Allgemeine Zeitung. Nr. 35. Augsburg, 4. Februar 1840.
(Beschluß folgt.) Lamennais und Charles Saint Foi. Paris, 24 Jan. Oft wurde es dem König der Franzosen zum harten, zum bittern Vorwurfe gemacht, daß er die Staatsmänner seiner Umgebung durch den Eigensinn seines Systems und durch die Zwecke, zu denen er sie gebrauche, in der öffentlichen Meinung herabzusetzen, ja zu vernichten suche; sieht man aber, welche Fallkraft den großen Männern unsrer Zeit inwohnt, wie leicht sie auch in den unabhängigsten Stellungen sich abnützen und erniedrigen, so wird man die zerbrechliche Natur ministerieller Volksthümlichkeit weniger rasch einem untergrabenden Einflusse von oben zumessen. Wenn Guizot und seine Phalanx in den Kämpfen der Coalition nicht die alte Tüchtigkeit bewährte, wenn Balzac nicht mehr in seiner goldnen Zeit steht, und seine Muse, die schon lange über die Dreißige (femme de trente ans) hinaus ist, nur als verunglückte Porcia in Criminal- oder andern Processen auftritt, oder wenn die letzte demokratische Predigt eines Franz von Lamennais fast keine Hörer mehr anzieht, ist an dem Allem Louis Philipp auch Schuld? Und wie groß war nicht vor einigen Jahren noch der Zulauf zu den Werken des berühmten Abbe, welchen Enthusiasmus erregten nicht die Worte eines Gläubigen! Noch jetzt versetzen manche Stellen dieses Buches, die in dem kalten Blute eines gleichgültigen Ausländers nicht die geringste Wallung hervorbringen würden, gleichgesinnte oder sonst leicht entzündbare Franzosen in einen solchen Aufruhr des Entzückens, daß um ihn würdig auszudrücken, ihnen kein Vortrag zu pathetisch, keine Gebärde zu lebhaft dünkt. Wohl waren es nur die Worte, nicht die innere Stärke und der geheime Sinn des Glaubens, aber es waren wenigstens schöne, durch ihren Wohlklang berauschende Worte. Die Stimme der Bacchantin schlug so bezaubernd an das Ohr, daß man nicht fragte, ob es Wahnsinn oder vernünftige Rede sey, was sie zum Besten gebe. Seitdem hat Hr. v. Lamennais in einer Schrift voll geistvoller Eleganz seine Beziehungen zu dem römischen Hofe entwickelt. Die übrigen Erzeugnisse aber, die er im Verlaufe der letzten Jahre auf jenes mystisch biblisch prophetische Pamphlet, die Worte eines Gläubigen, folgen ließ, tragen alle den Charakter des Verfalls, und konnten zum Theil gar keine, zum Theil keine nachhaltige Sympathie gewinnen. Während nun sein Talent immer mehr auf die Neige geht, findet die Form, die Lamennais in Frankreich eingeführt, beständig nachahmende Liebhaber, wohl zum Nachtheil mancher außerdem empfehlenswerthen Werke. Einfachheit und Natürlichkeit sind große Vorzüge, allein die Einfalt, die zu sehr aus den verwickelten Geistesgewohnheiten der jetzigen Menschheit heraustritt, und völlig in den Ton einer patriarchalischen Weltanschauung übergeht,
(Beschluß folgt.) Lamennais und Charles Saint Foi. Paris, 24 Jan. Oft wurde es dem König der Franzosen zum harten, zum bittern Vorwurfe gemacht, daß er die Staatsmänner seiner Umgebung durch den Eigensinn seines Systems und durch die Zwecke, zu denen er sie gebrauche, in der öffentlichen Meinung herabzusetzen, ja zu vernichten suche; sieht man aber, welche Fallkraft den großen Männern unsrer Zeit inwohnt, wie leicht sie auch in den unabhängigsten Stellungen sich abnützen und erniedrigen, so wird man die zerbrechliche Natur ministerieller Volksthümlichkeit weniger rasch einem untergrabenden Einflusse von oben zumessen. Wenn Guizot und seine Phalanx in den Kämpfen der Coalition nicht die alte Tüchtigkeit bewährte, wenn Balzac nicht mehr in seiner goldnen Zeit steht, und seine Muse, die schon