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Allgemeine Zeitung. Nr. 43. Augsburg, 12. Februar 1840.

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Geschichtliches über Erdbildung.

Vom Verhältniß der Geologie zu unserer Zeit.

Der Schluß des vorigen Jahrhunderts wird für alle Zeiten eine der merkwürdigsten Epochen in der Geschichte der Cultur wie der Staaten bleiben. In allen Zweigen des menschlichen Wissens und Erkennens wurde damals das bisherige Gleichgewicht der Ueberzeugungen und Meinungen rasch aufgehoben. Die durch die französische Revolution erzeugten Ideen, die Kantische Philosophie, die völlige Umkehr der Physik und Chemie durch die großen Lehren von der Wahlverwandtschaft und der Polarität, die deutsche Naturphilosophie, die geognostischen Theorien Werners und James Huttons, Cuviers, Leopold v. Buchs und Alexander v. Humboldts so fruchtbare Gedanken und Forschungen - alles dieß drängt sich in eine kurze Reihe von Jahren zusammen; es sind eben so viele einflußreiche und umfassende Apercus, welche den Gesichtskreis des Menschen nach den verschiedensten Seiten aufs überraschendste erweitert haben. Aber der Geist fand in allen nur eine augenblickliche Befriedigung. Aus den Höhen, auf die er gehoben wurde, erblickte er nirgends ein unmittelbares Ziel seines Strebens; er übersah nur einen viel weitern Horizont als zuvor, voll Räthsel und Schwierigkeiten. Man überzeugte sich nach allen Seiten, daß die Synthesen des achtzehnten Jahrhunderts im Leben und Wissen blinde Anticipationen gewesen, daß vor Allem noth thue, das Geschäft der Analysis ernstlich und nach neuen Planen vorzunehmen; und der eigentliche Fortschritt bestand in Allem darin, daß man von der Speculation zur Erfahrung zurückkehrte.

Alle jene umfassenden Begriffe, welche am Ende des vorigen Jahrhunderts zumal aufsprangen, bezeichnen in allen Richtungen den Punkt, wo der Mensch auf einmal unendlich klüger geworden zu seyn meinte; und er war dieß auch, aber nur weil er eben durch jene Revolutionen im Staat und in der Wissenschaft schnell zu der Ueberzeugung kam, daß er unendlich weniger wisse und vermöge als er bisher geglaubt, weil er resigniren lernte, weil er abstieg vom Rosse der Phantasie und zum Grabscheit griff. Die Menschheit war insofern wissender geworden, als ihr Blick nicht mehr suffisant über die Oberflächen der Erscheinungen hinweg- und hinausschweifte, sondern in ein unendliches Labyrinth von Aufgaben tauchte. Sie sah überall eine gränzenlose Bahn möglicher Forschung und Reform vor sich liegen und gewöhnte sich, der einzelnsten Thatsache ihr Recht widerfahren zu lassen.

Diese praktische Richtung, diese Achtung der Thatsache, der umsichtige Versuch, die Analysis charakterisiren recht eigentlich unser Zeitalter im Leben und in der Wissenschaft. Man hat einsehen gelernt, daß Rousseau's contrat social, gerade wie Buffons Erdtheorie, zu viel und damit nichts bewies. Durch Kaiser Josephs Reformen und durch die extreme Neptunistische Ansicht der Erdbildung wurde nach den jetzigen Erfahrungen dem Menschen und der Natur gleich viel Zwang angethan, und man weiß jetzt das Thatsächliche, das Gewordene und Gewachsene in beiden Gebieten besser aufzufassen, und damit auch zu würdigen. Die Vorurtheilslosigkeit der sensualistischen Philosophie wurde selbst als ein grobes Vorurtheil erkannt, gerade wie man sich nicht mehr mit den allgemeinen rohen Begriffen von Niederschlägen aus dem alten Ocean und von wiederholten Einbrüchen desselben befriedigt, um sich von der Structur der Erdrinde Rechenschaft zu geben. Man ist im Staatsleben und in der Naturforschung gleich gewitzigt; man arbeitet ungefähr nach demselben Plan an der Umbildung der öffentlichen Zustände und am Bau der Wissenschaften; man belauscht die Natur, statt sie zu meistern, man läßt weise die Räthsel und Schwierigkeiten stehen, statt sie zu illudiren oder systematisch zu überbauen, und sieht sich gerade dadurch unendlich gefördert, daß man nicht mehr meint, die allgemeine Glückseligkeit und die Einsicht in die Natur der Dinge erzwingen zu können.

