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Allgemeine Zeitung. Nr. 16. Augsburg, 16. Januar 1840.

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sey weniger die Schuld eines Ministeriums, als vielmehr das Resultat jener schwachen und furchtsamen Politik, die man seit 1830 befolgt habe. Hr. v. Lamartine folgte. Aber die Aufregung, welche die Rede Mauguins in der Kammer verursacht hatte, erlaubte dem Dichter lange nicht, sich Gehör zu verschaffen. Ueberall bildeten sich plaudernde Gruppen, denen der Verfasser der meditations poetiques harrend mit gekreuzten Armen zusah. (Abgang der Post.)

Ein Journal sagt: "Heute (10) lief auf den Bänken der Deputirtenkammer ein Amendementsentwurf zu dem Spanien betreffenden § um. Dieses Amendement würde folgendermaßen lauten: "Die Kammer sieht mit Vergnügen, Sire, den Beistand, welchen die Minister Ew. Maj. der Regierung der Königin Isabelle II geleistet haben; Espartero hat ihre Rathschläge und Maroto ihr Beispiel befolgt." Ein solcher Scherz zeigt mehr als alles Andere den Geist der Kammer und die Gesinnung, welche sie zur Eröffnung der Session mitbringt. Dieses Amendement, das einem der Chefs des linken Centrums zugeschrieben wird, erklärt sich dadurch, daß in einer neulichen Versammlung der Mitglieder dieser Fraction beschlossen wurde, daß man dem Ministerium aufs entschiedenste opponiren solle. Hr. Thiers soll eine Rede bereit halten. Hr. Guizot findet es klüger und gewandter, zu schweigen."

(Univers.) Die Annahme des Cardinals Latour d'Auvergne scheint nicht mehr zweifelhaft. Man versichert, die Regierung habe versprochen, das vormalige Hotel der Großalmosenerie in der Straße Lille als wenigstens provisorisch zum Palaste des Erzbischofs dienend herzugeben. Man sagt auch, das Ministerium werde bei den Kammern den Antrag machen, den Gehalt des Erzbischofs von Paris auf 50,000 Fr. zu erhöhen.

General Rulhieres ist mit dem letzten Paketboot von Algier in Toulon angekommen.

In der gestrigen Sitzung suchte Hr. Duvergier de Hauranne im Namen der Doctrinäre den Vermittler zu spielen, während Hr. Odilon-Barrot sich so der Gewalt näherte, daß er fast gänzlich seine Oppositionsrolle abdankte, und sogar das Reformprogramm aufgab. Er gab dadurch Hrn. Villemain gewonnenes Spiel, ihn in Widerspruch mit sich darzustellen; doch da derselbe sich an den Egoismus der Kammer adressirte, um in ihrem Erhaltungsinteresse für immer eine Reform auszuschließen, so ist die Frage, wer einen peinlichern Eindruck im Publicum hervorbrachte, er oder Hr. Barrot. Unsere politische Lage wird dadurch wirklich bedauernswerth. - In der heutigen Sitzung war das Bemerkenswertheste, daß der Marschall Soult im Namen der Regierung alle Erläuterungen über die orientalische Frage verweigerte, und ein Publicist der Debats, Hr. v. Carne, gegen die englische Allianz sprach, und darin dem Legitimisten Hrn. v. Valmy begegnete, wiewohl Hr. v. Carne auch keine andere Allianz für Frankreich will, sondern verlangt, es solle isolirt bleiben. Nach ihm sprach Hr. Mauguin. Man erwartet, daß Hr. Thiers endlich in dieser Frage das Wort nehmen werde, wenn nicht schon heute, doch bestimmt in der nächsten Sitzung.

Die Debatte über die Adresse ist von geringem Interesse, und fast Niemand hat den Zweck das Ministerium durch sie zu stürzen, weil es keiner Debatte braucht, um es zu modificiren, sobald sich ein Cabinet in der Kammer findet, das eine Majorität verspricht. Der Krieg wird daher nicht auf der Scene, sondern hinter den Coulissen, im Sprechsaal, in den Salons und in den Zeitungen geführt. Guizot und Thiers sind jeder seinerseits beschäftigt eine Majorität zu bilden. Thiers hatte schon vor vierzehn Tagen versucht sich Mole zu nähern, aber es zerschlug sich; seit einigen Tagen haben die Unterhandlungen wieder angefangen und sollen schon weit gediehen seyn. Thiers begnügt sich aber damit nicht, sondern macht von Berryer bis zu Odilon-Barrot allen Fractionen der Kammer Vorschläge, und die Journale der verschiedensten Parteien enthalten Artikel, welche direct oder indirect darauf berechnet sind.