lange über die Dreißige (femme de trente ans) hinaus ist, nur als verunglückte Porcia in Criminal- oder andern Processen auftritt, oder wenn die letzte demokratische Predigt eines Franz von Lamennais fast keine Hörer mehr anzieht, ist an dem Allem Louis Philipp auch Schuld? Und wie groß war nicht vor einigen Jahren noch der Zulauf zu den Werken des berühmten Abbé, welchen Enthusiasmus erregten nicht die Worte eines Gläubigen! Noch jetzt versetzen manche Stellen dieses Buches, die in dem kalten Blute eines gleichgültigen Ausländers nicht die geringste Wallung hervorbringen würden, gleichgesinnte oder sonst leicht entzündbare Franzosen in einen solchen Aufruhr des Entzückens, daß um ihn würdig auszudrücken, ihnen kein Vortrag zu pathetisch, keine Gebärde zu lebhaft dünkt. Wohl waren es nur die Worte, nicht die innere Stärke und der geheime Sinn des Glaubens, aber es waren wenigstens schöne, durch ihren Wohlklang berauschende Worte. Die Stimme der Bacchantin schlug so bezaubernd an das Ohr, daß man nicht fragte, ob es Wahnsinn oder vernünftige Rede sey, was sie zum Besten gebe. Seitdem hat Hr. v. Lamennais in einer Schrift voll geistvoller Eleganz seine Beziehungen zu dem römischen Hofe entwickelt. Die übrigen Erzeugnisse aber, die er im Verlaufe der letzten Jahre auf jenes mystisch biblisch prophetische Pamphlet, die Worte eines Gläubigen, folgen ließ, tragen alle den Charakter des Verfalls, und konnten zum Theil gar keine, zum Theil keine nachhaltige Sympathie gewinnen. Während nun sein Talent immer mehr auf die Neige geht, findet die Form, die Lamennais in Frankreich eingeführt, beständig nachahmende Liebhaber, wohl zum Nachtheil mancher außerdem empfehlenswerthen Werke. Einfachheit und Natürlichkeit sind große Vorzüge, allein die Einfalt, die zu sehr aus den verwickelten Geistesgewohnheiten der jetzigen Menschheit heraustritt, und völlig in den Ton einer patriarchalischen Weltanschauung übergeht, <TEI> <text> <body> <div type="jSupplement" n="1"> <floatingText> <body> <div n="2"> <div type="jArticle" n="3"> <p><pb facs="#f0009" n="0274"/><lb/> „Wer ist da?“ fragten sie ihn. „Niemand als der arme Will Coventry, der am Fieber darnieder liegt,“ war die Antwort; – allerdings eine unwahre, aber wer wird sie der boshaften Lüge eines Titus Oates (im Jahre 1678) gleichstellen, dessen falsche Anklage so viele treffliche Männer auf das Schaffot brachte? Das ist meine laxe Moralität, bis zu diesem Grad hab' ich in der Ballotfrage die Lüge zu beschönigen gesucht. (Zuruf.) Warum ich Sie in Bezug auf das Ministerium bitte, ist dieß: nehmen Sie bei der Beurtheilung dessen, was es geleistet und nicht geleistet hat, den Umfang seiner verfassungsmäßigen Gewalt zum Maaßstab. Richten Sie die Minister nach ihren <hi rendition="#g">freien</hi> Handlungen, denn für diese allein können sie verantwortlich seyn. Haben sie Leben und Eigenthum schutzlos gelassen; haben sie nicht alle ihnen zu Gebot stehende Macht angewendet, um die Fleißigen, Loyalen, Friedfertigen und Wohlgesinnten gegen Frevel zu schirmen; haben sie zu Gunsten der Urheber solcher Frevel ein Auge zugedrückt oder diese Verblendenten gar aufgemuntert: – wenn sie das gethan haben, dann allein sind sie verantwortlich. (Hört!) Haben sie durch Geschrei, Verleumdung und Mißdeutung sich abschrecken lassen, zur Erleichterung des Briefporto's für das Publicum alles zu thun, was das Parlament ihnen nur zu thun gestattete, dann allein sind sie verantwortlich. (Beifall.) Haben die Kriegsoperationen, die unter ihrer Leitung in Indien vorgenommen wurden, den alten brittischen Waffenruhm befleckt, dann