Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Arnim, Bettina von]: Tagebuch. Berlin, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

In den hängenden Gärten der Semiramis bin ich
erzogen, ich glattes braunes feingegliedertes Rehchen,
zahm und freundlich zu jedem Liebkosenden, aber un-
bändig in eigenthümlichen Neigungen. Wer konnte mich
vom glühenden Fels losreißen in der Mittagssonne? --
wer hätte mich gehemmt die steilsten Höhen zu erklet-
tern und die Gipfel der Bäume? wer hätte mich aus
träumender Vergessenheit geweckt mitten unter den Leben-
den, oder meine begeisterten Nachtwanderungen gestört,
auf nebelerfülltem Pfad! -- Sie ließen mich gewähren die
Parzen und Musen und Grazien, die da alle eingeklemmt
waren im engen Thal, das vom Geklapper der Müh-
len dreifaches Echo in den umgrenzenden Wald rief,
vom Goldsandfluß durchschnitten, dessen Ufer jenseits
eine Bande Zigeuner in Pacht hatte, die Nachts im
Wald lagerten und am Tag das Gold fischten, diesseits
aber durch die Bleicher benutzt war und durch die wie-
hernde Pferde und Esel die zu den Mühlen gehörten.
Da waren die Sommernächte mit Gesang der einsamen
Wächter und Nachtigallen durchtönt, und der Morgen
mit Geschrei der Gänse und Esel begonnen; da machte
die Nüchternheit des Tags einen rechten Abschnitt von
dem Hymnus der Nacht.


In den hängenden Gärten der Semiramis bin ich
erzogen, ich glattes braunes feingegliedertes Rehchen,
zahm und freundlich zu jedem Liebkoſenden, aber un-
bändig in eigenthümlichen Neigungen. Wer konnte mich
vom glühenden Fels losreißen in der Mittagsſonne? —
wer hätte mich gehemmt die ſteilſten Höhen zu erklet-
tern und die Gipfel der Bäume? wer hätte mich aus
träumender Vergeſſenheit geweckt mitten unter den Leben-
den, oder meine begeiſterten Nachtwanderungen geſtört,
auf nebelerfülltem Pfad! — Sie ließen mich gewähren die
Parzen und Muſen und Grazien, die da alle eingeklemmt
waren im engen Thal, das vom Geklapper der Müh-
len dreifaches Echo in den umgrenzenden Wald rief,
vom Goldſandfluß durchſchnitten, deſſen Ufer jenſeits
eine Bande Zigeuner in Pacht hatte, die Nachts im
Wald lagerten und am Tag das Gold fiſchten, dieſſeits
aber durch die Bleicher benutzt war und durch die wie-
hernde Pferde und Eſel die zu den Mühlen gehörten.
Da waren die Sommernächte mit Geſang der einſamen
Wächter und Nachtigallen durchtönt, und der Morgen
mit Geſchrei der Gänſe und Eſel begonnen; da machte
die Nüchternheit des Tags einen rechten Abſchnitt von
dem Hymnus der Nacht.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0053" n="43"/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <p>In den hängenden Gärten der Semiramis bin ich<lb/>
erzogen, ich glattes braunes feingegliedertes Rehchen,<lb/>
zahm und freundlich zu jedem Liebko&#x017F;enden, aber un-<lb/>
bändig in eigenthümlichen Neigungen. Wer konnte mich<lb/>
vom glühenden Fels losreißen in der Mittags&#x017F;onne? &#x2014;<lb/>
wer hätte mich gehemmt die &#x017F;teil&#x017F;ten Höhen zu erklet-<lb/>
tern und die Gipfel der Bäume? wer hätte mich aus<lb/>
träumender Verge&#x017F;&#x017F;enheit geweckt mitten unter den Leben-<lb/>
den, oder meine begei&#x017F;terten Nachtwanderungen ge&#x017F;tört,<lb/>
auf nebelerfülltem Pfad! &#x2014; Sie ließen mich gewähren die<lb/>
Parzen und Mu&#x017F;en und Grazien, die da alle eingeklemmt<lb/>
waren im engen Thal, das vom Geklapper der Müh-<lb/>
len dreifaches Echo in den umgrenzenden Wald rief,<lb/>
vom Gold&#x017F;andfluß durch&#x017F;chnitten, de&#x017F;&#x017F;en Ufer jen&#x017F;eits<lb/>
eine Bande Zigeuner in Pacht hatte, die Nachts im<lb/>
Wald lagerten und am Tag das Gold fi&#x017F;chten, die&#x017F;&#x017F;eits<lb/>
aber durch die Bleicher benutzt war und durch die wie-<lb/>
hernde Pferde und E&#x017F;el die zu den Mühlen gehörten.<lb/>
Da waren die Sommernächte mit Ge&#x017F;ang der ein&#x017F;amen<lb/>
Wächter und Nachtigallen durchtönt, und der Morgen<lb/>
mit Ge&#x017F;chrei der Gän&#x017F;e und E&#x017F;el begonnen; da machte<lb/>
die Nüchternheit des Tags einen rechten Ab&#x017F;chnitt von<lb/>
dem Hymnus der Nacht.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[43/0053] In den hängenden Gärten der Semiramis bin ich erzogen, ich glattes braunes feingegliedertes Rehchen, zahm und freundlich zu jedem Liebkoſenden, aber un- bändig in eigenthümlichen Neigungen. Wer konnte mich vom glühenden Fels losreißen in der Mittagsſonne? — wer hätte mich gehemmt die ſteilſten Höhen zu erklet- tern und die Gipfel der Bäume? wer hätte mich aus träumender Vergeſſenheit geweckt mitten unter den Leben- den, oder meine begeiſterten Nachtwanderungen geſtört, auf nebelerfülltem Pfad! — Sie ließen mich gewähren die Parzen und Muſen und Grazien, die da alle eingeklemmt waren im engen Thal, das vom Geklapper der Müh- len dreifaches Echo in den umgrenzenden Wald rief, vom Goldſandfluß durchſchnitten, deſſen Ufer jenſeits eine Bande Zigeuner in Pacht hatte, die Nachts im Wald lagerten und am Tag das Gold fiſchten, dieſſeits aber durch die Bleicher benutzt war und durch die wie- hernde Pferde und Eſel die zu den Mühlen gehörten. Da waren die Sommernächte mit Geſang der einſamen Wächter und Nachtigallen durchtönt, und der Morgen mit Geſchrei der Gänſe und Eſel begonnen; da machte die Nüchternheit des Tags einen rechten Abſchnitt von dem Hymnus der Nacht.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe03_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe03_1835/53
Zitationshilfe: [Arnim, Bettina von]: Tagebuch. Berlin, 1835, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe03_1835/53>, abgerufen am 13.05.2024.