Die über die Adresse in der Deputirtenkammer seit zwei Tagen ausgebrochenen Debatten schreien eine wahrhafte Misere aus: Alles macht bankrott, und Jeder legt seine Bilanz nieder vor den Augen des Publicums. Das Journal des Debats gibt zu verstehen, daß es nicht möglich sey, mattere politische Gedanken zu bewähren. Die Anhänger des rein monarchisch gesinnten Ministeriums der neuen Dynastie belustigen sich mit unnützen Recriminationen gegen das Flickministerium des Moments, worüber die zwei Schwäger fast aneinander gerathen wären - Villemain und Desmousseaux de Givre. Die Doctrinärs gehen mit dem Ministerium glimpflicher um, weil die HH. Duvergier de Hauranne und Remusat erwarten, man werde dem Hrn. Guizot oder dem Herzog von Broglie über kurz oder lang die Thüren öffnen. Die Opposition endlich, Odilon-Barrot bejammert, daß nicht der gesammte Thiers-Parti an das Staatsruder gekommen. Garnier Pages möchte Zisch! Zisch! rufen, um die alten und neuen Ministeriellen aneinander zu hetzen, aber sein Zisch! ist ohne alle politische Bedeutung. Während sich diese Herren unter einander complimentiren, über den großen Punkt einer parlamentaren Regierung, den sie gewonnen haben, dürfte eine allerhöchste Person in Gedanken den Kopf dabei schütteln und lächeln, als ob sie sagen wollte: "Macht euch nur weiß untereinander, wie ausnehmend parlamentarisch ihr seyd, derweil all eure Redner uns von den Sonnenstäubchen unterhalten, in welche die Parteien atomistisch verflogen sind." Dieses so schnell auf einander folgende Aufjubeln der Geister und dann ihre vollkommene Lähmung nach dem ersten Knall- und Feuereffect sind hier immer wiederkehrende Erscheinungen. - Wir sehen ihren geistigen Anlagen nach drei Classen von Deputirten: 1) mehr oder weniger geistreiche Witzlinge, von denen die einen einen Salonston, die andern einen Voltairischen Anstrich haben; diese werden immer seltener; 2) Begriffszerspalter und Parteienzerleger, philosophisch-historisch-politische Anatomisten und Methodisten; das sind die eigentlichen Doctrinäre; 3) pomphafte Redner, von denen die einen wiederum legitimistische Gefühlserreger sind, die andern phrasenhafte Constituanten. Unter allen drei Classen wird viel Geist, Witz, Scharfsinn, mitunter auch ächte Beredsamkeit gefunden, allen aber fehlt das Leben. Kein mächtiges Wort strömt von ihnen aus, keine gedankenaufregende Anschauung; höchstens, wenn es hoch kommt, Aufwallungen, meistens Effecte. Es sind eben zu lesende Sachen, die nichts oder fast nichts vom lebendigen Wort an sich haben, denn es fehlt ihnen die unmittelbare Anschauung, die praktische Erfahrung, der durch den Stoß der Wolken zusammenfahrende Donner, der zündende Blitz. Es sind eben Theaterwolken und eine gewaltsame Maschinerie. Das Leben, das hin und wieder herumsprüht, besonders in Thiers, ist ein Wurmleben, ein Coterienleben, welches hinter den politischen Coulissen an- und ausgesponnen wird, schlechte Nomenclatur, unmächtige Arithmetik.

Niederlande.