allein sind sie verantwortlich. (Beifall.) Haben sie Irland mißverwaltet, es an den Rand der Empörung gebracht, neue Truppensendungen dahin nöthig gemacht, dann allein sind sie verantwortlich. (Zuruf.) Für die Schwierigkeit aber, legislative Maaßregeln in einem zwischen den Parteien fast gleichgewogenen Unterhaus, und für die Unmöglichkeit, sie in einem feindseligen Oberhaus durchzusetzen, dafür können die Minister <hi rendition="#g">nicht</hi> verantwortlich seyn. (Großer Beifall.) Zugleich, meine Herren! fühl' ich wohl, daß, seitdem ich das letztemal zu Ihnen sprach, der Stand einiger wichtigen öffentlichen Fragen wesentlich anders gerückt ist. Die Korngesetzfrage unter andern ist interessanter und bedeutender geworden, als je. (Hört, Hört!) Aber, meine Herren! noch eine andere Frage ist mittlerweile zu der ernstesten Größe, zu einer solchen Größe angewachsen, daß sie mir zur Zeit die wichtigste von allen scheint, die zwischen dem Ministerium und der Torypartei schwebend sind. Es ist die Frage, ob das große Princip religiöser Freiheit in seiner Ganzheit aufrecht erhalten, oder aber ob eine Classe unserer Mitbürger bloß des Verbrechens wegen, daß sie Gott nach ihrem Gewissen verehren, von dem Mitgenuß der Ehren und Emolumente des Staats ausgeschlossen werden sollen, dessen Lasten sie mittragen, wie wir, für dessen Vertheidigung sie mit ihrem Blut und Leben einstehen, wie wir. (Hört, Hört!) Der erbitterte Factionsgeist, an seinem Erfolg auf andern Wegen verzweifelnd, hat jetzt zu seiner Hülfe einen andern Dämon, finsterer, unreiner, wilder als er selbst, heraufbeschworen – einen Dämon, der sich leichter rufen als bannen läßt: den Geist des religiösen Fanatismus. Leider ist dieß keine neue Calamität, oft, allzu oft schon ist die Geschichte unseres Landes befleckt worden durch die Verbrechen von Schwärmern, von gottbesessenen Frömmlern. Nur allzu oft wurde die christliche Religion, die Pflegerin jeder Tugend, die Trösterin in jedem Unglück, die sicherste Bundesgenossin der Civilisation, die beste Schutzwächterin der Freiheit und der Ordnung – nur allzu oft wurde sie von menschlichen Interessen und Leidenschaften so verkehrt und verunstaltet, daß von dem hohen göttlichen Urbild kaum noch ein Zug zu erkennen war. Wollte Gott, dieser Vorwurf träfe nur die Geschichte der römischen Kirche! Wollte Gott, die Annalen eines weit reineren Christenglaubens wären nicht ebenfalls besudelt mit grausamen Urtheilssprüchen, mit Pönalgesetzen, mit Metzeleien und Jahrhunderte langem Tyrannendruck! Selbst in diesen Tagen werdet ihr von verworfenen, ihrer alten Fahne abtrünnigen Journalisten (die Times!) und von marktschreierischen Predigern aufgerufen, ein Drittheil der Bevölkerung dieser brittischen Inseln mit Füßen zu treten. Doch im Namen desselben Protestantismus fordere <hi rendition="#g">ich</hi> euch auf – ich fordere euch auf, nicht als Staatsmann und Minister, sondern als Protestant, euch mit männlicher Entrüstung zu erheben gegen die Gleißner, die der Religion, der Wahrheit und der Liebe Gehülfen aufbürden wollen, welche die Liebe verschmäht und deren die Wahrheit nicht bedarf. (Großer Beifall.)</p><lb/> <p>(Beschluß folgt.)</p><lb/> </div> </div> <div n="2"> <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Lamennais und Charles Saint Foi</hi>.</hi> </head><lb/> <div type="jArticle" n="3"> <byline>♂</byline> <dateline><hi rendition="#b">Paris,</hi> 24 Jan.