Allgemeine Zeitung. Nr. 74. Augsburg, 14. März 1840.Deutsche Litteratur und französische Kritik. Die Revue des deux mondes - eine Zeitschrift, die, es ist nicht zu verkennen, von Jahr zu Jahr im Ganzen gehaltvoller wird, und namentlich die englischen Reviews in den Schatten stellt, welche, was Kritik anlangt, nachgerade allen wissenschaftlichen Gesichtspunkt verlieren, und nur noch so zu sagen intuitiv oder instinctmäßig loben und tadeln - enthält in ihrem neuesten Heft eine "Revue litteraire de l'Allemagne" von Xavier Marmier, einem fleißigen Mitarbeiter. Wir geben eine Uebersetzung dieses Aufsatzes, theils weil die immer reger werdende geistige Wechselbeziehung zwischen den Völkern an sich interessant genug ist, theils auch, weil er das deutsche Schriftenthum im Verhältniß zum deutschen öffentlichen Leben - sit venia verbo - aufzufassen sucht. Manche Gallicismen wird der deutsche Leser belächeln, dadurch aber sich nicht hindern lassen, das mehr oder minder Wahre in diesen Urtheilen eines Fremden anzuerkennen. Marmier schreibt: Einmal jedoch hat der Deutsche des jetzigen Jahrhunderts sich kühn und feurig erhoben, um ins Feld zu rücken gegen uns. In Wahrheit, es war eine schöne Bewegung. Da war nicht mehr die Rede von den Unterschieden all jener deutschen Königreiche, Herzogthümer und Fürstenthümer; die zerstückten Glieder des alten Reichs hatten ihre Stahlrüstung wieder gefunden und ihr Wehrgehäng von Eisen. Der deutsche Norden reichte dem deutschen Süden die Hand, und das Volk, gestachelt wie ein Kampfstier, in wilden Sätzen springend wie ein verwundeter Löwe, stürzte sich auf die Walstatt, schwang sein Schwert und schüttelte sein blondes Haar. Die Musen selbst wappneten sich mit dem Helm der Minerva. Der Lehrer der Hochschule trat wie der Mönch des Mittelalters aus seiner Celle, um sich dem Kreuzzug anzureihen, der Student verkaufte seine Bücher, um ein Pferd zu kaufen, und der Dichter, dem Barden von Erin gleich, bespannte seinen Bogen mit der Saite seiner Leyer. Der zornige Jahn (le fougueux Jahn) predigte, auf der Heerstraße gen Frankreich fahrend, das deutsche Volksthum; *) "Als wir den Mansfelder thäten jagen," spricht die Marketenderin. - Was Deutschland den Franzosen in politischer, und etwa auch in wissenschaftlich-litterarischer Hinsicht zu danken hat, soll ihnen gern anerkannt seyn, um so mehr, als ohne diese Vergütung wir Deutschen historisch gar zu viel gegen Frankreich auf dem Kerbholz haben würden. Wenn indeß Hr. Marmier die Deutschen zu Aehrenlesern oder Ausdreschern der französischen Ideen macht - und in dieser glücklichen Suffisance sind die Franzosen sich so ziemlich alle gleich - so darf, was den Handelsartikel der "Ideen", d. h. der geistig befruchtenden Urgedanken betrifft, Deutschland seinen überrheinischen Nachbar getrost zur Bilanz auffordern. Frankreich jedenfalls würde nichts herausbezahlt erhalten. Wenn gewisse deutsche Ideen in Frankreich noch wenig Frucht getragen haben - "tant pis pour Mademoiselle Jeanneton." Um im Fache der Litteratur nur Eins zu erwähnen, so ließen aus dem einzigen Jean Paul, obgleich er dem Baume der Erkenntniß persönlich nicht so nahe stand, sich zehn gedankenschwerere Rochefoucaulds und Labruyeres ausscheiden, und Jean Paul bliebe noch immer überreich. Anm. des Uebersetzers. *) Soll heißen Untersberg, den eine süddeutsche Sage statt des Kyffhäusers nennt.
