In den hängenden Gärten der Semiramis bin ich erzogen, ich glattes braunes feingegliedertes Rehchen, zahm und freundlich zu jedem Liebkosenden, aber un- bändig in eigenthümlichen Neigungen. Wer konnte mich vom glühenden Fels losreißen in der Mittagssonne? -- wer hätte mich gehemmt die steilsten Höhen zu erklet- tern und die Gipfel der Bäume? wer hätte mich aus träumender Vergessenheit geweckt mitten unter den Leben- den, oder meine begeisterten Nachtwanderungen gestört, auf nebelerfülltem Pfad! -- Sie ließen mich gewähren die Parzen und Musen und Grazien, die da alle eingeklemmt waren im engen Thal, das vom Geklapper der Müh- len dreifaches Echo in den umgrenzenden Wald rief, vom Goldsandfluß durchschnitten, dessen Ufer jenseits eine Bande Zigeuner in Pacht hatte, die Nachts im Wald lagerten und am Tag das Gold fischten, diesseits aber durch die Bleicher benutzt war und durch die wie- hernde Pferde und Esel die zu den Mühlen gehörten. Da waren die Sommernächte mit Gesang der einsamen Wächter und Nachtigallen durchtönt, und der Morgen mit Geschrei der Gänse und Esel begonnen; da machte die Nüchternheit des Tags einen rechten Abschnitt von dem Hymnus der Nacht.
In den hängenden Gärten der Semiramis bin ich erzogen, ich glattes braunes feingegliedertes Rehchen, zahm und freundlich zu jedem Liebkoſenden, aber un- bändig in eigenthümlichen Neigungen. Wer konnte mich vom glühenden Fels losreißen in der Mittagsſonne? — wer hätte mich gehemmt die ſteilſten Höhen zu erklet- tern und die Gipfel der Bäume? wer hätte mich aus träumender Vergeſſenheit geweckt mitten unter den Leben- den, oder meine begeiſterten Nachtwanderungen geſtört, auf nebelerfülltem Pfad! — Sie ließen mich gewähren die Parzen und Muſen und Grazien, die da alle eingeklemmt waren im engen Thal, das vom Geklapper der Müh- len dreifaches Echo in den umgrenzenden Wald rief, vom Goldſandfluß durchſchnitten, deſſen Ufer jenſeits eine Bande Zigeuner in Pacht hatte, die Nachts im Wald lagerten und am Tag das Gold fiſchten, dieſſeits aber durch die Bleicher benutzt war und durch die wie- hernde Pferde und Eſel die zu den Mühlen gehörten. Da waren die Sommernächte mit Geſang der einſamen Wächter und Nachtigallen durchtönt, und der Morgen mit Geſchrei der Gänſe und Eſel begonnen; da machte die Nüchternheit des Tags einen rechten Abſchnitt von dem Hymnus der Nacht.
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In den hängenden Gärten der Semiramis bin ich
erzogen, ich glattes braunes feingegliedertes Rehchen,
zahm und freundlich zu jedem Liebkoſenden, aber un-
bändig in eigenthümlichen Neigungen. Wer konnte mich
vom glühenden Fels losreißen in der Mittagsſonne? —
wer hätte mich gehemmt die ſteilſten Höhen zu erklet-
tern und die Gipfel der Bäume? wer hätte mich aus
träumender Vergeſſenheit geweckt mitten unter den Leben-
den, oder meine begeiſterten Nachtwanderungen geſtört,
auf nebelerfülltem Pfad! — Sie ließen mich gewähren die
Parzen und Muſen und Grazien, die da alle eingeklemmt
waren im engen Thal, das vom Geklapper der Müh-
len dreifaches Echo in den umgrenzenden Wald rief,
vom Goldſandfluß durchſchnitten, deſſen Ufer jenſeits
eine Bande Zigeuner in Pacht hatte, die Nachts im
Wald lagerten und am Tag das Gold fiſchten, dieſſeits
aber durch die Bleicher benutzt war und durch die wie-
hernde Pferde und Eſel die zu den Mühlen gehörten.
Da waren die Sommernächte mit Geſang der einſamen
Wächter und Nachtigallen durchtönt, und der Morgen
mit Geſchrei der Gänſe und Eſel begonnen; da machte
die Nüchternheit des Tags einen rechten Abſchnitt von
dem Hymnus der Nacht.
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[Arnim, Bettina von]: Tagebuch. Berlin, 1835, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe03_1835/53>, abgerufen am 21.11.2024.
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