</dateline> <p> Oft wurde es dem König der Franzosen zum harten, zum bittern Vorwurfe gemacht, daß er die Staatsmänner seiner Umgebung durch den Eigensinn seines Systems und durch die Zwecke, zu denen er sie gebrauche, in der öffentlichen Meinung herabzusetzen, ja zu vernichten suche; sieht man aber, welche Fallkraft den großen Männern unsrer Zeit inwohnt, wie leicht sie auch in den unabhängigsten Stellungen sich abnützen und erniedrigen, so wird man die zerbrechliche Natur ministerieller Volksthümlichkeit weniger rasch einem untergrabenden Einflusse von oben zumessen. Wenn Guizot und seine Phalanx in den Kämpfen der Coalition nicht die alte Tüchtigkeit bewährte, wenn Balzac nicht mehr in seiner goldnen Zeit steht, und seine Muse, die schon lange über die Dreißige (femme de trente ans) hinaus ist, nur als verunglückte Porcia in Criminal- oder andern Processen auftritt, oder wenn die letzte demokratische Predigt eines Franz von Lamennais fast keine Hörer mehr anzieht, ist an dem Allem Louis Philipp auch Schuld? Und wie groß war nicht vor einigen Jahren noch der Zulauf zu den Werken des berühmten Abbé, welchen Enthusiasmus erregten nicht die Worte eines Gläubigen! Noch jetzt versetzen manche Stellen dieses Buches, die in dem kalten Blute eines gleichgültigen Ausländers nicht die geringste Wallung hervorbringen würden, gleichgesinnte oder sonst leicht entzündbare Franzosen in einen solchen Aufruhr des Entzückens, daß um ihn würdig auszudrücken, ihnen kein Vortrag zu pathetisch, keine Gebärde zu lebhaft dünkt. Wohl waren es nur die Worte, nicht die innere Stärke und der geheime Sinn des Glaubens, aber es waren wenigstens schöne, durch ihren Wohlklang berauschende Worte. Die Stimme der Bacchantin schlug so bezaubernd an das Ohr, daß man nicht fragte, ob es Wahnsinn oder vernünftige Rede sey, was sie zum Besten gebe. Seitdem hat Hr. v. Lamennais in einer Schrift voll geistvoller Eleganz seine Beziehungen zu dem römischen Hofe entwickelt. Die übrigen Erzeugnisse aber, die er im Verlaufe der letzten Jahre auf jenes mystisch biblisch prophetische Pamphlet, die Worte eines Gläubigen, folgen ließ, tragen alle den Charakter des Verfalls, und konnten zum Theil gar keine, zum Theil keine nachhaltige Sympathie gewinnen. Während nun sein Talent immer mehr auf die Neige geht, findet die Form, die Lamennais in Frankreich eingeführt, beständig nachahmende Liebhaber, wohl zum Nachtheil mancher außerdem empfehlenswerthen Werke. Einfachheit und Natürlichkeit sind große Vorzüge, allein die Einfalt, die zu sehr aus den verwickelten Geistesgewohnheiten der jetzigen Menschheit heraustritt, und völlig in den Ton einer patriarchalischen Weltanschauung übergeht,<lb/></p> </div> </div> </body> </floatingText> </div> </body> </text> </TEI> [0274/0009]
„Wer ist da?“ fragten sie ihn. „Niemand als der arme Will Coventry, der am Fieber darnieder liegt,“ war die Antwort; – allerdings eine unwahre, aber wer wird sie der boshaften Lüge eines Titus Oates (im Jahre 1678) gleichstellen, dessen falsche Anklage so viele treffliche Männer auf das Schaffot brachte? Das ist meine laxe Moralität, bis zu diesem Grad hab' ich in der Ballotfrage die Lüge zu beschönigen gesucht. (Zuruf.) Warum ich Sie in Bezug auf das Ministerium bitte, ist dieß: nehmen Sie bei der Beurtheilung dessen, was es geleistet und nicht geleistet hat, den Umfang seiner verfassungsmäßigen Gewalt zum Maaßstab. Richten Sie die Minister nach ihren freien Handlungen, denn für diese allein können sie verantwortlich seyn. Haben sie Leben und Eigenthum schutzlos gelassen; haben sie nicht alle ihnen zu Gebot stehende Macht angewendet, um die Fleißigen, Loyalen, Friedfertigen und Wohlgesinnten gegen Frevel zu schirmen; haben sie zu Gunsten der Urheber solcher Frevel ein Auge