Deutsche Litteratur und französische Kritik. Die Revue des deux mondes – eine Zeitschrift, die, es ist nicht zu verkennen, von Jahr zu Jahr im Ganzen gehaltvoller wird, und namentlich die englischen Reviews in den Schatten stellt, welche, was Kritik anlangt, nachgerade allen wissenschaftlichen Gesichtspunkt verlieren, und nur noch so zu sagen intuitiv oder instinctmäßig loben und tadeln – enthält in ihrem neuesten Heft eine „Revue littéraire de l'Allemagne“ von Xavier Marmier, einem fleißigen Mitarbeiter. Wir geben eine Uebersetzung dieses Aufsatzes, theils weil die immer reger werdende geistige Wechselbeziehung zwischen den Völkern an sich interessant genug ist, theils auch, weil er das deutsche Schriftenthum im Verhältniß zum deutschen öffentlichen Leben – sit venia verbo – aufzufassen sucht. Manche Gallicismen wird der deutsche Leser belächeln, dadurch aber sich nicht hindern lassen, das mehr oder minder Wahre in diesen Urtheilen eines Fremden anzuerkennen. Marmier schreibt: Einmal jedoch hat der Deutsche des jetzigen Jahrhunderts sich kühn und feurig erhoben, um ins Feld zu rücken gegen uns. In Wahrheit, es war eine schöne Bewegung. Da war nicht mehr die Rede von den Unterschieden all jener deutschen Königreiche, Herzogthümer und Fürstenthümer; die zerstückten Glieder des alten Reichs hatten ihre Stahlrüstung wieder gefunden und ihr Wehrgehäng von Eisen. Der deutsche Norden reichte dem deutschen Süden die Hand, und das Volk, gestachelt wie ein Kampfstier, in wilden Sätzen springend wie ein verwundeter Löwe, stürzte sich auf die Walstatt, schwang sein Schwert und schüttelte sein blondes Haar. Die Musen selbst wappneten sich mit dem Helm der Minerva. Der Lehrer der Hochschule trat wie der Mönch des Mittelalters aus seiner Celle, um sich dem Kreuzzug anzureihen, der Student verkaufte seine Bücher, um ein Pferd zu kaufen, und der Dichter, dem Barden von Erin gleich, bespannte seinen Bogen mit der Saite seiner Leyer. Der zornige Jahn (le fougueux Jahn) predigte, auf der Heerstraße gen Frankreich fahrend, das deutsche Volksthum; *) „Als wir den Mansfelder thäten jagen,“ spricht die Marketenderin. – Was Deutschland den Franzosen in politischer, und etwa auch in wissenschaftlich-litterarischer Hinsicht zu danken hat, soll ihnen gern anerkannt seyn, um so mehr, als ohne diese Vergütung wir Deutschen historisch gar zu viel gegen Frankreich auf dem Kerbholz haben würden. Wenn indeß Hr. Marmier die Deutschen zu Aehrenlesern oder Ausdreschern der französischen Ideen macht – und in dieser glücklichen Suffisance sind die Franzosen sich so ziemlich alle gleich – so darf, was den Handelsartikel der „Ideen“, d. h. der geistig befruchtenden Urgedanken betrifft, Deutschland seinen überrheinischen Nachbar getrost zur Bilanz auffordern. Frankreich jedenfalls würde nichts herausbezahlt erhalten. Wenn gewisse deutsche Ideen in Frankreich noch wenig Frucht getragen haben – „tant pis pour Mademoiselle Jeanneton.“ Um im Fache der Litteratur nur Eins zu erwähnen, so ließen aus dem einzigen Jean Paul, obgleich er dem Baume der Erkenntniß persönlich nicht so nahe stand, sich zehn gedankenschwerere Rochefoucaulds und Labruyéres ausscheiden, und Jean Paul bliebe noch immer überreich. Anm. des Uebersetzers. *) Soll heißen Untersberg, den eine süddeutsche Sage statt des Kyffhäusers nennt.