Durch diese Richtung des allgemeinen Geistes haben die Naturwissenschaften im verflossenen halben Jahrhundert die außerordentlichsten Fortschritte gemacht. Manche haben sich zu ganz neuen Disciplinen gespalten; andrerseits sind zahlreiche Zweige zu stattlichen Bäumen bisher unbekannter Wissenschaften zusammengewachsen. Polyhistorie, auch nur im Bezirk der Naturforschung, wird mit jedem Tag unmöglicher, und auch die Wissenschaft gedeiht jetzt nur durch jene Theilung der Arbeit, welche die Seele der materiellen Production der neuern Zeit ist. Aber in keinem Gebiete waren die Entwickelungen rascher, die Resultate erstaunlicher, als in der Kenntniß von der Structur der Erdrinde, von den frühern Zuständen derselben und den Ursachen ihrer mannichfachen Zusammensetzung und ihrer Unebenheiten. Es bedurfte einer gewissen Reife aller Zweige der Naturforschung, bevor überhaupt die rationelle Grundlage der Geologie im neuern Sinn gelegt werden konnte. Die große Naturwahrheit, welche jetzt die Basis dieser Wissenschaft bildet, nämlich die Entstehung der Unebenheiten der Erdoberfläche durch Hebung von unten, war seit den ältesten Zeiten geahnt, aber von den Theorien immer wieder verkannt worden. Das scheinbar so leichte Räthselwort konnte erst dann mit Ueberzeugung ausgesprochen werden, nachdem die Lehren der neuern Chemie auf die Erdbildung falsch oder richtig angewendet und ein umfassendes System der Mineralogie aufgestellt worden war. Nicht minder mußte die Kenntniß der jetzigen Thier- und Pflanzenschöpfung zu einer gewissen Vollständigkeit gelangt seyn, wollte man die Bedeutung der in den Gebirgsarten eingeschlossenen Thier- und Pflanzenreste vollkommen würdigen. So erscheint die Geologie als das jugendliche Product zahlreicher Wissenschaften, welche selbst größtentheils erst seit wenigen Generationen in die klare Bahn sichern Fortschritts geleitet worden sind. Aber so jung sie ist, sie hat schon in der Wiege manche Schlange des Vorurtheils erdrückt, und durch ihre Ausbildung scheint unser Zeitalter recht eigentlich seine wissenschaftliche Mission zu erfüllen.

Diese moderne Disciplin zeigt auch sehr ausgesprochen den Charakter, den wir oben unserer Zeit überhaupt zugeschrieben, den der wissenschaftlichen Resignation. Früher ging alles Raisonnement über die Bildung der Erdrinde auf die Genesis des Erdballs selbst zurück, und die Begriffe über die Entstehung der Gebirge und ihre Structur flossen unmittelbar aus den umfassenden Theorien, nach denen man sich die ursprüngliche Bildung der Erde so oder anders dachte. Jetzt aber läßt die Forschung die Frage nach der Schöpfung der Erde und die Beschaffenheit ihres Innern, die Geogenie, vorläufig bei Seite liegen und gestattet keiner umfassenden Hypothese Einfluß auf ihren bedächtigen und langsamen, aber sichern Gang. Man hat - und darin besteht auch hier der Fortschritt - gerade Kenntnisse genug gesammelt, um einzusehen, daß die ganze Masse unseres jetzigen geologischen Wissens, gegen die Unendlichkeit des Problems gehalten, gleichsam keinen meßbaren Winkel einschließt;

Geschichtliches über Erdbildung.

Vom Verhältniß der Geologie zu unserer Zeit.

Der Schluß des vorigen Jahrhunderts wird für alle Zeiten eine der merkwürdigsten Epochen in der Geschichte der Cultur wie der Staaten bleiben. In allen Zweigen des menschlichen Wissens und Erkennens wurde damals das bisherige Gleichgewicht der Ueberzeugungen und Meinungen rasch aufgehoben. Die durch die französische Revolution erzeugten Ideen, die Kantische Philosophie, die völlige Umkehr der Physik und Chemie durch die großen Lehren von der Wahlverwandtschaft und der Polarität, die deutsche Naturphilosophie, die geognostischen Theorien Werners und James Huttons, Cuviers, Leopold v. Buchs und Alexander v. Humboldts so fruchtbare Gedanken und Forschungen – alles dieß drängt sich in eine kurze Reihe von Jahren zusammen; es sind eben so viele einflußreiche und umfassende Aperçus, welche den Gesichtskreis des Menschen nach den verschiedensten Seiten aufs überraschendste erweitert haben. Aber der Geist fand in allen nur eine augenblickliche Befriedigung. Aus den Höhen, auf die er gehoben wurde, erblickte er nirgends ein unmittelbares Ziel seines Strebens; er übersah nur einen viel weitern Horizont als zuvor, voll Räthsel und Schwierigkeiten. Man überzeugte sich nach allen Seiten, daß die Synthesen des achtzehnten Jahrhunderts im Leben und Wissen blinde Anticipationen gewesen, daß vor Allem noth thue, das Geschäft der Analysis ernstlich und nach neuen Planen vorzunehmen; und der eigentliche Fortschritt bestand in Allem darin, daß man von der Speculation zur Erfahrung zurückkehrte.

Alle jene umfassenden Begriffe, welche am Ende des vorigen Jahrhunderts zumal aufsprangen, bezeichnen in allen Richtungen den Punkt, wo der Mensch auf einmal unendlich klüger geworden zu seyn meinte; und er war dieß auch, aber nur weil er eben durch jene Revolutionen im Staat und in der Wissenschaft schnell zu der Ueberzeugung kam, daß er unendlich weniger wisse und vermöge als er bisher geglaubt, weil er resigniren lernte, weil er abstieg vom Rosse der Phantasie und zum Grabscheit griff. Die Menschheit war insofern wissender geworden, als ihr Blick nicht mehr suffisant über die Oberflächen der Erscheinungen hinweg- und hinausschweifte, sondern in ein unendliches Labyrinth von Aufgaben tauchte. Sie sah überall eine gränzenlose Bahn möglicher Forschung und Reform vor sich liegen und gewöhnte sich, der einzelnsten Thatsache ihr Recht widerfahren zu lassen.

Diese praktische Richtung, diese Achtung der Thatsache, der umsichtige Versuch, die Analysis charakterisiren recht eigentlich unser Zeitalter im Leben und in der Wissenschaft. Man hat einsehen gelernt, daß Rousseau's contrat social, gerade wie Buffons Erdtheorie, zu viel und damit nichts bewies. Durch Kaiser Josephs Reformen und durch die extreme Neptunistische Ansicht der Erdbildung wurde nach den jetzigen Erfahrungen dem Menschen und der Natur gleich viel Zwang angethan, und man weiß jetzt das Thatsächliche, das Gewordene und Gewachsene in beiden Gebieten besser aufzufassen, und damit auch zu würdigen. Die Vorurtheilslosigkeit der sensualistischen Philosophie wurde selbst als ein grobes Vorurtheil erkannt, gerade wie man sich nicht mehr mit den allgemeinen rohen Begriffen von Niederschlägen aus dem alten Ocean und von wiederholten Einbrüchen desselben befriedigt, um sich von der Structur der Erdrinde Rechenschaft zu geben. Man ist im Staatsleben und in der Naturforschung gleich gewitzigt; man arbeitet ungefähr nach demselben Plan an der Umbildung der öffentlichen Zustände und am Bau der Wissenschaften; man belauscht die Natur, statt sie zu meistern, man läßt weise die Räthsel und Schwierigkeiten stehen, statt sie zu illudiren oder systematisch zu überbauen, und sieht sich gerade dadurch unendlich gefördert, daß man nicht mehr meint, die allgemeine Glückseligkeit und die Einsicht in die Natur der Dinge erzwingen zu können.

Durch diese Richtung des allgemeinen Geistes haben die Naturwissenschaften im verflossenen halben Jahrhundert die außerordentlichsten Fortschritte gemacht. Manche haben sich zu ganz neuen Disciplinen gespalten; andrerseits sind zahlreiche Zweige zu stattlichen Bäumen bisher unbekannter Wissenschaften zusammengewachsen. Polyhistorie, auch nur im Bezirk der Naturforschung, wird mit jedem Tag unmöglicher, und auch die Wissenschaft gedeiht jetzt nur durch jene Theilung der Arbeit, welche die Seele der materiellen Production der neuern Zeit ist. Aber in keinem Gebiete waren die Entwickelungen rascher, die Resultate erstaunlicher, als in der Kenntniß von der Structur der Erdrinde, von den frühern Zuständen derselben und den Ursachen ihrer mannichfachen Zusammensetzung und ihrer Unebenheiten. Es bedurfte einer gewissen Reife aller Zweige der Naturforschung, bevor überhaupt die rationelle Grundlage der Geologie im neuern Sinn gelegt werden konnte. Die große Naturwahrheit, welche jetzt die Basis dieser Wissenschaft bildet, nämlich die Entstehung der Unebenheiten der Erdoberfläche durch Hebung von unten, war seit den ältesten Zeiten geahnt, aber von den Theorien immer wieder verkannt worden. Das scheinbar so leichte Räthselwort konnte erst dann mit Ueberzeugung ausgesprochen werden, nachdem die Lehren der neuern Chemie auf die Erdbildung falsch oder richtig angewendet und ein umfassendes System der Mineralogie aufgestellt worden war. Nicht minder mußte die Kenntniß der jetzigen Thier- und Pflanzenschöpfung zu einer gewissen Vollständigkeit gelangt seyn, wollte man die Bedeutung der in den Gebirgsarten eingeschlossenen Thier- und Pflanzenreste vollkommen würdigen. So erscheint die Geologie als das jugendliche Product zahlreicher Wissenschaften, welche selbst größtentheils erst seit wenigen Generationen in die klare Bahn sichern Fortschritts geleitet worden sind. Aber so jung sie ist, sie hat schon in der Wiege manche Schlange des Vorurtheils erdrückt, und durch ihre Ausbildung scheint unser Zeitalter recht eigentlich seine wissenschaftliche Mission zu erfüllen.

Diese moderne Disciplin zeigt auch sehr ausgesprochen den Charakter, den wir oben unserer Zeit überhaupt zugeschrieben, den der wissenschaftlichen Resignation. Früher ging alles Raisonnement über die Bildung der Erdrinde auf die Genesis des Erdballs selbst zurück, und die Begriffe über die Entstehung der Gebirge und ihre Structur flossen unmittelbar aus den umfassenden Theorien, nach denen man sich die ursprüngliche Bildung der Erde so oder anders dachte. Jetzt aber läßt die Forschung die Frage nach der Schöpfung der Erde und die Beschaffenheit ihres Innern, die Geogenie, vorläufig bei Seite liegen und gestattet keiner umfassenden Hypothese Einfluß auf ihren bedächtigen und langsamen, aber sichern Gang. Man hat – und darin besteht auch hier der Fortschritt – gerade Kenntnisse genug gesammelt, um einzusehen, daß die ganze Masse unseres jetzigen geologischen Wissens, gegen die Unendlichkeit des Problems gehalten, gleichsam keinen meßbaren Winkel einschließt;

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[0337/0009] Geschichtliches über Erdbildung. Vom Verhältniß der Geologie zu unserer Zeit. Der Schluß des vorigen Jahrhunderts wird für alle Zeiten eine der merkwürdigsten Epochen in der Geschichte der Cultur wie der Staaten bleiben. In allen Zweigen des menschlichen Wissens und Erkennens wurde damals das bisherige Gleichgewicht der Ueberzeugungen und Meinungen rasch aufgehoben. Die durch die französische Revolution erzeugten Ideen, die Kantische Philosophie, die völlige Umkehr der Physik und Chemie durch die großen Lehren von der Wahlverwandtschaft und der Polarität, die deutsche Naturphilosophie, die geognostischen Theorien Werners und James Huttons, Cuviers, Leopold v. Buchs und Alexander v. Humboldts so fruchtbare Gedanken und Forschungen – alles dieß drängt sich in eine kurze Reihe von Jahren zusammen; es sind eben so viele einflußreiche und umfassende Aperçus, welche den Gesichtskreis des Menschen nach den verschiedensten Seiten aufs überraschendste erweitert haben. Aber der Geist fand in allen nur eine augenblickliche Befriedigung. Aus den Höhen, auf die er gehoben wurde, erblickte er nirgends ein unmittelbares Ziel seines Strebens; er übersah nur einen viel weitern Horizont als zuvor, voll Räthsel und Schwierigkeiten. Man überzeugte sich nach allen Seiten, daß die Synthesen des achtzehnten Jahrhunderts im Leben und Wissen blinde Anticipationen gewesen, daß vor Allem noth thue, das Geschäft der Analysis ernstlich und nach neuen Planen vorzunehmen; und der eigentliche Fortschritt bestand in Allem darin, daß man von der Speculation zur Erfahrung zurückkehrte. Alle jene umfassenden Begriffe, welche am Ende des vorigen Jahrhunderts zumal aufsprangen, bezeichnen in allen Richtungen den Punkt, wo der Mensch auf einmal unendlich klüger geworden zu seyn meinte; und er war dieß auch, aber nur weil er eben durch jene Revolutionen im Staat und in der Wissenschaft schnell zu der Ueberzeugung kam, daß er unendlich weniger wisse und vermöge als er bisher geglaubt, weil er resigniren lernte, weil er abstieg vom Rosse der Phantasie und zum Grabscheit griff. Die Menschheit war insofern wissender geworden, als ihr Blick nicht mehr suffisant über die Oberflächen der Erscheinungen hinweg- und hinausschweifte, sondern in ein unendliches Labyrinth von Aufgaben tauchte. Sie sah überall eine gränzenlose Bahn möglicher Forschung und Reform vor sich liegen und gewöhnte sich, der einzelnsten Thatsache ihr Recht widerfahren zu lassen. Diese praktische Richtung, diese Achtung der Thatsache, der umsichtige Versuch, die Analysis charakterisiren recht eigentlich unser Zeitalter im Leben und in der Wissenschaft. Man hat einsehen gelernt, daß Rousseau's contrat social, gerade wie Buffons Erdtheorie, zu viel und damit nichts bewies. Durch Kaiser Josephs Reformen und durch die extreme Neptunistische Ansicht der Erdbildung wurde nach den jetzigen Erfahrungen dem Menschen und der Natur gleich viel Zwang angethan, und man weiß jetzt das Thatsächliche, das Gewordene und Gewachsene in beiden Gebieten besser aufzufassen, und damit auch zu würdigen. Die Vorurtheilslosigkeit der sensualistischen Philosophie wurde selbst als ein grobes Vorurtheil erkannt, gerade wie man sich nicht mehr mit den allgemeinen rohen Begriffen von Niederschlägen aus dem alten Ocean und von wiederholten Einbrüchen desselben befriedigt, um sich von der Structur der Erdrinde Rechenschaft zu geben. Man ist im Staatsleben und in der Naturforschung gleich gewitzigt; man arbeitet ungefähr nach demselben Plan an der Umbildung der öffentlichen Zustände