Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Allgemeine Zeitung. Nr. 88. Augsburg, 28. März 1840.

Bild:
<< vorherige Seite
Marmier und die deutsche Litteratur.

I. Von den französischen Beurtheilungen deutscher Zustände überhaupt.

Sie haben in Ihren Blättern vom 14 März u. ff. unter dem Titel: "Deutsche Litteratur und französische Kritik", einem Aufsatz des Mr. Marmier Aufnahme gestattet. Erlauben Sie, daß ich ihm einen andern unter dem Titel: Marmier und die deutsche Litteratur entgegenstelle. Er sollte eigentlich überschrieben seyn: Marmier und Deutschland, denn der französische Litterat hat von der Litteratur Gelegenheit genommen, so ziemlich Alles in seinen Gesichtskreis zu ziehen und seinem Urtheil zu unterwerfen, was Deutschland auf dem Gebiet des öffentlichen und besondern Lebens, und in einzelnen Zweigen seiner Thätigkeit Eigenthümliches hat. Er hat das Alles gebraucht, um seine Paradoxa über unsere Litteratur zu beleuchten und zu accreditiren; daher folge ich der beschränkendern Bezeichnung, mit welcher Sie vorgegangen, und werde auch unter ihr zusammenbringen, was ich auf dem Herzen habe. Sie sind von manchen verständigen Männern meiner Umgebung getadelt worden, und werden auch wohl anderwärts getadelt worden seyn, daß Sie jenem meist seichten und eiteln Geschwätz eines in unsern Dingen sehr flach unterrichteten Fremdlings so viel Raum und durch die Aufnahme in Ihr weitverbreitetes Blatt, unser einziges publicistisch-litterarisches Organ von europäischer Geltung, eine Wichtigkeit gegeben haben, die ihm nicht gebührt, zumal wir darin zu einer Caricatur verzeichnet werden, wie sie die Franzosen in Paris auf den Theatern ihrer Boulevards, unter dem Namen des bon Allemand, in langem Ueberrock, die Hände in den Taschen und den Haarzopf auf dem Rücken, als Spießbürger oder als Bediente über ihre Bühne gehen sehen, und an deren barokem Wesen, kauderwälschem und mit deutschen Brocken versetztem Französisch und unbeholfener Gutmüthigkeit die honnetes bourgeois du Faubourg S. Antoine ein besonderes selbstgefälliges Wohlgefallen haben. Der Tadel dieser Männer schärfte sich durch die Erwägung, daß man jenem Product durch die Uebersetzung und durch diese Verbreitung eine Anerkennung bezeige, welche durch die eingestreuten Anmerkungen und Ausrufungszeichen nicht aufgehoben werde, und daß man durch solches Verfahren nur einen neuen Beweis oder einen neuen Vorwand denjenigen Fremden liefere, die uns des Mangels an nationalem Selbstgefühl und an Tact für das uns Anständige und Gebührende, und übergroßer Demuth oder Hörigkeit gegenüber den Fremden zeihen. *) Ein ähnliches Urtheil über Frankreich, wie es hier über Deutschland verbreitet werde, bemerkten sie, würde, von einem Deutschen ausgegangen, in keinem französischen Blatt Aufnahme gefunden haben, und wäre das gleichwohl geschehen, so würde die Aufnahme allgemeine Mißbilligung gefunden haben. Ich setzte diesen Tadlern entgegen, daß gerade die Unbesorgtheit der Deutschen über den Belang ihres wahren Werths, und die Unabhängigkeit, die sie auch fremdem Urtheil gestatten, wenn es auch aus Vorurtheilen fließe, die Aufnahme erkläre. Ein seines Volks Kundiger würde davon nicht berührt werden, und den Unachtsamen, Zerstreuten, oder nach dem Fremden noch immer mehr Trachtenden als nach dem Einheimischen, könnte das Ganze als Warnung, Einiges darin auch zur Belehrung dienen, und die Verkehrtheit des Products im Ganzen dürfe nicht abhalten, das Rechte oder Gute anzuerkennen, was sich in der Diatribe "des Feindes" finden könne, zumal wenn dieser, aus französischem Instinct uns abgeneigt, zugleich ein Wohlwollen zeige, das, trotz der Irrthümer und Albernheiten seines Urtheils, doch auf einen Rest von Gutmüthigkeit und auf ein Bestreben hinweise, das Wahre im Einzelnen zu erkennen, was er im Ganzen durch Unwissenheit wahrzunehmen und durch Eitelkeit zu beurtheilen gehindert werde. Auch sey Mr. Marmier nicht so sehr persönlich verantwortlich zu machen für die Thorheiten und Lächerlichkeiten, die er über uns berichte, sondern unterliege nur dem allgemeinen Uebel und Einfluß, dem höchst selten ein Franzose selbst der neuern Zeit und Schule sich entziehen könne, welcher die Deutschen aus denjenigen, die er zufällig in Paris gefunden, und aus dem, was er bei flüchtiger Eile eines kurzen Aufenthalts in ihrem Lande gesehen, oder bei unvollkommener Kenntniß ihrer Sprache sich aus ihren Büchern herausgelesen hat, beurtheile, und ihr ganzes Thun und Lassen in den verzogenen und verdrehten Gesichtskreis französischer Verbildung und des damit verbundenen Uebermuths ziehe, um der aus beiden fließenden trostlosen Effectmacherei ihrer Litteraten zu dienen, durch welche die Franzosen in Gefahr sind, die effectlosesten und geschmacklosesten Schriftsteller zu werden, welche die Zeit aufzuweisen hat.

Was Mr. Lerminier in seinem Buche au de-la du Rhin, welche Benennung er dem altbeliebten la bas substituirt hat, womit man sonst an der Seine unser Land bezeichnete, nach einem kurzen und unfruchtbaren Aufenthalt in einigen Südgegenden über uns gelernt und berichtet, davon haben Sie selbst eine Probe gegeben, und gleichwohl ist er noch der unbefangenste und freieste. Wer sollte Deutschland besser kennen als Mr. Cousin, der seine Lehranstalten zu untersuchen, zu beurtheilen und für Frankreich nutzbar zu machen Beruf und Auftrag hatte, und dem die respectvollen Huldigungen, die er von einzelnen demüthigen und beschränkten Schulpedanten unter uns gefunden hat, den Glauben müssen erregt haben, daß er uns, und wen er sonst seiner Beobachtung und Beurtheilung würdigt, besser verstehe als wir und diese andern selbst? Sicher aber ist allein, daß diese thörichten Huldigung ihm die größte Meinung von sich eingeflößt hat, wenn er sie nicht schon vorher besaß, und er darum bei der Ankündigung seines letzten Buches über den öffentlichen Unterricht in nicht französischen Ländern selbst verkündigte, es werde in Petersburg, Berlin, London und in welchen Hauptstädten der Welt sonst nicht! begierig erwartet. Gleichwohl ist er in seinem französischen Schulwesen oder Universitätsschulunwesen so versessen geblieben, daß er von einer Centralschule zur Bildung künftiger Lehrer nach seinem Zuschnitt als von einer fabrique de grands hommes sprechen konnte, sich also bei uns nicht hat überzeugen lassen, daß große Männer nicht auf Commando fabricirt werden, und daß er Preußen den Rath gibt, die philologischen Seminare in Breslau, Königsberg, Halle und Bonn, die Hauptquellen wissenschaftlicher Tüchtigkeit und Unabhängigkeit, die aus der Verschiedenheit des Betriebes und aus dem Wetteifer fließt, aufzuheben, und für die ganze preußische Monarchie eine solche Fabrik großer Männer nach französischem Zuschnitt in der Hauptstadt zu etabliren. Wer, der diesen Dingen einige Aufmerksamkeit schenkt, kennt nicht Mr. S. Marc-Girardin, dem der Süden

*) Die Redaction glaubt den Standpunkt bezeichnet zu haben, von dem aus es nicht ohne Interesse ist, zu wissen, wie das Ausland über uns denkt und schreibt. Der "deutschen Würde" wird dieß keinen Schaden bringen.
Marmier und die deutsche Litteratur.

I. Von den französischen Beurtheilungen deutscher Zustände überhaupt.

Sie haben in Ihren Blättern vom 14 März u. ff. unter dem Titel: „Deutsche Litteratur und französische Kritik“, einem Aufsatz des Mr. Marmier Aufnahme gestattet. Erlauben Sie, daß ich ihm einen andern unter dem Titel: Marmier und die deutsche Litteratur entgegenstelle. Er sollte eigentlich überschrieben seyn: Marmier und Deutschland, denn der französische Litterat hat von der Litteratur Gelegenheit genommen, so ziemlich Alles in seinen Gesichtskreis zu ziehen und seinem Urtheil zu unterwerfen, was Deutschland auf dem Gebiet des öffentlichen und besondern Lebens, und in einzelnen Zweigen seiner Thätigkeit Eigenthümliches hat. Er hat das Alles gebraucht, um seine Paradoxa über unsere Litteratur zu beleuchten und zu accreditiren; daher folge ich der beschränkendern Bezeichnung, mit welcher Sie vorgegangen, und werde auch unter ihr zusammenbringen, was ich auf dem Herzen habe. Sie sind von manchen verständigen Männern meiner Umgebung getadelt worden, und werden auch wohl anderwärts getadelt worden seyn, daß Sie jenem meist seichten und eiteln Geschwätz eines in unsern Dingen sehr flach unterrichteten Fremdlings so viel Raum und durch die Aufnahme in Ihr weitverbreitetes Blatt, unser einziges publicistisch-litterarisches Organ von europäischer Geltung, eine Wichtigkeit gegeben haben, die ihm nicht gebührt, zumal wir darin zu einer Caricatur verzeichnet werden, wie sie die Franzosen in Paris auf den Theatern ihrer Boulevards, unter dem Namen des bon Allemand, in langem Ueberrock, die Hände in den Taschen und den Haarzopf auf dem Rücken, als Spießbürger oder als Bediente über ihre Bühne gehen sehen, und an deren barokem Wesen, kauderwälschem und mit deutschen Brocken versetztem Französisch und unbeholfener Gutmüthigkeit die honnêtes bourgeois du Faubourg S. Antoine ein besonderes selbstgefälliges Wohlgefallen haben. Der Tadel dieser Männer schärfte sich durch die Erwägung, daß man jenem Product durch die Uebersetzung und durch diese Verbreitung eine Anerkennung bezeige, welche durch die eingestreuten Anmerkungen und Ausrufungszeichen nicht aufgehoben werde, und daß man durch solches Verfahren nur einen neuen Beweis oder einen neuen Vorwand denjenigen Fremden liefere, die uns des Mangels an nationalem Selbstgefühl und an Tact für das uns Anständige und Gebührende, und übergroßer Demuth oder Hörigkeit gegenüber den Fremden zeihen. *) Ein ähnliches Urtheil über Frankreich, wie es hier über Deutschland verbreitet werde, bemerkten sie, würde, von einem Deutschen ausgegangen, in keinem französischen Blatt Aufnahme gefunden haben, und wäre das gleichwohl geschehen, so würde die Aufnahme allgemeine Mißbilligung gefunden haben. Ich setzte diesen Tadlern entgegen, daß gerade die Unbesorgtheit der Deutschen über den Belang ihres wahren Werths, und die Unabhängigkeit, die sie auch fremdem Urtheil gestatten, wenn es auch aus Vorurtheilen fließe, die Aufnahme erkläre. Ein seines Volks Kundiger würde davon nicht berührt werden, und den Unachtsamen, Zerstreuten, oder nach dem Fremden noch immer mehr Trachtenden als nach dem Einheimischen, könnte das Ganze als Warnung, Einiges darin auch zur Belehrung dienen, und die Verkehrtheit des Products im Ganzen dürfe nicht abhalten, das Rechte oder Gute anzuerkennen, was sich in der Diatribe „des Feindes“ finden könne, zumal wenn dieser, aus französischem Instinct uns abgeneigt, zugleich ein Wohlwollen zeige, das, trotz der Irrthümer und Albernheiten seines Urtheils, doch auf einen Rest von Gutmüthigkeit und auf ein Bestreben hinweise, das Wahre im Einzelnen zu erkennen, was er im Ganzen durch Unwissenheit wahrzunehmen und durch Eitelkeit zu beurtheilen gehindert werde. Auch sey Mr. Marmier nicht so sehr persönlich verantwortlich zu machen für die Thorheiten und Lächerlichkeiten, die er über uns berichte, sondern unterliege nur dem allgemeinen Uebel und Einfluß, dem höchst selten ein Franzose selbst der neuern Zeit und Schule sich entziehen könne, welcher die Deutschen aus denjenigen, die er zufällig in Paris gefunden, und aus dem, was er bei flüchtiger Eile eines kurzen Aufenthalts in ihrem Lande gesehen, oder bei unvollkommener Kenntniß ihrer Sprache sich aus ihren Büchern herausgelesen hat, beurtheile, und ihr ganzes Thun und Lassen in den verzogenen und verdrehten Gesichtskreis französischer Verbildung und des damit verbundenen Uebermuths ziehe, um der aus beiden fließenden trostlosen Effectmacherei ihrer Litteraten zu dienen, durch welche die Franzosen in Gefahr sind, die effectlosesten und geschmacklosesten Schriftsteller zu werden, welche die Zeit aufzuweisen hat.

Was Mr. Lerminier in seinem Buche au de-là du Rhin, welche Benennung er dem altbeliebten là bas substituirt hat, womit man sonst an der Seine unser Land bezeichnete, nach einem kurzen und unfruchtbaren Aufenthalt in einigen Südgegenden über uns gelernt und berichtet, davon haben Sie selbst eine Probe gegeben, und gleichwohl ist er noch der unbefangenste und freieste. Wer sollte Deutschland besser kennen als Mr. Cousin, der seine Lehranstalten zu untersuchen, zu beurtheilen und für Frankreich nutzbar zu machen Beruf und Auftrag hatte, und dem die respectvollen Huldigungen, die er von einzelnen demüthigen und beschränkten Schulpedanten unter uns gefunden hat, den Glauben müssen erregt haben, daß er uns, und wen er sonst seiner Beobachtung und Beurtheilung würdigt, besser verstehe als wir und diese andern selbst? Sicher aber ist allein, daß diese thörichten Huldigung ihm die größte Meinung von sich eingeflößt hat, wenn er sie nicht schon vorher besaß, und er darum bei der Ankündigung seines letzten Buches über den öffentlichen Unterricht in nicht französischen Ländern selbst verkündigte, es werde in Petersburg, Berlin, London und in welchen Hauptstädten der Welt sonst nicht! begierig erwartet. Gleichwohl ist er in seinem französischen Schulwesen oder Universitätsschulunwesen so versessen geblieben, daß er von einer Centralschule zur Bildung künftiger Lehrer nach seinem Zuschnitt als von einer fabrique de grands hommes sprechen konnte, sich also bei uns nicht hat überzeugen lassen, daß große Männer nicht auf Commando fabricirt werden, und daß er Preußen den Rath gibt, die philologischen Seminare in Breslau, Königsberg, Halle und Bonn, die Hauptquellen wissenschaftlicher Tüchtigkeit und Unabhängigkeit, die aus der Verschiedenheit des Betriebes und aus dem Wetteifer fließt, aufzuheben, und für die ganze preußische Monarchie eine solche Fabrik großer Männer nach französischem Zuschnitt in der Hauptstadt zu etabliren. Wer, der diesen Dingen einige Aufmerksamkeit schenkt, kennt nicht Mr. S. Marc-Girardin, dem der Süden