Der (in der Allg. Zeitung kürzlich näher mitgetheilte) Artikel des Journal des Debats über die niederländischen Angelegenheiten hat natürlich auch bei uns

sey weniger die Schuld eines Ministeriums, als vielmehr das Resultat jener schwachen und furchtsamen Politik, die man seit 1830 befolgt habe. Hr. v. Lamartine folgte. Aber die Aufregung, welche die Rede Mauguins in der Kammer verursacht hatte, erlaubte dem Dichter lange nicht, sich Gehör zu verschaffen. Ueberall bildeten sich plaudernde Gruppen, denen der Verfasser der méditations poétiques harrend mit gekreuzten Armen zusah. (Abgang der Post.)

Ein Journal sagt: „Heute (10) lief auf den Bänken der Deputirtenkammer ein Amendementsentwurf zu dem Spanien betreffenden § um. Dieses Amendement würde folgendermaßen lauten: „Die Kammer sieht mit Vergnügen, Sire, den Beistand, welchen die Minister Ew. Maj. der Regierung der Königin Isabelle II geleistet haben; Espartero hat ihre Rathschläge und Maroto ihr Beispiel befolgt.“ Ein solcher Scherz zeigt mehr als alles Andere den Geist der Kammer und die Gesinnung, welche sie zur Eröffnung der Session mitbringt. Dieses Amendement, das einem der Chefs des linken Centrums zugeschrieben wird, erklärt sich dadurch, daß in einer neulichen Versammlung der Mitglieder dieser Fraction beschlossen wurde, daß man dem Ministerium aufs entschiedenste opponiren solle. Hr. Thiers soll eine Rede bereit halten. Hr. Guizot findet es klüger und gewandter, zu schweigen.“

(Univers.) Die Annahme des Cardinals Latour d'Auvergne scheint nicht mehr zweifelhaft. Man versichert, die Regierung habe versprochen, das vormalige Hotel der Großalmosenerie in der Straße Lille als wenigstens provisorisch zum Palaste des Erzbischofs dienend herzugeben. Man sagt auch, das Ministerium werde bei den Kammern den Antrag machen, den Gehalt des Erzbischofs von Paris auf 50,000 Fr. zu erhöhen.

General Rulhiéres ist mit dem letzten Paketboot von Algier in Toulon angekommen.

In der gestrigen Sitzung suchte Hr. Duvergier de Hauranne im Namen der Doctrinäre den Vermittler zu spielen, während Hr. Odilon-Barrot sich so der Gewalt näherte, daß er fast gänzlich seine Oppositionsrolle abdankte, und sogar das Reformprogramm aufgab. Er gab dadurch Hrn. Villemain gewonnenes Spiel, ihn in Widerspruch mit sich darzustellen; doch da derselbe sich an den Egoismus der Kammer adressirte, um in ihrem Erhaltungsinteresse für immer eine Reform auszuschließen, so ist die Frage, wer einen peinlichern Eindruck im Publicum hervorbrachte, er oder Hr. Barrot. Unsere politische Lage wird dadurch wirklich bedauernswerth. – In der heutigen Sitzung war das Bemerkenswertheste, daß der Marschall Soult im Namen der Regierung alle Erläuterungen über die orientalische Frage verweigerte, und ein Publicist der Débats, Hr. v. Carné, gegen die englische Allianz sprach, und darin dem Legitimisten Hrn. v. Valmy begegnete, wiewohl Hr. v. Carné auch keine andere Allianz für Frankreich will, sondern verlangt, es solle isolirt bleiben. Nach ihm sprach Hr. Mauguin. Man erwartet, daß Hr. Thiers endlich in dieser Frage das Wort nehmen werde, wenn nicht schon heute, doch bestimmt in der nächsten Sitzung.

Die Debatte über die Adresse ist von geringem Interesse, und fast Niemand hat den Zweck das Ministerium durch sie zu stürzen, weil es keiner Debatte braucht, um es zu modificiren, sobald sich ein Cabinet in der Kammer findet, das eine Majorität verspricht. Der Krieg wird daher nicht auf der Scene, sondern hinter den Coulissen, im Sprechsaal, in den Salons und in den Zeitungen geführt. Guizot und Thiers sind jeder seinerseits beschäftigt eine Majorität zu bilden. Thiers hatte schon vor vierzehn Tagen versucht sich Molé zu nähern, aber es zerschlug sich; seit einigen Tagen haben die Unterhandlungen wieder angefangen und sollen schon weit gediehen seyn. Thiers begnügt sich aber damit nicht, sondern macht von Berryer bis zu Odilon-Barrot allen Fractionen der Kammer Vorschläge, und die Journale der verschiedensten Parteien enthalten Artikel, welche direct oder indirect darauf berechnet sind.