zugedrückt oder diese Verblendenten gar aufgemuntert: – wenn sie das gethan haben, dann allein sind sie verantwortlich. (Hört!) Haben sie durch Geschrei, Verleumdung und Mißdeutung sich abschrecken lassen, zur Erleichterung des Briefporto's für das Publicum alles zu thun, was das Parlament ihnen nur zu thun gestattete, dann allein sind sie verantwortlich. (Beifall.) Haben die Kriegsoperationen, die unter ihrer Leitung in Indien vorgenommen wurden, den alten brittischen Waffenruhm befleckt, dann allein sind sie verantwortlich. (Beifall.) Haben sie Irland mißverwaltet, es an den Rand der Empörung gebracht, neue Truppensendungen dahin nöthig gemacht, dann allein sind sie verantwortlich. (Zuruf.) Für die Schwierigkeit aber, legislative Maaßregeln in einem zwischen den Parteien fast gleichgewogenen Unterhaus, und für die Unmöglichkeit, sie in einem feindseligen Oberhaus durchzusetzen, dafür können die Minister nicht verantwortlich seyn. (Großer Beifall.) Zugleich, meine Herren! fühl' ich wohl, daß, seitdem ich das letztemal zu Ihnen sprach, der Stand einiger wichtigen öffentlichen Fragen wesentlich anders gerückt ist. Die Korngesetzfrage unter andern ist interessanter und bedeutender geworden, als je. (Hört, Hört!) Aber, meine Herren! noch eine andere Frage ist mittlerweile zu der ernstesten Größe, zu einer solchen Größe angewachsen, daß sie mir zur Zeit die wichtigste von allen scheint, die zwischen dem Ministerium und der Torypartei schwebend sind. Es ist die Frage, ob das große Princip religiöser Freiheit in seiner Ganzheit aufrecht erhalten, oder aber ob eine Classe unserer Mitbürger bloß des Verbrechens wegen, daß sie Gott nach ihrem Gewissen verehren, von dem Mitgenuß der Ehren und Emolumente des Staats ausgeschlossen werden sollen, dessen Lasten sie mittragen, wie wir, für dessen Vertheidigung sie mit ihrem Blut und Leben einstehen, wie wir. (Hört, Hört!) Der erbitterte Factionsgeist, an seinem Erfolg auf andern Wegen verzweifelnd, hat jetzt zu seiner Hülfe einen andern Dämon, finsterer, unreiner, wilder als er selbst, heraufbeschworen – einen Dämon, der sich leichter rufen als bannen läßt: den Geist des religiösen Fanatismus. Leider ist dieß keine neue Calamität, oft, allzu oft schon ist die Geschichte unseres Landes befleckt worden durch die Verbrechen von Schwärmern, von gottbesessenen Frömmlern. Nur allzu oft wurde die christliche Religion, die Pflegerin jeder Tugend, die Trösterin in jedem Unglück, die sicherste Bundesgenossin der Civilisation, die beste Schutzwächterin der Freiheit und der Ordnung – nur allzu oft wurde sie von menschlichen Interessen und Leidenschaften so verkehrt und verunstaltet, daß von dem hohen göttlichen Urbild kaum noch ein Zug zu erkennen war. Wollte Gott, dieser Vorwurf träfe nur die Geschichte der römischen Kirche! Wollte Gott, die Annalen eines weit reineren Christenglaubens wären nicht ebenfalls besudelt mit grausamen Urtheilssprüchen, mit Pönalgesetzen, mit Metzeleien und Jahrhunderte langem Tyrannendruck! Selbst in diesen Tagen werdet ihr von verworfenen, ihrer alten Fahne abtrünnigen Journalisten (die Times!) und von marktschreierischen Predigern aufgerufen, ein Drittheil der Bevölkerung dieser brittischen Inseln mit Füßen zu treten. Doch im Namen desselben Protestantismus fordere ich euch auf – ich fordere euch auf, nicht als Staatsmann und Minister, sondern als Protestant, euch mit männlicher Entrüstung zu erheben gegen die Gleißner, die der Religion, der Wahrheit und der Liebe Gehülfen aufbürden wollen, welche die Liebe verschmäht und deren die Wahrheit nicht bedarf. (Großer Beifall.)