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Manche Gallicismen wird der deutsche Leser belächeln, dadurch aber sich nicht hindern lassen, das mehr oder minder Wahre in diesen Urtheilen eines Fremden anzuerkennen. Marmier schreibt:<lb/> „Vor zwölf Jahren fing Hr. Wolfgang Menzel sein Buch über die deutsche Litteratur mit den Worten an: „„Die Deutschen thun nicht viel, aber sie schreiben desto mehr. Wenn dereinst ein Bürger der kommenden Jahrhunderte auf den gegenwärtigen Zeitpunkt der deutschen Geschichte zurückblickt, so werden ihm mehr Bücher als Menschen vorkommen. Er wird sagen, wir haben geschlafen und in Büchern geträumt. Wir sind ein Schreibervolk geworden und können statt des Doppeladlers eine Gans in unser Wappen setzen.““ Diese Ausdehnung der deutschen Presse, welche die deutsche Kritik selbst im Jahr 1828 mit bitterer Ironie rügte, hat sich seitdem nur vergrößert. Jedes Jahr schwillt der Katalog der neuen Bücher an, jedes Jahr ergießen sich die tausend Bäche des deutschen Buchhandels in das ungeheuere Bassin von Leipzig. Sonst konnte man die Werke, welche die litterarischen Bulletins der Ostern- und Michaelismesse ankündigten, ohne allzu große Mühe doch noch zählen, jetzt aber muß der unerschrockenste Statistiker vor dieser Aufgabe zurückbeben. Ebenso gut könnte man die Blätter des Waldes zählen, die der Wind im Herbst verstreut. Das ist kein Normalzustand mehr, es ist eine Plage wie die der ägyptischen Heuschrecken. – Während England und Amerika mit rastloser Thätigkeit sich in neue Bahnen des Handels und der Industrie werfen, während Frankreich um die politische Tribune sich zusammenrottet (s'ameute – ein drastisches Wort!), sitzt Deutschland unbeweglich wie eine Spinnerin an der Ecke ihres Herds, und zieht geduldig „des Fadens ew'ge Länge“ von der Kunkel. Alles, was uns so viel lebhafte und plötzliche Erregungen verursacht, kräuselt die deutsche Stille kaum mit einem leisen Geräusch. Wenn wir <note place="foot" n="*)"> „Als wir den Mansfelder thäten jagen,“ spricht die Marketenderin. – Was Deutschland den Franzosen in politischer, und etwa auch in wissenschaftlich-litterarischer Hinsicht zu danken hat, soll ihnen gern anerkannt seyn, um so mehr, als ohne diese Vergütung wir Deutschen historisch gar zu viel gegen Frankreich auf dem Kerbholz haben würden. Wenn indeß Hr. Marmier die Deutschen zu Aehrenlesern oder Ausdreschern der französischen Ideen macht – und in dieser glücklichen Suffisance sind die Franzosen sich so ziemlich alle gleich – so darf, was den Handelsartikel der „Ideen“, d. h. der geistig befruchtenden Urgedanken betrifft, Deutschland seinen überrheinischen Nachbar getrost zur Bilanz auffordern. Frankreich jedenfalls würde nichts herausbezahlt erhalten. Wenn gewisse deutsche Ideen in Frankreich noch wenig Frucht getragen haben – „tant pis pour Mademoiselle Jeanneton.