Die über die Adresse in der Deputirtenkammer seit zwei Tagen ausgebrochenen Debatten schreien eine wahrhafte Misere aus: Alles macht bankrott, und Jeder legt seine Bilanz nieder vor den Augen des Publicums. Das Journal des Débats gibt zu verstehen, daß es nicht möglich sey, mattere politische Gedanken zu bewähren. Die Anhänger des rein monarchisch gesinnten Ministeriums der neuen Dynastie belustigen sich mit unnützen Recriminationen gegen das Flickministerium des Moments, worüber die zwei Schwäger fast aneinander gerathen wären – Villemain und Desmousseaux de Givré. Die Doctrinärs gehen mit dem Ministerium glimpflicher um, weil die HH. Duvergier de Hauranne und Rémusat erwarten, man werde dem Hrn. Guizot oder dem Herzog von Broglie über kurz oder lang die Thüren öffnen. Die Opposition endlich, Odilon-Barrot bejammert, daß nicht der gesammte Thiers-Parti an das Staatsruder gekommen. Garnier Pagés möchte Zisch! Zisch! rufen, um die alten und neuen Ministeriellen aneinander zu hetzen, aber sein Zisch! ist ohne alle politische Bedeutung. Während sich diese Herren unter einander complimentiren, über den großen Punkt einer parlamentaren Regierung, den sie gewonnen haben, dürfte eine allerhöchste Person in Gedanken den Kopf dabei schütteln und lächeln, als ob sie sagen wollte: „Macht euch nur weiß untereinander, wie ausnehmend parlamentarisch ihr seyd, derweil all eure Redner uns von den Sonnenstäubchen unterhalten, in welche die Parteien atomistisch verflogen sind.“ Dieses so schnell auf einander folgende Aufjubeln der Geister und dann ihre vollkommene Lähmung nach dem ersten Knall- und Feuereffect sind hier immer wiederkehrende Erscheinungen. – Wir sehen ihren geistigen Anlagen nach drei Classen von Deputirten: 1) mehr oder weniger geistreiche Witzlinge, von denen die einen einen Salonston, die andern einen Voltairischen Anstrich haben; diese werden immer seltener; 2) Begriffszerspalter und Parteienzerleger, philosophisch-historisch-politische Anatomisten und Methodisten; das sind die eigentlichen Doctrinäre; 3) pomphafte Redner, von denen die einen wiederum legitimistische Gefühlserreger sind, die andern phrasenhafte Constituanten. Unter allen drei Classen wird viel Geist, Witz, Scharfsinn, mitunter auch ächte Beredsamkeit gefunden, allen aber fehlt das Leben. Kein mächtiges Wort strömt von ihnen aus, keine gedankenaufregende Anschauung; höchstens, wenn es hoch kommt, Aufwallungen, meistens Effecte. Es sind eben zu lesende Sachen, die nichts oder fast nichts vom lebendigen Wort an sich haben, denn es fehlt ihnen die unmittelbare Anschauung, die praktische Erfahrung, der durch den Stoß der Wolken zusammenfahrende Donner, der zündende Blitz. Es sind eben Theaterwolken und eine gewaltsame Maschinerie. Das Leben, das hin und wieder herumsprüht, besonders in Thiers, ist ein Wurmleben, ein Coterienleben, welches hinter den politischen Coulissen an- und ausgesponnen wird, schlechte Nomenclatur, unmächtige Arithmetik.

Niederlande.