(Beschluß folgt.)
Lamennais und Charles Saint Foi.
♂Paris, 24 Jan. Oft wurde es dem König der Franzosen zum harten, zum bittern Vorwurfe gemacht, daß er die Staatsmänner seiner Umgebung durch den Eigensinn seines Systems und durch die Zwecke, zu denen er sie gebrauche, in der öffentlichen Meinung herabzusetzen, ja zu vernichten suche; sieht man aber, welche Fallkraft den großen Männern unsrer Zeit inwohnt, wie leicht sie auch in den unabhängigsten Stellungen sich abnützen und erniedrigen, so wird man die zerbrechliche Natur ministerieller Volksthümlichkeit weniger rasch einem untergrabenden Einflusse von oben zumessen. Wenn Guizot und seine Phalanx in den Kämpfen der Coalition nicht die alte Tüchtigkeit bewährte, wenn Balzac nicht mehr in seiner goldnen Zeit steht, und seine Muse, die schon lange über die Dreißige (femme de trente ans) hinaus ist, nur als verunglückte Porcia in Criminal- oder andern Processen auftritt, oder wenn die letzte demokratische Predigt eines Franz von Lamennais fast keine Hörer mehr anzieht, ist an dem Allem Louis Philipp auch Schuld? Und wie groß war nicht vor einigen Jahren noch der Zulauf zu den Werken des berühmten Abbé, welchen Enthusiasmus erregten nicht die Worte eines Gläubigen! Noch jetzt versetzen manche Stellen dieses Buches, die in dem kalten Blute eines gleichgültigen Ausländers nicht die geringste Wallung hervorbringen würden, gleichgesinnte oder sonst leicht entzündbare Franzosen in einen solchen Aufruhr des Entzückens, daß um ihn würdig auszudrücken, ihnen kein Vortrag zu pathetisch, keine Gebärde zu lebhaft dünkt. Wohl waren es nur die Worte, nicht die innere Stärke und der geheime Sinn des Glaubens, aber es waren wenigstens schöne, durch ihren Wohlklang berauschende Worte. Die Stimme der Bacchantin schlug so bezaubernd an das Ohr, daß man nicht fragte, ob es Wahnsinn oder vernünftige Rede sey, was sie zum Besten gebe. Seitdem hat Hr. v. Lamennais in einer Schrift voll geistvoller Eleganz seine Beziehungen zu dem römischen Hofe entwickelt. Die übrigen Erzeugnisse aber, die er im Verlaufe der letzten Jahre auf jenes mystisch biblisch prophetische Pamphlet, die Worte eines Gläubigen, folgen ließ, tragen alle den Charakter des Verfalls, und konnten zum Theil gar keine, zum Theil keine nachhaltige Sympathie gewinnen. Während nun sein Talent immer mehr auf die Neige geht, findet die Form, die Lamennais in Frankreich eingeführt, beständig nachahmende Liebhaber, wohl zum Nachtheil mancher außerdem empfehlenswerthen Werke. Einfachheit und Natürlichkeit sind große Vorzüge, allein die Einfalt, die zu sehr aus den verwickelten Geistesgewohnheiten der jetzigen Menschheit heraustritt, und völlig in den Ton einer patriarchalischen Weltanschauung übergeht,
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Deutsches Textarchiv: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-06-28T11:37:15Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-06-28T11:37:15Z)
Weitere Informationen:Bogensignaturen: gekennzeichnet; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: Lautwert transkribiert; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: gekennzeichnet; Kustoden: gekennzeichnet; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: Lautwert transkribiert; Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert; Vollständigkeit: teilweise erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |