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Allgemeine Zeitung. Nr. 18. Augsburg, 18. Januar 1840.

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er den Tag zuvor die Befehle des Herzogs von Orleans eingeholt hatte.

Jetzt ist's an den Orient gegangen; aber Carne, Lamartine, Mauguin, keiner hat eine lebendige Anschauung von den Dingen, von welchen sie geredet. Lamartine hat wenigstens seine Einbildungskraft; aber seine Politik ist grundfalsch. Er will, daß man sich über die Theilung des ottomanischen Reichs einverstehen solle. Als Augenzeuge hat er das Unding mit eigenen Augen angesehen, und weiß recht gut, daß der Sultan Mahmud kein Peter der Große war, um, der Analogie Rußlands folgend, eine Türkei nach europäischem Uniformszuschnitt, nach administrativem und militärischem Mechanismus umzuschaffen; er glaubt eben so wenig daran, daß Abdul Medschid ein constitutioneller Monarch des modernen Europa sey oder werde, und daß er den Türken liberale Principien einflößen könne; er weiß, daß die Pforte lebt in der Furcht Rußlands, von den Interessen Oesterreichs und Englands und dem Veto der Franzosen, nicht auf eigene Faust; er weiß, daß die Türken keine Nation sind, sondern eine durchs religiöse Gebiß des Mohammedanismus gezähmte Kriegshorde, ohne eigenen Geist und schon seit lange abgestumpft und abgespannt; das Alles weiß er, darum will er das ottomanische Wildprett auf der Fürstentafel Europa's als einen Leckerbissen serviren, Konstantinopel für Rußland, Aegypten für England, weil Rußland der europäischen Türkei bedarf, wie England des Nilthals und des Isthmus von Suez; Oesterreich erhielte als Speisestück etwa Serbien; Griechenland würde auch arrondirt, Frankreich mit Cypern und Syrien ausgestattet; oder würde das ottomanische Reich allen europäischen Aventuriers angewiesen, wie weiland Amerika, zur Gründung von Handelscolonien, unter der Garantie aller europäischen Mächte brach erklärt als ein Gemeingut der europäischen Gesammtheit, eine zu improvisirende Schweiz und dergleichen. Dieß Alles ist weder reif noch durchdacht, sondern mit starken Phantasmen durchmischt, auch war es Hrn. Villemain nicht schwer, diese Wolken zu zerstreuen. Hr. v. Carne spricht immer von arabischen und türkischen Nationalitäten, wie man von französischen und englischen spricht; er hat keine Ahnung von dem Geiste der Mohammedaner, welcher nur ein Gemeingeist religiöser Secten ist, und sich in allen andern Dingen ohne ächten Staatsverband in individuelle Interessen der Familien und Stämme zerspaltet. Hr. Mauguin endlich spricht wie ohne tiefe Kenntniß, so ohne tiefe Ueberzeugung, aus einem bonapartisirenden Geiste heraus, der die Welt mit dem politischen Besen durchkehrt zur Freude Aller, welche eine Siebenmeilenstiefel-Politik bewundern. Wenn man Talente hat wie Mauguin, so sollte man die Dinge tüchtiger studiren, als aus den Zeitungen, denn seine Kunde der Dinge ist nichts als eine rasch aus öffentlichen Blättern zusammengelesene, ohne Eindringen in die Verhältnisse. Thiers, der am Montag an die Reihe des politischen Geplauders kommt, hat mehr Sinn für auswärtige Politik als die genannten, aber er denkt nichts planmäßig durch, und überläsit sich einer glänzenden Leichtfertigkeit. Vielleicht hat er über Nacht einen Goldapfel getragen; am Montag werden wir sehen, ob die Frucht gereift ist.

Man ist sehr gespannt auf die Rede, welche heute Hr. Thiers über die auswärtigen Angelegenheiten in der Kammer halten wird. Einerseits fühlt man, daß die orientalische Frage eine sehr schwache Seite der Administration darbietet, zumal in diesem Augenblick, wo der Abschluß des englisch-russischen Uebereinkommens für gewiß ausgesagt wird. Andererseits ist zu erwarten, Hr. Thiers werde Alles aufbieten, den Abstand zwischen seinen Talenten und denen seiner ihm untreu gewordenen Lieutenants vor der Kammer und dem Lande ins beste Licht zu stellen. Wie sehr auch Hr. Villemain sich anstrengt, den Credit des Ministeriums zu stützen und aufzurichten, seine Position scheint von Tag zu Tag weniger haltbar zu werden. Heute macht sogar die "Presse" selbst sich über den Marschall Soult lustig, indem sie zu verstehen gibt, es sey von ihm kaum zu erwarten, daß er so verwickelte diplomatische Fragen, wie die orientalische, durchschaue. Hr. v. Montalivet hat sich an Hrn. Guizot angeschlossen, während Hr. v. Mole immer noch fortfährt sich Hrn. Thiers zu nähern. Soll man hieraus Folgerungen ziehen, so sind es die: daß das Beharrsystem es darauf abgesehen hat, zunächst von Hrn. Guizot Gebrauch zu machen, daß aber gleichwohl Hr. Thiers zuletzt der Unvermeidliche ist. Denn Hr. v. Montalivet ist bekanntlich ein Vertrauter der Tuilerien, während er in Hinsicht auf politischen Blick mit Hrn. v. Mole keine Vergleichung aushalten kann. - Die der radicalen Partei angehörigen Nationalgarden haben durch ihren gestrigen Aufzug bei Laffitte, Martin von Straßburg, Dupont de l'Eure und Arago ein Signal gegeben, das, wofern es im Lande Nachahmung fände, der ganzen innern Politik einen andern Charakter geben würde. Laffitte erklärt, die Juliusrevolution sey ohne Erfolg geblieben. Martin sagt, die Deputirtenkammer sey todt, und die Nation müsse ihre Angelegenheit in ihre eigenen Hände nehmen. Dupont spricht trocken wie ein Jurist oder wie einer, der am Erfolg verzweifelt. Dagegen erklärt Arago, das Volk müsse früher oder später zu einer ächten Nationalrepräsentation gelangen; seine gewaltige Stimme könne nicht lange überhört werden. Die "Presse" erklärt diesen Aufzug für einen revolutionären Act und macht den genannten Deputirten den Vorwurf, daß sie sich eine verfassungswidrige Handlung hätten zu Schulden kommen lassen. Bemerkenswerth ist, daß das Journal des Debats den Vorgang mit Stillschweigen übergeht.

Die Rede des Hrn. Thiers, welche auf heute angekündigt war, füllte die Galerien der Deputirtenkammer sehr frühe mit einer bedeutenden Zuhörermenge, worunter eben so viele Damen als Männer waren. Hr. Denis, welcher zuerst die Bühne bestieg, und dem Ministerium vorwarf, daß es zu eifrig Partei für Mehemed Ali genommen, fand geringe Aufmerksamkeit. Hr. Thiers folgte. "Ich will, sagte er, in dieser Debatte Alles vermeiden, was Personen betrifft. Die Sache ist an sich selbst bedeutend genug; ja sie ist so ernst, daß man kaum wagt, mit Worten an sie hinanzureichen. Meine Absicht ist nicht, dem Cabinet Rathschläge zu geben, denn solche Rathschläge von der Tribune herab nützen selten etwas; nur die öffentliche Meinung will ich aufklären, weil diese ihren Einfluß auf die Regierung übt." Der Redner schied dann in der orientalischen Frage das von der Regierung angenommene System von dem Benehmen des Cabinets; er erklärte sich für jenes, billigte aber letzteres nicht. Man könne nur zwei Systeme befolgen: entweder eine activ-Politik, welche die Theilung des ottomanischen Reichs als unvermeidlich erkenne und auf Rußland sich stütze, oder eine Politik der Vorsicht, die darin bestehe, eine Stellung einzunehmen. Letzteres sey die von der französischen Regierung angenommene Politik. Der Redner lobt die Regierung deßhalb, und ist überzeugt, daß auch Rußland diese Politik befolge, daß auch Rußland keinen bestimmten Plan habe, sondern für den status quo, für den Frieden sey. Die großen Nationen, meinte Hr. Thiers, würden in ihrer Politik nicht von Vorurtheilen geleitet. Mit welchen Gefühlen Rußland auch die Juliusrevolution aufgenommen habe, so betrachte Rußland dieselbe jedenfalls als eine


er den Tag zuvor die Befehle des Herzogs von Orleans eingeholt hatte.

