Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Arnim, Bettina von]: Tagebuch. Berlin, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Erde verborgenen Keim nichts fremder sein als das
Licht, und doch ist es seine einzige Richtung; der Ge-
nius des Lebens treibt aus ihm hervor, um sich mit dem
Licht zu vermählen. --

Dieses Anschmiegen an eine Geisterwelt, dies Ver-
trauen auf die geheime Stimme, die mich so seltsame
Wege leitete, die mir nur leise Winke gab, -- was
war es anders als ein unwillkührliches Folgen dem
Geist, der mich reizte, wie das Licht das Leben!


Meine verödete Kirche stand diesseits an der Höhe
einer Mauer, die tief hinabging, einen Bleichplatz um-
schloß, der jenseits vom Mainfluß begrenzt war. Wäh-
rend mir vor der Höhe dieser Mauer schwindelte und
ich furchtsam ausweichen wollte, hatte ich mich unwill-
kührlich hinübergeschwungen, und so fand ich im nächt-
lichen Dunkel kleine Spalten in der Mauer, in die
ich Hände und Füße einklemmte, und hervorragende
Steine, auf denen ich mir hinabhalf; ohne zu bedenken,
ob und wie ich wieder hinaufkommen werde, hatte ich
den Boden erreicht; eine Wanne, die wohl im Sommer
zum Bleichen gedient hatte, und im Herbst war ver-

Tagebuch. 6

Erde verborgenen Keim nichts fremder ſein als das
Licht, und doch iſt es ſeine einzige Richtung; der Ge-
nius des Lebens treibt aus ihm hervor, um ſich mit dem
Licht zu vermählen. —

Dieſes Anſchmiegen an eine Geiſterwelt, dies Ver-
trauen auf die geheime Stimme, die mich ſo ſeltſame
Wege leitete, die mir nur leiſe Winke gab, — was
war es anders als ein unwillkührliches Folgen dem
Geiſt, der mich reizte, wie das Licht das Leben!


Meine verödete Kirche ſtand dieſſeits an der Höhe
einer Mauer, die tief hinabging, einen Bleichplatz um-
ſchloß, der jenſeits vom Mainfluß begrenzt war. Wäh-
rend mir vor der Höhe dieſer Mauer ſchwindelte und
ich furchtſam ausweichen wollte, hatte ich mich unwill-
kührlich hinübergeſchwungen, und ſo fand ich im nächt-
lichen Dunkel kleine Spalten in der Mauer, in die
ich Hände und Füße einklemmte, und hervorragende
Steine, auf denen ich mir hinabhalf; ohne zu bedenken,
ob und wie ich wieder hinaufkommen werde, hatte ich
den Boden erreicht; eine Wanne, die wohl im Sommer
zum Bleichen gedient hatte, und im Herbſt war ver-

Tagebuch. 6
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0131" n="121"/>
Erde verborgenen Keim nichts fremder &#x017F;ein als das<lb/>
Licht, und doch i&#x017F;t es &#x017F;eine einzige Richtung; der Ge-<lb/>
nius des Lebens treibt aus ihm hervor, um &#x017F;ich mit dem<lb/>
Licht zu vermählen. &#x2014;</p><lb/>
          <p>Die&#x017F;es An&#x017F;chmiegen an eine Gei&#x017F;terwelt, dies Ver-<lb/>
trauen auf die geheime Stimme, die mich &#x017F;o &#x017F;elt&#x017F;ame<lb/>
Wege leitete, die mir nur lei&#x017F;e Winke gab, &#x2014; was<lb/>
war es anders als ein unwillkührliches Folgen dem<lb/>
Gei&#x017F;t, der mich reizte, wie das Licht das Leben!</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <p>Meine verödete Kirche &#x017F;tand die&#x017F;&#x017F;eits an der Höhe<lb/>
einer Mauer, die tief hinabging, einen Bleichplatz um-<lb/>
&#x017F;chloß, der jen&#x017F;eits vom Mainfluß begrenzt war. Wäh-<lb/>
rend mir vor der Höhe die&#x017F;er Mauer &#x017F;chwindelte und<lb/>
ich furcht&#x017F;am ausweichen wollte, hatte ich mich unwill-<lb/>
kührlich hinüberge&#x017F;chwungen, und &#x017F;o fand ich im nächt-<lb/>
lichen Dunkel kleine Spalten in der Mauer, in die<lb/>
ich Hände und Füße einklemmte, und hervorragende<lb/>
Steine, auf denen ich mir hinabhalf; ohne zu bedenken,<lb/>
ob und wie ich wieder hinaufkommen werde, hatte ich<lb/>
den Boden erreicht; eine Wanne, die wohl im Sommer<lb/>
zum Bleichen gedient hatte, und im Herb&#x017F;t war ver-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Tagebuch. 6</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[121/0131] Erde verborgenen Keim nichts fremder ſein als das Licht, und doch iſt es ſeine einzige Richtung; der Ge- nius des Lebens treibt aus ihm hervor, um ſich mit dem Licht zu vermählen. — Dieſes Anſchmiegen an eine Geiſterwelt, dies Ver- trauen auf die geheime Stimme, die mich ſo ſeltſame Wege leitete, die mir nur leiſe Winke gab, — was war es anders als ein unwillkührliches Folgen dem Geiſt, der mich reizte, wie das Licht das Leben! Meine verödete Kirche ſtand dieſſeits an der Höhe einer Mauer, die tief hinabging, einen Bleichplatz um- ſchloß, der jenſeits vom Mainfluß begrenzt war. Wäh- rend mir vor der Höhe dieſer Mauer ſchwindelte und ich furchtſam ausweichen wollte, hatte ich mich unwill- kührlich hinübergeſchwungen, und ſo fand ich im nächt- lichen Dunkel kleine Spalten in der Mauer, in die ich Hände und Füße einklemmte, und hervorragende Steine, auf denen ich mir hinabhalf; ohne zu bedenken, ob und wie ich wieder hinaufkommen werde, hatte ich den Boden erreicht; eine Wanne, die wohl im Sommer zum Bleichen gedient hatte, und im Herbſt war ver- Tagebuch. 6

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe03_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe03_1835/131
Zitationshilfe: [Arnim, Bettina von]: Tagebuch. Berlin, 1835, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe03_1835/131>, abgerufen am 10.05.2024.