*) Die Redaction glaubt den Standpunkt bezeichnet zu haben, von dem aus es nicht ohne Interesse ist, zu wissen, wie das Ausland über uns denkt und schreibt. Der „deutschen Würde“ wird dieß keinen Schaden bringen.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0009" n="0697"/>
      </div>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Marmier und die deutsche Litteratur</hi>.</hi> </head><lb/>
        <p>I. <hi rendition="#g">Von den französischen Beurtheilungen deutscher Zustände überhaupt</hi>.</p><lb/>
        <p>Sie haben in Ihren Blättern vom 14 März u. ff. unter dem Titel: &#x201E;Deutsche Litteratur und französische Kritik&#x201C;, einem Aufsatz des Mr. Marmier Aufnahme gestattet. Erlauben Sie, daß ich ihm einen andern unter dem Titel: <hi rendition="#g">Marmier und die deutsche Litteratur</hi> entgegenstelle. Er sollte eigentlich überschrieben seyn: <hi rendition="#g">Marmier und Deutschland</hi>, denn der französische Litterat hat von der Litteratur Gelegenheit genommen, so ziemlich Alles in seinen Gesichtskreis zu ziehen und seinem Urtheil zu unterwerfen, was Deutschland auf dem Gebiet des öffentlichen und besondern Lebens, und in einzelnen Zweigen seiner Thätigkeit Eigenthümliches hat. Er hat das Alles gebraucht, um seine Paradoxa über unsere Litteratur zu beleuchten und zu accreditiren; daher folge ich der beschränkendern Bezeichnung, mit welcher Sie vorgegangen, und werde auch unter ihr zusammenbringen, was ich auf dem Herzen habe. Sie sind von manchen verständigen Männern meiner Umgebung getadelt worden, und werden auch wohl anderwärts getadelt worden seyn, daß Sie jenem meist seichten und eiteln Geschwätz eines in unsern Dingen sehr flach unterrichteten Fremdlings so viel Raum und durch die Aufnahme in Ihr weitverbreitetes Blatt, unser einziges publicistisch-litterarisches Organ von europäischer Geltung, eine Wichtigkeit gegeben haben, die ihm nicht gebührt, zumal wir darin zu einer Caricatur verzeichnet werden, wie sie die Franzosen in Paris auf den Theatern ihrer Boulevards, unter dem Namen des bon Allemand, in langem Ueberrock, die Hände in den Taschen und den Haarzopf auf dem Rücken, als Spießbürger oder als Bediente über ihre Bühne gehen sehen, und an deren barokem Wesen, kauderwälschem und mit deutschen Brocken versetztem Französisch und unbeholfener Gutmüthigkeit die honnêtes bourgeois du Faubourg S. Antoine ein besonderes selbstgefälliges Wohlgefallen haben. Der Tadel dieser Männer schärfte sich durch die Erwägung, daß man jenem Product durch die Uebersetzung und durch diese Verbreitung eine Anerkennung bezeige, welche durch die eingestreuten Anmerkungen und Ausrufungszeichen nicht aufgehoben werde, und daß man durch solches Verfahren nur einen neuen Beweis oder einen neuen Vorwand denjenigen Fremden liefere, die uns des Mangels an nationalem Selbstgefühl und an Tact für das uns Anständige und Gebührende, und übergroßer Demuth oder Hörigkeit gegenüber den Fremden zeihen. <note place="foot" n="*)"> Die Redaction glaubt den Standpunkt bezeichnet zu haben, von dem aus es nicht ohne Interesse ist, zu wissen, wie das Ausland über uns denkt und schreibt. Der &#x201E;deutschen Würde&#x201C; wird dieß keinen Schaden bringen.