Jetzt ist's an den Orient gegangen; aber Carné, Lamartine, Mauguin, keiner hat eine lebendige Anschauung von den Dingen, von welchen sie geredet. Lamartine hat wenigstens seine Einbildungskraft; aber seine Politik ist grundfalsch. Er will, daß man sich über die Theilung des ottomanischen Reichs einverstehen solle. Als Augenzeuge hat er das Unding mit eigenen Augen angesehen, und weiß recht gut, daß der Sultan Mahmud kein Peter der Große war, um, der Analogie Rußlands folgend, eine Türkei nach europäischem Uniformszuschnitt, nach administrativem und militärischem Mechanismus umzuschaffen; er glaubt eben so wenig daran, daß Abdul Medschid ein constitutioneller Monarch des modernen Europa sey oder werde, und daß er den Türken liberale Principien einflößen könne; er weiß, daß die Pforte lebt in der Furcht Rußlands, von den Interessen Oesterreichs und Englands und dem Veto der Franzosen, nicht auf eigene Faust; er weiß, daß die Türken keine Nation sind, sondern eine durchs religiöse Gebiß des Mohammedanismus gezähmte Kriegshorde, ohne eigenen Geist und schon seit lange abgestumpft und abgespannt; das Alles weiß er, darum will er das ottomanische Wildprett auf der Fürstentafel Europa's als einen Leckerbissen serviren, Konstantinopel für Rußland, Aegypten für England, weil Rußland der europäischen Türkei bedarf, wie England des Nilthals und des Isthmus von Suez; Oesterreich erhielte als Speisestück etwa Serbien; Griechenland würde auch arrondirt, Frankreich mit Cypern und Syrien ausgestattet; oder würde das ottomanische Reich allen europäischen Aventuriers angewiesen, wie weiland Amerika, zur Gründung von Handelscolonien, unter der Garantie aller europäischen Mächte brach erklärt als ein Gemeingut der europäischen Gesammtheit, eine zu improvisirende Schweiz und dergleichen. Dieß Alles ist weder reif noch durchdacht, sondern mit starken Phantasmen durchmischt, auch war es Hrn. Villemain nicht schwer, diese Wolken zu zerstreuen. Hr. v. Carné spricht immer von arabischen und türkischen Nationalitäten, wie man von französischen und englischen spricht; er hat keine Ahnung von dem Geiste der Mohammedaner, welcher nur ein Gemeingeist religiöser Secten ist, und sich in allen andern Dingen ohne ächten Staatsverband in individuelle Interessen der Familien und Stämme zerspaltet. Hr. Mauguin endlich spricht wie ohne tiefe Kenntniß, so ohne tiefe Ueberzeugung, aus einem bonapartisirenden Geiste heraus, der die Welt mit dem politischen Besen durchkehrt zur Freude Aller, welche eine Siebenmeilenstiefel-Politik bewundern. Wenn man Talente hat wie Mauguin, so sollte man die Dinge tüchtiger studiren, als aus den Zeitungen, denn seine Kunde der Dinge ist nichts als eine rasch aus öffentlichen Blättern zusammengelesene, ohne Eindringen in die Verhältnisse. Thiers, der am Montag an die Reihe des politischen Geplauders kommt, hat mehr Sinn für auswärtige Politik als die genannten, aber er denkt nichts planmäßig durch, und überläsit sich einer glänzenden Leichtfertigkeit. Vielleicht hat er über Nacht einen Goldapfel getragen; am Montag werden wir sehen, ob die Frucht gereift ist.

Man ist sehr gespannt auf die Rede, welche heute Hr. Thiers über die auswärtigen Angelegenheiten in der Kammer halten wird. Einerseits fühlt man, daß die orientalische Frage eine sehr schwache Seite der Administration darbietet, zumal in diesem Augenblick, wo der Abschluß des englisch-russischen Uebereinkommens für gewiß ausgesagt wird. Andererseits ist zu erwarten, Hr. Thiers werde Alles aufbieten, den Abstand zwischen seinen Talenten und denen seiner ihm untreu gewordenen Lieutenants vor der Kammer und dem Lande ins beste Licht zu stellen. Wie sehr auch Hr. Villemain sich anstrengt, den Credit des Ministeriums zu stützen und aufzurichten, seine Position scheint von Tag zu Tag weniger haltbar zu werden. Heute macht sogar die „Presse“ selbst sich über den Marschall Soult lustig, indem sie zu verstehen gibt, es sey von ihm kaum zu erwarten, daß er so verwickelte diplomatische Fragen, wie die orientalische, durchschaue. Hr. v. Montalivet hat sich an Hrn. Guizot angeschlossen, während Hr. v. Molé immer noch fortfährt sich Hrn. Thiers zu nähern. Soll man hieraus Folgerungen ziehen, so sind es die: daß das Beharrsystem es darauf abgesehen hat, zunächst von Hrn. Guizot Gebrauch zu machen, daß aber gleichwohl Hr. Thiers zuletzt der Unvermeidliche ist. Denn Hr. v. Montalivet ist bekanntlich ein Vertrauter der Tuilerien, während er in Hinsicht auf politischen Blick mit Hrn. v. Molé keine Vergleichung aushalten kann. – Die der radicalen Partei angehörigen Nationalgarden haben durch ihren gestrigen Aufzug bei Laffitte, Martin von Straßburg, Dupont de l'Eure und Arago ein Signal gegeben, das, wofern es im Lande Nachahmung fände, der ganzen innern Politik einen andern Charakter geben würde. Laffitte erklärt, die Juliusrevolution sey ohne Erfolg geblieben. Martin sagt, die Deputirtenkammer sey todt, und die Nation müsse ihre Angelegenheit in ihre eigenen Hände nehmen. Dupont spricht trocken wie ein Jurist oder wie einer, der am Erfolg verzweifelt. Dagegen erklärt Arago, das Volk müsse früher oder später zu einer ächten Nationalrepräsentation gelangen; seine gewaltige Stimme könne nicht lange überhört werden. Die „Presse“ erklärt diesen Aufzug für einen revolutionären Act und macht den genannten Deputirten den Vorwurf, daß sie sich eine verfassungswidrige Handlung hätten zu Schulden kommen lassen. Bemerkenswerth ist, daß das Journal des Débats den Vorgang mit Stillschweigen übergeht.

Die Rede des Hrn. Thiers, welche auf heute angekündigt war, füllte die Galerien der Deputirtenkammer sehr frühe mit einer bedeutenden Zuhörermenge, worunter eben so viele Damen als Männer waren. Hr. Denis, welcher zuerst die Bühne bestieg, und dem Ministerium vorwarf, daß es zu eifrig Partei für Mehemed Ali genommen, fand geringe Aufmerksamkeit. Hr. Thiers folgte. „Ich will, sagte er, in dieser Debatte Alles vermeiden, was Personen betrifft. Die Sache ist an sich selbst bedeutend genug; ja sie ist so ernst, daß man kaum wagt, mit Worten an sie hinanzureichen. Meine Absicht ist nicht, dem Cabinet Rathschläge zu geben, denn solche Rathschläge von der Tribune herab nützen selten etwas; nur die öffentliche Meinung will ich aufklären, weil diese ihren Einfluß auf die Regierung übt.“ Der Redner schied dann in der orientalischen Frage das von der Regierung angenommene System von dem Benehmen des Cabinets; er erklärte sich für jenes, billigte aber letzteres nicht. Man könne nur zwei Systeme befolgen: entweder eine activ-Politik, welche die Theilung des ottomanischen Reichs als unvermeidlich erkenne und auf Rußland sich stütze, oder eine Politik der Vorsicht, die darin bestehe, eine Stellung einzunehmen. Letzteres sey die von der französischen Regierung angenommene Politik. Der Redner lobt die Regierung deßhalb, und ist überzeugt, daß auch Rußland diese Politik befolge, daß auch Rußland keinen bestimmten Plan habe, sondern für den status quo, für den Frieden sey. Die großen Nationen, meinte Hr. Thiers, würden in ihrer Politik nicht von Vorurtheilen geleitet. Mit welchen Gefühlen Rußland auch die Juliusrevolution aufgenommen habe, so betrachte Rußland dieselbe jedenfalls als eine