“ Um im Fache der Litteratur nur Eins zu erwähnen, so ließen aus dem einzigen <hi rendition="#g">Jean Paul</hi>, obgleich er dem Baume der Erkenntniß persönlich nicht so nahe stand, sich zehn <hi rendition="#g">gedankenschwerere</hi> Rochefoucaulds und Labruyéres ausscheiden, und Jean Paul bliebe noch immer überreich.<lb/> Anm. des Uebersetzers.</note> eine Idee in die Welt schleudern, so übergibt Deutschland sie der Analyse seiner Schulen, und wenn wir handeln, so träumt es und schwärmt. Doch hieße es dem Deutschen Unrecht thun, wenn man diese Gemüthsruhe der Gleichgültigkeit zuschriebe. Nein, das alte germanische Blut kann nicht dergestalt sich selbst verläugnen. Im Grunde der deutschen Nation liegt zu viel Edelmuth, zu viel Adel des Charakters, als daß die sociale Bewegung der sie umwohnenden Völker, ihre Kampfestage, ihr Hoffen und Fürchten, ihre Erfolge und ihre Unfälle nicht eine wahrhafte Sympathie in ihr erregen sollten. Mit mehr Recht ließe sich den Deutschen vorwerfen, daß sie alle Augenblicke sich selbst vergessen und in eine Art banalen Weltbürgerthums zurückfallen. Aber es gehört zum deutschen Wesen, mehr abzuhandeln als zu handeln. Deutschland wohnt dem Kampfe der Völker bei wie die alten Turnierrichter dem Ritterspiel: um die Schrankenweite und die Waffen der Kämpfer zu messen. Es mischt sich in das Drama der neuen Geschichte wie der Chor der griechischen Tragödie, der mit freudiger oder klagender Stimme bald den Siegesruf des Helden, bald die Seufzer des Schlachtopfers wiederholte. 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Ich fürchte sehr, ganz Deutschland gleicht diesem alten Hohenstaufen: wie <hi rendition="#g">er</hi> sitzt es in der Zauberhöhle, und harrt, um sich zur früheren Thatkraft zu ermannen, bis die Raben nicht mehr fliegen und sein Bart auf dem Boden schleppt.</p><lb/> <p>Einmal jedoch hat der Deutsche des jetzigen Jahrhunderts sich kühn und feurig erhoben, um ins Feld zu rücken gegen uns. In Wahrheit, es war eine schöne Bewegung. Da war nicht mehr die Rede von den Unterschieden all jener deutschen Königreiche, Herzogthümer und Fürstenthümer; die zerstückten Glieder des alten Reichs hatten ihre Stahlrüstung wieder gefunden und ihr Wehrgehäng von Eisen. Der deutsche Norden reichte dem deutschen Süden die Hand, und das Volk, gestachelt wie ein Kampfstier, in wilden Sätzen springend wie ein verwundeter Löwe, stürzte sich auf die Walstatt, schwang sein Schwert und schüttelte sein blondes Haar. Die Musen selbst wappneten sich mit dem Helm der Minerva. Der Lehrer der Hochschule trat wie der Mönch des Mittelalters aus seiner Celle, um sich dem Kreuzzug anzureihen, der Student verkaufte seine Bücher, um ein Pferd zu kaufen, und der Dichter, dem Barden von Erin gleich, bespannte seinen Bogen mit der Saite seiner Leyer. Der zornige Jahn (le fougueux Jahn) predigte, auf der Heerstraße gen Frankreich fahrend, das deutsche Volksthum;<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0585/0009]
Deutsche Litteratur und französische Kritik.
