Soll ich Dich denn noch weiter mitnehmen auf meinen St[r]eifzügen, oder ist's genug der eingefallnen Mauern, der Wildniß, die alles überwuchert, des Epheu's, der aus dem kalten Boden hervorsprießt, unermüdlich hinaufklettert an der öden Mauer, bis er die Sonne erblickt, und dann gleich wieder hinabsteigt, mit weit reichenden Ranken nach der feuchten, düsteren Tiefe ver- langt. Gestern war der Himmel blau, heute rubinfarb und smaragden, und dort im Westen, wo er die Erde deckt, jagt er das Licht im Safrangewand vor sich her aus der Schlafstätte. Einen Augenblick kann sich die sehnende Liebe ergötzen daran, daß die ganze Natur schlummernd saugt; ja ich fühl's: wenn die Nacht ein- bricht, daß jedes Wurzelchen trinkt, in jedem liegt Be- gierde, Sehnsucht nach Nahrung, und diese Anziehungs- kraft zwingt die Erde, die ihre Nahrung nicht versagt, jedem lebenden Keim; und so liegt in jedem Blumen- haupt schwärmende Begeistrung, die aus dem Licht der Sterne Träume herabzieht, die es umweben; geh über einen Wiesenteppich in stiller sternenflimmernder Nacht, da wirst Du, wenn Du Dich herabbeugst zur Flur, die Millionen Traumbilder gewahr werden, die da wim- meln, wo eins oft vom andern Eigenheiten, Farben und Stimmungen entlehnt; da wirst Du es fühlen, daß
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Soll ich Dich denn noch weiter mitnehmen auf meinen St[r]eifzügen, oder iſt's genug der eingefallnen Mauern, der Wildniß, die alles überwuchert, des Epheu's, der aus dem kalten Boden hervorſprießt, unermüdlich hinaufklettert an der öden Mauer, bis er die Sonne erblickt, und dann gleich wieder hinabſteigt, mit weit reichenden Ranken nach der feuchten, düſteren Tiefe ver- langt. Geſtern war der Himmel blau, heute rubinfarb und ſmaragden, und dort im Weſten, wo er die Erde deckt, jagt er das Licht im Safrangewand vor ſich her aus der Schlafſtätte. Einen Augenblick kann ſich die ſehnende Liebe ergötzen daran, daß die ganze Natur ſchlummernd ſaugt; ja ich fühl's: wenn die Nacht ein- bricht, daß jedes Wurzelchen trinkt, in jedem liegt Be- gierde, Sehnſucht nach Nahrung, und dieſe Anziehungs- kraft zwingt die Erde, die ihre Nahrung nicht verſagt, jedem lebenden Keim; und ſo liegt in jedem Blumen- haupt ſchwärmende Begeiſtrung, die aus dem Licht der Sterne Träume herabzieht, die es umweben; geh über einen Wieſenteppich in ſtiller ſternenflimmernder Nacht, da wirſt Du, wenn Du Dich herabbeugſt zur Flur, die Millionen Traumbilder gewahr werden, die da wim- meln, wo eins oft vom andern Eigenheiten, Farben und Stimmungen entlehnt; da wirſt Du es fühlen, daß
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Soll ich Dich denn noch weiter mitnehmen auf
meinen Streifzügen, oder iſt's genug der eingefallnen
Mauern, der Wildniß, die alles überwuchert, des Epheu's,
der aus dem kalten Boden hervorſprießt, unermüdlich
hinaufklettert an der öden Mauer, bis er die Sonne
erblickt, und dann gleich wieder hinabſteigt, mit weit
reichenden Ranken nach der feuchten, düſteren Tiefe ver-
langt. Geſtern war der Himmel blau, heute rubinfarb
und ſmaragden, und dort im Weſten, wo er die Erde
deckt, jagt er das Licht im Safrangewand vor ſich her
aus der Schlafſtätte. Einen Augenblick kann ſich die
ſehnende Liebe ergötzen daran, daß die ganze Natur
ſchlummernd ſaugt; ja ich fühl's: wenn die Nacht ein-
bricht, daß jedes Wurzelchen trinkt, in jedem liegt Be-
gierde, Sehnſucht nach Nahrung, und dieſe Anziehungs-
kraft zwingt die Erde, die ihre Nahrung nicht verſagt,
jedem lebenden Keim; und ſo liegt in jedem Blumen-
haupt ſchwärmende Begeiſtrung, die aus dem Licht der
Sterne Träume herabzieht, die es umweben; geh über
einen Wieſenteppich in ſtiller ſternenflimmernder Nacht,
da wirſt Du, wenn Du Dich herabbeugſt zur Flur, die
Millionen Traumbilder gewahr werden, die da wim-
meln, wo eins oft vom andern Eigenheiten, Farben
und Stimmungen entlehnt; da wirſt Du es fühlen, daß
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[Arnim, Bettina von]: Tagebuch. Berlin, 1835, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe03_1835/181>, abgerufen am 24.11.2024.
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