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[0140/0004] er den Tag zuvor die Befehle des Herzogs von Orleans eingeholt hatte. ♀ Paris, 11 Jan. Jetzt ist's an den Orient gegangen; aber Carné, Lamartine, Mauguin, keiner hat eine lebendige Anschauung von den Dingen, von welchen sie geredet. Lamartine hat wenigstens seine Einbildungskraft; aber seine Politik ist grundfalsch. Er will, daß man sich über die Theilung des ottomanischen Reichs einverstehen solle. Als Augenzeuge hat er das Unding mit eigenen Augen angesehen, und weiß recht gut, daß der Sultan Mahmud kein Peter der Große war, um, der Analogie Rußlands folgend, eine Türkei nach europäischem Uniformszuschnitt, nach administrativem und militärischem Mechanismus umzuschaffen; er glaubt eben so wenig daran, daß Abdul Medschid ein constitutioneller Monarch des modernen Europa sey oder werde, und daß er den Türken liberale Principien einflößen könne; er weiß, daß die Pforte lebt in der Furcht Rußlands, von den Interessen Oesterreichs und Englands und dem Veto der Franzosen, nicht auf eigene Faust; er weiß, daß die Türken keine Nation sind, sondern eine durchs religiöse Gebiß des Mohammedanismus gezähmte Kriegshorde, ohne eigenen Geist und schon seit lange abgestumpft und abgespannt; das Alles weiß er, darum will er das ottomanische Wildprett auf der Fürstentafel Europa's als einen Leckerbissen serviren, Konstantinopel für Rußland, Aegypten für England, weil Rußland der europäischen Türkei bedarf, wie England des Nilthals und des Isthmus von Suez; Oesterreich erhielte als Speisestück etwa Serbien; Griechenland würde auch arrondirt, Frankreich mit Cypern und Syrien ausgestattet; oder würde das ottomanische Reich allen europäischen Aventuriers angewiesen, wie weiland Amerika, zur Gründung von Handelscolonien, unter der Garantie aller europäischen Mächte brach erklärt als ein Gemeingut der europäischen Gesammtheit, eine zu improvisirende Schweiz und dergleichen. Dieß Alles ist weder reif noch durchdacht, sondern mit starken Phantasmen durchmischt, auch war es Hrn. Villemain nicht schwer, diese Wolken zu zerstreuen. Hr. v. Carné spricht immer von arabischen und türkischen Nationalitäten, wie man von französischen und englischen spricht; er hat keine Ahnung von dem Geiste der Mohammedaner, welcher nur ein Gemeingeist religiöser Secten ist, und sich in allen andern Dingen ohne ächten Staatsverband in individuelle Interessen der Familien und Stämme zerspaltet. Hr. Mauguin endlich spricht wie ohne tiefe Kenntniß, so ohne tiefe Ueberzeugung, aus einem bonapartisirenden Geiste heraus, der die Welt mit dem politischen Besen durchkehrt zur Freude Aller, welche eine Siebenmeilenstiefel-Politik bewundern. Wenn man Talente hat wie Mauguin, so sollte man die Dinge tüchtiger studiren, als aus den Zeitungen, denn seine Kunde der Dinge ist nichts als eine rasch aus öffentlichen Blättern zusammengelesene, ohne Eindringen in die Verhältnisse. Thiers, der am Montag an die Reihe des politischen Geplauders kommt, hat mehr Sinn für auswärtige Politik als die genannten, aber er denkt nichts planmäßig durch, und überläsit sich einer glänzenden Leichtfertigkeit. Vielleicht hat er über Nacht einen Goldapfel getragen; am Montag werden wir sehen, ob die Frucht gereift ist. △ Paris, 13 Jan. Man ist sehr gespannt auf die Rede, welche heute Hr. Thiers über die auswärtigen Angelegenheiten in der Kammer halten wird. Einerseits fühlt man, daß die orientalische Frage eine sehr schwache Seite der Administration darbietet, zumal in diesem Augenblick, wo der Abschluß des englisch-russischen Uebereinkommens für gewiß ausgesagt wird. Andererseits ist zu erwarten, Hr. Thiers werde Alles aufbieten, den Abstand