</note> Ein ähnliches Urtheil über Frankreich, wie es hier über Deutschland verbreitet werde, bemerkten sie, würde, von einem Deutschen ausgegangen, in keinem französischen Blatt Aufnahme gefunden haben, und wäre das gleichwohl geschehen, so würde die Aufnahme allgemeine Mißbilligung gefunden haben. Ich setzte diesen Tadlern entgegen, daß gerade die Unbesorgtheit der Deutschen über den Belang ihres wahren Werths, und die Unabhängigkeit, die sie auch fremdem Urtheil gestatten, wenn es auch aus Vorurtheilen fließe, die Aufnahme erkläre. Ein seines Volks Kundiger würde davon nicht berührt werden, und den Unachtsamen, Zerstreuten, oder nach dem Fremden noch immer mehr Trachtenden als nach dem Einheimischen, könnte das Ganze als Warnung, Einiges darin auch zur Belehrung dienen, und die Verkehrtheit des Products im Ganzen dürfe nicht abhalten, das Rechte oder Gute anzuerkennen, was sich in der Diatribe &#x201E;des Feindes&#x201C; finden könne, zumal wenn dieser, aus französischem Instinct uns abgeneigt, zugleich ein Wohlwollen zeige, das, trotz der Irrthümer und Albernheiten seines Urtheils, doch auf einen Rest von Gutmüthigkeit und auf ein Bestreben hinweise, das Wahre im Einzelnen zu erkennen, was er im Ganzen durch Unwissenheit wahrzunehmen und durch Eitelkeit zu beurtheilen gehindert werde. Auch sey Mr. Marmier nicht so sehr persönlich verantwortlich zu machen für die Thorheiten und Lächerlichkeiten, die er über uns berichte, sondern unterliege nur dem allgemeinen Uebel und Einfluß, dem höchst selten ein Franzose selbst der neuern Zeit und Schule sich entziehen könne, welcher die Deutschen aus denjenigen, die er zufällig in Paris gefunden, und aus dem, was er bei flüchtiger Eile eines kurzen Aufenthalts in ihrem Lande gesehen, oder bei unvollkommener Kenntniß ihrer Sprache sich aus ihren Büchern herausgelesen hat, beurtheile, und ihr ganzes Thun und Lassen in den verzogenen und verdrehten Gesichtskreis französischer Verbildung und des damit verbundenen Uebermuths ziehe, um der aus beiden fließenden trostlosen Effectmacherei ihrer Litteraten zu dienen, durch welche die Franzosen in Gefahr sind, die effectlosesten und geschmacklosesten Schriftsteller zu werden, welche die Zeit aufzuweisen hat.</p><lb/>
        <p>Was Mr. Lerminier in seinem Buche au de-là du Rhin, welche Benennung er dem altbeliebten là bas substituirt hat, womit man sonst an der Seine unser Land bezeichnete, nach einem kurzen und unfruchtbaren Aufenthalt in einigen Südgegenden über uns gelernt und berichtet, davon haben Sie selbst eine Probe gegeben, und gleichwohl ist er noch der unbefangenste und freieste. Wer sollte Deutschland besser kennen als Mr. Cousin, der seine Lehranstalten zu untersuchen, zu beurtheilen und für Frankreich nutzbar zu machen Beruf und Auftrag hatte, und dem die respectvollen Huldigungen, die er von einzelnen demüthigen und beschränkten Schulpedanten unter uns gefunden hat, den Glauben müssen erregt haben, daß er uns, und wen er sonst seiner Beobachtung und Beurtheilung würdigt, besser verstehe als wir und diese andern selbst? Sicher aber ist allein, daß diese thörichten Huldigung ihm die größte Meinung von sich eingeflößt hat, wenn er sie nicht schon vorher besaß, und er darum bei der Ankündigung seines