Die Revue des deux mondes – eine Zeitschrift, die, es ist nicht zu verkennen, von Jahr zu Jahr im Ganzen gehaltvoller wird, und namentlich die englischen Reviews in den Schatten stellt, welche, was Kritik anlangt, nachgerade allen wissenschaftlichen Gesichtspunkt verlieren, und nur noch so zu sagen intuitiv oder instinctmäßig loben und tadeln – enthält in ihrem neuesten Heft eine „Revue littéraire de l'Allemagne“ von Xavier Marmier, einem fleißigen Mitarbeiter. Wir geben eine Uebersetzung dieses Aufsatzes, theils weil die immer reger werdende geistige Wechselbeziehung zwischen den Völkern an sich interessant genug ist, theils auch, weil er das deutsche Schriftenthum im Verhältniß zum deutschen öffentlichen Leben – sit venia verbo – aufzufassen sucht. Manche Gallicismen wird der deutsche Leser belächeln, dadurch aber sich nicht hindern lassen, das mehr oder minder Wahre in diesen Urtheilen eines Fremden anzuerkennen. Marmier schreibt:
„Vor zwölf Jahren fing Hr. Wolfgang Menzel sein Buch über die deutsche Litteratur mit den Worten an: „„Die Deutschen thun nicht viel, aber sie schreiben desto mehr. Wenn dereinst ein Bürger der kommenden Jahrhunderte auf den gegenwärtigen Zeitpunkt der deutschen Geschichte zurückblickt, so werden ihm mehr Bücher als Menschen vorkommen. Er wird sagen, wir haben geschlafen und in Büchern geträumt. Wir sind ein Schreibervolk geworden und können statt des Doppeladlers eine Gans in unser Wappen setzen.““ Diese Ausdehnung der deutschen Presse, welche die deutsche Kritik selbst im Jahr 1828 mit bitterer Ironie rügte, hat sich seitdem nur vergrößert. Jedes Jahr schwillt der Katalog der neuen Bücher an, jedes Jahr ergießen sich die tausend Bäche des deutschen Buchhandels in das ungeheuere Bassin von Leipzig. Sonst konnte man die Werke, welche die litterarischen Bulletins der Ostern- und Michaelismesse ankündigten, ohne allzu große Mühe doch noch zählen, jetzt aber muß der unerschrockenste Statistiker vor dieser Aufgabe zurückbeben. Ebenso gut könnte man die Blätter des Waldes zählen, die der Wind im Herbst verstreut. Das ist kein Normalzustand mehr, es ist eine Plage wie die der ägyptischen Heuschrecken. – Während England und Amerika mit rastloser Thätigkeit sich in neue Bahnen des Handels und der Industrie werfen, während Frankreich um die politische Tribune sich zusammenrottet (s'ameute – ein drastisches Wort!), sitzt Deutschland unbeweglich wie eine Spinnerin an der Ecke ihres Herds, und zieht geduldig „des Fadens ew'ge Länge“ von der Kunkel. Alles, was uns so viel lebhafte und plötzliche Erregungen verursacht, kräuselt die deutsche Stille kaum mit einem leisen Geräusch. Wenn wir *) eine Idee in die Welt schleudern, so übergibt Deutschland sie der Analyse seiner Schulen, und wenn wir handeln, so träumt es und schwärmt. Doch hieße es dem Deutschen Unrecht thun, wenn man diese Gemüthsruhe der Gleichgültigkeit zuschriebe. Nein, das alte germanische Blut kann nicht dergestalt sich selbst verläugnen. Im Grunde der deutschen Nation liegt zu viel Edelmuth, zu viel Adel des Charakters, als daß die sociale Bewegung der sie umwohnenden Völker, ihre Kampfestage, ihr Hoffen und Fürchten, ihre Erfolge und ihre Unfälle nicht eine wahrhafte Sympathie in ihr erregen sollten. Mit mehr Recht ließe sich den Deutschen vorwerfen, daß sie alle Augenblicke sich selbst vergessen und in eine Art banalen Weltbürgerthums zurückfallen. Aber es gehört zum deutschen Wesen, mehr abzuhandeln als zu handeln. Deutschland wohnt dem Kampfe der Völker bei wie die alten Turnierrichter dem Ritterspiel: um die Schrankenweite und die Waffen der Kämpfer zu messen. Es mischt sich in das Drama der neuen Geschichte wie der Chor der griechischen Tragödie, der mit freudiger oder klagender Stimme bald den Siegesruf des Helden, bald die Seufzer des Schlachtopfers wiederholte. Die Sage erzählt, in einer Höhle des Wunderbergs *) sitze der Kaiser Friedrich Barbarossa, sein Schwert an der Seite, vor einem Tisch von Marmelstein. Manchmal wandeln Hirten vorüber und berichten ihm, was in der Welt vorgeht. Der alte Kaiser hört gesenkten Hauptes ihre Mähr, und fragt, „ob die alten Raben noch fliegen um den Berg;“ dann erst wenn die Raben nicht mehr fliegen, und wenn sein feuerrother Bart sich dreimal um den Tisch schlingt (französische Variante!), wird er heraufsteigen aus dem Felsenschooße und wieder erscheinen auf den Schlachtfeldern seines Volks. Ich fürchte sehr, ganz Deutschland gleicht diesem alten Hohenstaufen: wie er sitzt es in der Zauberhöhle, und harrt, um sich zur früheren Thatkraft zu ermannen, bis die Raben nicht mehr fliegen und sein Bart auf dem Boden schleppt.