zwischen seinen Talenten und denen seiner ihm untreu gewordenen Lieutenants vor der Kammer und dem Lande ins beste Licht zu stellen. Wie sehr auch Hr. Villemain sich anstrengt, den Credit des Ministeriums zu stützen und aufzurichten, seine Position scheint von Tag zu Tag weniger haltbar zu werden. Heute macht sogar die „Presse“ selbst sich über den Marschall Soult lustig, indem sie zu verstehen gibt, es sey von ihm kaum zu erwarten, daß er so verwickelte diplomatische Fragen, wie die orientalische, durchschaue. Hr. v. Montalivet hat sich an Hrn. Guizot angeschlossen, während Hr. v. Molé immer noch fortfährt sich Hrn. Thiers zu nähern. Soll man hieraus Folgerungen ziehen, so sind es die: daß das Beharrsystem es darauf abgesehen hat, zunächst von Hrn. Guizot Gebrauch zu machen, daß aber gleichwohl Hr. Thiers zuletzt der Unvermeidliche ist. Denn Hr. v. Montalivet ist bekanntlich ein Vertrauter der Tuilerien, während er in Hinsicht auf politischen Blick mit Hrn. v. Molé keine Vergleichung aushalten kann. – Die der radicalen Partei angehörigen Nationalgarden haben durch ihren gestrigen Aufzug bei Laffitte, Martin von Straßburg, Dupont de l'Eure und Arago ein Signal gegeben, das, wofern es im Lande Nachahmung fände, der ganzen innern Politik einen andern Charakter geben würde. Laffitte erklärt, die Juliusrevolution sey ohne Erfolg geblieben. Martin sagt, die Deputirtenkammer sey todt, und die Nation müsse ihre Angelegenheit in ihre eigenen Hände nehmen. Dupont spricht trocken wie ein Jurist oder wie einer, der am Erfolg verzweifelt. Dagegen erklärt Arago, das Volk müsse früher oder später zu einer ächten Nationalrepräsentation gelangen; seine gewaltige Stimme könne nicht lange überhört werden. Die „Presse“ erklärt diesen Aufzug für einen revolutionären Act und macht den genannten Deputirten den Vorwurf, daß sie sich eine verfassungswidrige Handlung hätten zu Schulden kommen lassen. Bemerkenswerth ist, daß das Journal des Débats den Vorgang mit Stillschweigen übergeht. *** Paris, 13 Jan. Die Rede des Hrn. Thiers, welche auf heute angekündigt war, füllte die Galerien der Deputirtenkammer sehr frühe mit einer bedeutenden Zuhörermenge, worunter eben so viele Damen als Männer waren. Hr. Denis, welcher zuerst die Bühne bestieg, und dem Ministerium vorwarf, daß es zu eifrig Partei für Mehemed Ali genommen, fand geringe Aufmerksamkeit. Hr. Thiers folgte. „Ich will, sagte er, in dieser Debatte Alles vermeiden, was Personen betrifft. Die Sache ist an sich selbst bedeutend genug; ja sie ist so ernst, daß man kaum wagt, mit Worten an sie hinanzureichen. Meine Absicht ist nicht, dem Cabinet Rathschläge zu geben, denn solche Rathschläge von der Tribune herab nützen selten etwas; nur die öffentliche Meinung will ich aufklären, weil diese ihren Einfluß auf die Regierung übt.“ Der Redner schied dann in der orientalischen Frage das von der Regierung angenommene System von dem Benehmen des Cabinets; er erklärte sich für jenes, billigte aber letzteres nicht. Man könne nur zwei Systeme befolgen: entweder eine activ-Politik, welche die Theilung des ottomanischen Reichs als unvermeidlich erkenne und auf Rußland sich stütze, oder eine Politik der Vorsicht, die darin bestehe, eine Stellung einzunehmen. Letzteres sey die von der französischen Regierung angenommene Politik. Der Redner lobt die Regierung deßhalb, und ist überzeugt, daß auch Rußland diese Politik befolge, daß auch Rußland keinen bestimmten Plan habe, sondern für den status quo, für den Frieden sey. Die großen Nationen, meinte Hr. Thiers, würden in ihrer Politik nicht von Vorurtheilen geleitet. Mit welchen Gefühlen Rußland auch die Juliusrevolution aufgenommen habe, so betrachte Rußland dieselbe jedenfalls als eine

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 18. Augsburg, 18. Januar 1840, S. 0140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_018_18400118/4>, abgerufen am 29.04.2024.