letzten Buches über den öffentlichen Unterricht in nicht französischen Ländern selbst verkündigte, es werde in Petersburg, Berlin, London und in welchen Hauptstädten der Welt sonst nicht! begierig erwartet. Gleichwohl ist er in seinem französischen Schulwesen oder Universitätsschulunwesen so versessen geblieben, daß er von einer Centralschule zur Bildung künftiger Lehrer nach seinem Zuschnitt als von einer <hi rendition="#i">fabrique de grands hommes</hi> sprechen konnte, sich also bei uns nicht hat überzeugen lassen, daß große Männer nicht auf Commando fabricirt werden, und daß er Preußen den Rath gibt, die philologischen Seminare in Breslau, Königsberg, Halle und Bonn, die Hauptquellen wissenschaftlicher Tüchtigkeit und Unabhängigkeit, die aus der Verschiedenheit des Betriebes und aus dem Wetteifer fließt, aufzuheben, und für die ganze preußische Monarchie eine solche Fabrik großer Männer nach französischem Zuschnitt in der Hauptstadt zu etabliren. Wer, der diesen Dingen einige Aufmerksamkeit schenkt, kennt nicht Mr. S. Marc-Girardin, dem der Süden<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0697/0009] Marmier und die deutsche Litteratur. I. Von den französischen Beurtheilungen deutscher Zustände überhaupt. Sie haben in Ihren Blättern vom 14 März u. ff. unter dem Titel: „Deutsche Litteratur und französische Kritik“, einem Aufsatz des Mr. Marmier Aufnahme gestattet. Erlauben Sie, daß ich ihm einen andern unter dem Titel: Marmier und die deutsche Litteratur entgegenstelle. Er sollte eigentlich überschrieben seyn: Marmier und Deutschland, denn der französische Litterat hat von der Litteratur Gelegenheit genommen, so ziemlich Alles in seinen Gesichtskreis zu ziehen und seinem Urtheil zu unterwerfen, was Deutschland auf dem Gebiet des öffentlichen und besondern Lebens, und in einzelnen Zweigen seiner Thätigkeit Eigenthümliches hat. Er hat das Alles gebraucht, um seine Paradoxa über unsere Litteratur zu beleuchten und zu accreditiren; daher folge ich der beschränkendern Bezeichnung, mit welcher Sie vorgegangen, und werde auch unter ihr zusammenbringen, was ich auf dem Herzen habe. Sie sind von manchen verständigen Männern meiner Umgebung getadelt worden, und werden auch wohl anderwärts getadelt worden seyn, daß Sie jenem meist seichten und eiteln Geschwätz eines in unsern Dingen sehr flach unterrichteten Fremdlings so viel Raum und durch die Aufnahme in Ihr weitverbreitetes Blatt, unser einziges publicistisch-litterarisches Organ von europäischer Geltung, eine Wichtigkeit gegeben haben, die ihm nicht gebührt, zumal wir darin zu einer Caricatur verzeichnet werden, wie sie die Franzosen in Paris auf den Theatern ihrer Boulevards, unter dem Namen des bon Allemand, in langem Ueberrock, die Hände in den Taschen und den Haarzopf auf dem Rücken, als Spießbürger oder als Bediente über ihre Bühne gehen sehen, und an deren barokem Wesen, kauderwälschem und mit deutschen Brocken versetztem Französisch und unbeholfener Gutmüthigkeit die honnêtes bourgeois du Faubourg S. Antoine ein besonderes selbstgefälliges Wohlgefallen haben. Der Tadel dieser Männer schärfte sich durch die Erwägung, daß man jenem Product durch die Uebersetzung und durch diese Verbreitung eine Anerkennung bezeige, welche durch die eingestreuten Anmerkungen und Ausrufungszeichen