und am Bau der Wissenschaften; man belauscht die Natur, statt sie zu meistern, man läßt weise die Räthsel und Schwierigkeiten stehen, statt sie zu illudiren oder systematisch zu überbauen, und sieht sich gerade dadurch unendlich gefördert, daß man nicht mehr meint, die allgemeine Glückseligkeit und die Einsicht in die Natur der Dinge erzwingen zu können. Durch diese Richtung des allgemeinen Geistes haben die Naturwissenschaften im verflossenen halben Jahrhundert die außerordentlichsten Fortschritte gemacht. Manche haben sich zu ganz neuen Disciplinen gespalten; andrerseits sind zahlreiche Zweige zu stattlichen Bäumen bisher unbekannter Wissenschaften zusammengewachsen. Polyhistorie, auch nur im Bezirk der Naturforschung, wird mit jedem Tag unmöglicher, und auch die Wissenschaft gedeiht jetzt nur durch jene Theilung der Arbeit, welche die Seele der materiellen Production der neuern Zeit ist. Aber in keinem Gebiete waren die Entwickelungen rascher, die Resultate erstaunlicher, als in der Kenntniß von der Structur der Erdrinde, von den frühern Zuständen derselben und den Ursachen ihrer mannichfachen Zusammensetzung und ihrer Unebenheiten. Es bedurfte einer gewissen Reife aller Zweige der Naturforschung, bevor überhaupt die rationelle Grundlage der Geologie im neuern Sinn gelegt werden konnte. Die große Naturwahrheit, welche jetzt die Basis dieser Wissenschaft bildet, nämlich die Entstehung der Unebenheiten der Erdoberfläche durch Hebung von unten, war seit den ältesten Zeiten geahnt, aber von den Theorien immer wieder verkannt worden. Das scheinbar so leichte Räthselwort konnte erst dann mit Ueberzeugung ausgesprochen werden, nachdem die Lehren der neuern Chemie auf die Erdbildung falsch oder richtig angewendet und ein umfassendes System der Mineralogie aufgestellt worden war. Nicht minder mußte die Kenntniß der jetzigen Thier- und Pflanzenschöpfung zu einer gewissen Vollständigkeit gelangt seyn, wollte man die Bedeutung der in den Gebirgsarten eingeschlossenen Thier- und Pflanzenreste vollkommen würdigen. So erscheint die Geologie als das jugendliche Product zahlreicher Wissenschaften, welche selbst größtentheils erst seit wenigen Generationen in die klare Bahn sichern Fortschritts geleitet worden sind. Aber so jung sie ist, sie hat schon in der Wiege manche Schlange des Vorurtheils erdrückt, und durch ihre Ausbildung scheint unser Zeitalter recht eigentlich seine wissenschaftliche Mission zu erfüllen. Diese moderne Disciplin zeigt auch sehr ausgesprochen den Charakter, den wir oben unserer Zeit überhaupt zugeschrieben, den der wissenschaftlichen Resignation. Früher ging alles Raisonnement über die Bildung der Erdrinde auf die Genesis des Erdballs selbst zurück, und die Begriffe über die Entstehung der Gebirge und ihre Structur flossen unmittelbar aus den umfassenden Theorien, nach denen man sich die ursprüngliche Bildung der Erde so oder anders dachte. Jetzt aber läßt die Forschung die Frage nach der Schöpfung der Erde und die Beschaffenheit ihres Innern, die Geogenie, vorläufig bei Seite liegen und gestattet keiner umfassenden Hypothese Einfluß auf ihren bedächtigen und langsamen, aber sichern Gang. Man hat – und darin besteht auch hier der Fortschritt – gerade Kenntnisse genug gesammelt, um einzusehen, daß die ganze Masse unseres jetzigen geologischen Wissens, gegen die Unendlichkeit des Problems gehalten, gleichsam keinen meßbaren Winkel einschließt;

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 43. Augsburg, 12. Februar 1840, S. 0337. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_043_18400212/9>, abgerufen am 30.04.2024.