Der (in der Allg. Zeitung kürzlich näher mitgetheilte) Artikel des Journal des Débats über die niederländischen Angelegenheiten hat natürlich auch bei uns

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[0124/0004] sey weniger die Schuld eines Ministeriums, als vielmehr das Resultat jener schwachen und furchtsamen Politik, die man seit 1830 befolgt habe. Hr. v. Lamartine folgte. Aber die Aufregung, welche die Rede Mauguins in der Kammer verursacht hatte, erlaubte dem Dichter lange nicht, sich Gehör zu verschaffen. Ueberall bildeten sich plaudernde Gruppen, denen der Verfasser der méditations poétiques harrend mit gekreuzten Armen zusah. (Abgang der Post.) Ein Journal sagt: „Heute (10) lief auf den Bänken der Deputirtenkammer ein Amendementsentwurf zu dem Spanien betreffenden § um. Dieses Amendement würde folgendermaßen lauten: „Die Kammer sieht mit Vergnügen, Sire, den Beistand, welchen die Minister Ew. Maj. der Regierung der Königin Isabelle II geleistet haben; Espartero hat ihre Rathschläge und Maroto ihr Beispiel befolgt.“ Ein solcher Scherz zeigt mehr als alles Andere den Geist der Kammer und die Gesinnung, welche sie zur Eröffnung der Session mitbringt. Dieses Amendement, das einem der Chefs des linken Centrums zugeschrieben wird, erklärt sich dadurch, daß in einer neulichen Versammlung der Mitglieder dieser Fraction beschlossen wurde, daß man dem Ministerium aufs entschiedenste opponiren solle. Hr. Thiers soll eine Rede bereit halten. Hr. Guizot findet es klüger und gewandter, zu schweigen.“ (Univers.) Die Annahme des Cardinals Latour d'Auvergne scheint nicht mehr zweifelhaft. Man versichert, die Regierung habe versprochen, das vormalige Hotel der Großalmosenerie in der Straße Lille als wenigstens provisorisch zum Palaste des Erzbischofs dienend herzugeben. Man sagt auch, das Ministerium werde bei den Kammern den Antrag machen, den Gehalt des Erzbischofs von Paris auf 50,000 Fr. zu erhöhen. General Rulhiéres ist mit dem letzten Paketboot von Algier in Toulon angekommen. _ Paris, 11 Jan. In der gestrigen Sitzung suchte Hr. Duvergier de Hauranne im Namen der Doctrinäre den Vermittler zu spielen, während Hr. Odilon-Barrot sich so der Gewalt näherte, daß er fast gänzlich seine Oppositionsrolle abdankte, und sogar das Reformprogramm aufgab. Er gab dadurch Hrn. Villemain gewonnenes Spiel, ihn in Widerspruch mit sich darzustellen; doch da derselbe sich an den Egoismus der Kammer adressirte, um in ihrem Erhaltungsinteresse für immer eine Reform auszuschließen, so ist die Frage, wer einen peinlichern Eindruck im Publicum hervorbrachte, er oder Hr. Barrot. Unsere politische Lage wird dadurch wirklich bedauernswerth. – In der heutigen Sitzung war das Bemerkenswertheste, daß der Marschall Soult im Namen der Regierung alle Erläuterungen über die orientalische Frage verweigerte, und ein Publicist der Débats, Hr. v. Carné, gegen die englische Allianz sprach, und darin dem Legitimisten Hrn. v. Valmy begegnete, wiewohl Hr. v. Carné auch keine andere Allianz für Frankreich will, sondern verlangt, es solle isolirt bleiben. Nach ihm sprach Hr. Mauguin. Man erwartet, daß Hr. Thiers endlich in dieser Frage das Wort nehmen werde, wenn nicht schon heute, doch bestimmt in der nächsten Sitzung. _ Paris, 11 Jan. Die Debatte über die Adresse ist von geringem Interesse, und fast Niemand hat den Zweck das Ministerium durch sie zu stürzen, weil es keiner Debatte braucht, um es zu modificiren, sobald sich ein Cabinet in der Kammer findet, das eine Majorität verspricht. Der Krieg wird daher nicht auf der Scene, sondern hinter den Coulissen, im Sprechsaal, in den Salons und in den Zeitungen geführt. Guizot und Thiers sind jeder seinerseits beschäftigt eine Majorität zu bilden. Thiers hatte schon vor vierzehn Tagen versucht sich Molé zu nähern, aber es zerschlug sich; seit einigen Tagen haben die Unterhandlungen wieder angefangen und sollen schon weit gediehen seyn. Thiers begnügt sich aber damit nicht, sondern macht von Berryer bis zu Odilon-Barrot allen Fractionen der Kammer Vorschläge, und die Journale der verschiedensten Parteien enthalten Artikel, welche direct oder indirect darauf berechnet sind. _ Paris, 10 Jan. Die über die Adresse in der Deputirtenkammer seit zwei Tagen ausgebrochenen Debatten schreien eine wahrhafte Misere aus: Alles macht bankrott, und Jeder legt seine Bilanz nieder vor den Augen des Publicums. Das Journal des Débats gibt zu verstehen, daß es nicht möglich sey, mattere politische Gedanken zu bewähren. Die Anhänger des rein monarchisch gesinnten Ministeriums der neuen Dynastie belustigen sich mit unnützen Recriminationen gegen das Flickministerium des Moments, worüber die zwei Schwäger fast aneinander gerathen wären – Villemain und Desmousseaux de Givré. Die Doctrinärs gehen mit dem Ministerium glimpflicher um, weil die HH. Duvergier de Hauranne und Rémusat erwarten, man werde dem Hrn. Guizot oder dem Herzog von Broglie über kurz oder lang die Thüren öffnen. Die Opposition endlich, Odilon-Barrot bejammert, daß nicht der gesammte Thiers-Parti an das Staatsruder gekommen. Garnier Pagés möchte Zisch! Zisch! rufen, um die alten und neuen Ministeriellen aneinander zu hetzen, aber sein Zisch! ist ohne alle politische Bedeutung. Während sich diese Herren unter einander complimentiren, über den großen Punkt einer parlamentaren Regierung, den sie gewonnen haben, dürfte eine allerhöchste Person in Gedanken den Kopf dabei schütteln und lächeln, als ob sie sagen wollte: „Macht euch nur weiß untereinander, wie ausnehmend parlamentarisch ihr seyd, derweil all eure Redner uns von den Sonnenstäubchen unterhalten, in welche die Parteien atomistisch verflogen sind.“ Dieses so schnell auf einander folgende Aufjubeln der Geister und dann ihre vollkommene Lähmung nach dem ersten Knall- und Feuereffect sind hier immer wiederkehrende Erscheinungen. – Wir sehen ihren geistigen Anlagen nach drei Classen von Deputirten: 1) mehr oder weniger geistreiche Witzlinge, von denen die einen einen Salonston, die andern einen Voltairischen Anstrich haben; diese werden immer seltener; 2) Begriffszerspalter und Parteienzerleger, philosophisch-historisch-politische Anatomisten und Methodisten; das sind die eigentlichen Doctrinäre; 3) pomphafte Redner, von denen die einen wiederum legitimistische Gefühlserreger sind, die andern phrasenhafte Constituanten. Unter allen drei Classen wird viel Geist, Witz, Scharfsinn, mitunter auch ächte Beredsamkeit gefunden, allen aber fehlt das Leben. Kein mächtiges Wort strömt von ihnen aus, keine gedankenaufregende Anschauung; höchstens, wenn es hoch kommt, Aufwallungen, meistens Effecte. Es sind eben zu lesende Sachen, die nichts oder fast nichts vom lebendigen Wort an sich haben, denn es fehlt ihnen die unmittelbare Anschauung, die praktische Erfahrung, der durch den Stoß der Wolken zusammenfahrende Donner, der zündende Blitz. Es sind eben Theaterwolken und eine gewaltsame Maschinerie. Das Leben, das hin und wieder herumsprüht, besonders in Thiers, ist ein Wurmleben, ein Coterienleben, welches hinter den politischen Coulissen an- und ausgesponnen wird, schlechte Nomenclatur, unmächtige Arithmetik. Niederlande. Aus dem Haag, 4 Jan. Der (in der Allg. Zeitung kürzlich näher mitgetheilte) Artikel des Journal des Débats über die niederländischen Angelegenheiten hat natürlich auch bei uns

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

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Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-28T11:37:15Z)

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Bogensignaturen: gekennzeichnet; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: Lautwert transkribiert; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: gekennzeichnet; Kustoden: gekennzeichnet; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: Lautwert transkribiert; Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert; Vollständigkeit: teilweise erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 16. Augsburg, 16. Januar 1840, S. 0124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_016_18400116/4>, abgerufen am 21.11.2024.