht wagen möchte? — ich ſchüttelte den Ge-
danken ab, er kam wieder, immer furchtſamer war ich,
immer mehr wehrte ich mich gegen dieſen unausführba-
ren Einfall, immer dringender wurde die Aufforderung
dazu. Ich wollte ihr entgehen, und ſetzte mich in eine
andere Ecke des wohlerleuchteten Zimmers, aber da war's
grade der offnen Thür eines dunklen Raumes gegen-
über, und nun ſpielten und zingelten Winke in der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0120" n="110"/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <p>Am Weinacht Morgen, &#x2014; das waren drei Jahre<lb/>
eh' ich Dich ge&#x017F;ehen habe, &#x2014; gingen wir bei früher<lb/>
Zeit in die Kirche; es war noch Nacht, eine Laterne<lb/>
leuchtete voran, um durch den Schnee den Fußpfad zu<lb/>
finden, wir kamen an einer verödeten, verfallnen Klo-<lb/>
&#x017F;terkirche vorüber, der Wind pfiff durch die zerbrochnen<lb/>
Fen&#x017F;ter und klapperte mit den lo&#x017F;en Dachziegeln; &#x201E;in<lb/>
die&#x017F;em Gemäuer hau&#x017F;en die Gei&#x017F;ter,&#x201C; &#x017F;agte der Later-<lb/>
nenträger, &#x201E;da i&#x017F;t es un&#x017F;icher!&#x201C; &#x2014; Am Abend, im Zim-<lb/>
mer der Großmutter, wo eine eben &#x017F;o <hi rendition="#g">verödete</hi> und<lb/><hi rendition="#g">verfallene</hi> Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft eine Spielparthie machte, er-<lb/>
innerte ich mich die&#x017F;er Bemerkung; ich dachte, wie &#x017F;chau-<lb/>
erlich es &#x017F;ein mü&#x017F;&#x017F;e, da allein zu &#x017F;ein, und wie ich um<lb/>
alles in der Welt jetzt nicht dort &#x017F;ein möchte. Kaum<lb/>
hatte ich mir dies überlegt, &#x017F;o war die Frage innerlich,<lb/>
ob ich's nicht wagen möchte? &#x2014; ich &#x017F;chüttelte den Ge-<lb/>
danken ab, er kam wieder, immer furcht&#x017F;amer war ich,<lb/>
immer mehr wehrte ich mich gegen die&#x017F;en unausführba-<lb/>
ren Einfall, immer dringender wurde die Aufforderung<lb/>
dazu. Ich wollte ihr entgehen, und &#x017F;etzte mich in eine<lb/>
andere Ecke des wohlerleuchteten Zimmers, aber da war's<lb/>
grade der offnen Thür eines dunklen Raumes gegen-<lb/>
über, und nun &#x017F;pielten und zingelten Winke in der<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[110/0120] Am Weinacht Morgen, — das waren drei Jahre eh' ich Dich geſehen habe, — gingen wir bei früher Zeit in die Kirche; es war noch Nacht, eine Laterne leuchtete voran, um durch den Schnee den Fußpfad zu finden, wir kamen an einer verödeten, verfallnen Klo- ſterkirche vorüber, der Wind pfiff durch die zerbrochnen Fenſter und klapperte mit den loſen Dachziegeln; „in dieſem Gemäuer hauſen die Geiſter,“ ſagte der Later- nenträger, „da iſt es unſicher!“ — Am Abend, im Zim- mer der Großmutter, wo eine eben ſo verödete und verfallene Geſellſchaft eine Spielparthie machte, er- innerte ich mich dieſer Bemerkung; ich dachte, wie ſchau- erlich es ſein müſſe, da allein zu ſein, und wie ich um alles in der Welt jetzt nicht dort ſein möchte. Kaum hatte ich mir dies überlegt, ſo war die Frage innerlich, ob ich's nicht wagen möchte? — ich ſchüttelte den Ge- danken ab, er kam wieder, immer furchtſamer war ich, immer mehr wehrte ich mich gegen dieſen unausführba- ren Einfall, immer dringender wurde die Aufforderung dazu. Ich wollte ihr entgehen, und ſetzte mich in eine andere Ecke des wohlerleuchteten Zimmers, aber da war's grade der offnen Thür eines dunklen Raumes gegen- über, und nun ſpielten und zingelten Winke in der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe03_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe03_1835/120
Zitationshilfe: [Arnim, Bettina von]: Tagebuch. Berlin, 1835, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe03_1835/120>, abgerufen am 27.11.2024.