Einmal jedoch hat der Deutsche des jetzigen Jahrhunderts sich kühn und feurig erhoben, um ins Feld zu rücken gegen uns. In Wahrheit, es war eine schöne Bewegung. Da war nicht mehr die Rede von den Unterschieden all jener deutschen Königreiche, Herzogthümer und Fürstenthümer; die zerstückten Glieder des alten Reichs hatten ihre Stahlrüstung wieder gefunden und ihr Wehrgehäng von Eisen. Der deutsche Norden reichte dem deutschen Süden die Hand, und das Volk, gestachelt wie ein Kampfstier, in wilden Sätzen springend wie ein verwundeter Löwe, stürzte sich auf die Walstatt, schwang sein Schwert und schüttelte sein blondes Haar. Die Musen selbst wappneten sich mit dem Helm der Minerva. Der Lehrer der Hochschule trat wie der Mönch des Mittelalters aus seiner Celle, um sich dem Kreuzzug anzureihen, der Student verkaufte seine Bücher, um ein Pferd zu kaufen, und der Dichter, dem Barden von Erin gleich, bespannte seinen Bogen mit der Saite seiner Leyer. Der zornige Jahn (le fougueux Jahn) predigte, auf der Heerstraße gen Frankreich fahrend, das deutsche Volksthum;
*) „Als wir den Mansfelder thäten jagen,“ spricht die Marketenderin. – Was Deutschland den Franzosen in politischer, und etwa auch in wissenschaftlich-litterarischer Hinsicht zu danken hat, soll ihnen gern anerkannt seyn, um so mehr, als ohne diese Vergütung wir Deutschen historisch gar zu viel gegen Frankreich auf dem Kerbholz haben würden. Wenn indeß Hr. Marmier die Deutschen zu Aehrenlesern oder Ausdreschern der französischen Ideen macht – und in dieser glücklichen Suffisance sind die Franzosen sich so ziemlich alle gleich – so darf, was den Handelsartikel der „Ideen“, d. h. der geistig befruchtenden Urgedanken betrifft, Deutschland seinen überrheinischen Nachbar getrost zur Bilanz auffordern. Frankreich jedenfalls würde nichts herausbezahlt erhalten. Wenn gewisse deutsche Ideen in Frankreich noch wenig Frucht getragen haben – „tant pis pour Mademoiselle Jeanneton.“ Um im Fache der Litteratur nur Eins zu erwähnen, so ließen aus dem einzigen Jean Paul, obgleich er dem Baume der Erkenntniß persönlich nicht so nahe stand, sich zehn gedankenschwerere Rochefoucaulds und Labruyéres ausscheiden, und Jean Paul bliebe noch immer überreich.
Anm. des Uebersetzers.
*) Soll heißen Untersberg, den eine süddeutsche Sage statt des Kyffhäusers nennt.
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