nicht aufgehoben werde, und daß man durch solches Verfahren nur einen neuen Beweis oder einen neuen Vorwand denjenigen Fremden liefere, die uns des Mangels an nationalem Selbstgefühl und an Tact für das uns Anständige und Gebührende, und übergroßer Demuth oder Hörigkeit gegenüber den Fremden zeihen. *) Ein ähnliches Urtheil über Frankreich, wie es hier über Deutschland verbreitet werde, bemerkten sie, würde, von einem Deutschen ausgegangen, in keinem französischen Blatt Aufnahme gefunden haben, und wäre das gleichwohl geschehen, so würde die Aufnahme allgemeine Mißbilligung gefunden haben. Ich setzte diesen Tadlern entgegen, daß gerade die Unbesorgtheit der Deutschen über den Belang ihres wahren Werths, und die Unabhängigkeit, die sie auch fremdem Urtheil gestatten, wenn es auch aus Vorurtheilen fließe, die Aufnahme erkläre. Ein seines Volks Kundiger würde davon nicht berührt werden, und den Unachtsamen, Zerstreuten, oder nach dem Fremden noch immer mehr Trachtenden als nach dem Einheimischen, könnte das Ganze als Warnung, Einiges darin auch zur Belehrung dienen, und die Verkehrtheit des Products im Ganzen dürfe nicht abhalten, das Rechte oder Gute anzuerkennen, was sich in der Diatribe „des Feindes“ finden könne, zumal wenn dieser, aus französischem Instinct uns abgeneigt, zugleich ein Wohlwollen zeige, das, trotz der Irrthümer und Albernheiten seines Urtheils, doch auf einen Rest von Gutmüthigkeit und auf ein Bestreben hinweise, das Wahre im Einzelnen zu erkennen, was er im Ganzen durch Unwissenheit wahrzunehmen und durch Eitelkeit zu beurtheilen gehindert werde. Auch sey Mr. Marmier nicht so sehr persönlich verantwortlich zu machen für die Thorheiten und Lächerlichkeiten, die er über uns berichte, sondern unterliege nur dem allgemeinen Uebel und Einfluß, dem höchst selten ein Franzose selbst der neuern Zeit und Schule sich entziehen könne, welcher die Deutschen aus denjenigen, die er zufällig in Paris gefunden, und aus dem, was er bei flüchtiger Eile eines kurzen Aufenthalts in ihrem Lande gesehen, oder bei unvollkommener Kenntniß ihrer Sprache sich aus ihren Büchern herausgelesen hat, beurtheile, und ihr ganzes Thun und Lassen in den verzogenen und verdrehten Gesichtskreis französischer Verbildung und des damit verbundenen Uebermuths ziehe, um der aus beiden fließenden trostlosen Effectmacherei ihrer Litteraten zu dienen, durch welche die Franzosen in Gefahr sind, die effectlosesten und geschmacklosesten Schriftsteller zu werden, welche die Zeit aufzuweisen hat. Was Mr. Lerminier in seinem Buche au de-là du Rhin, welche Benennung er dem altbeliebten là bas substituirt hat, womit man sonst an der Seine unser Land bezeichnete, nach einem kurzen und unfruchtbaren Aufenthalt in einigen Südgegenden über uns gelernt und berichtet, davon haben Sie selbst eine Probe gegeben, und gleichwohl ist er noch der unbefangenste und freieste. Wer sollte Deutschland besser kennen als Mr. Cousin, der seine Lehranstalten zu untersuchen, zu beurtheilen und für Frankreich nutzbar zu machen Beruf und Auftrag hatte, und dem die respectvollen Huldigungen, die er von einzelnen demüthigen und beschränkten Schulpedanten unter uns gefunden hat, den Glauben müssen erregt haben, daß er uns, und wen er sonst seiner Beobachtung und Beurtheilung würdigt, besser verstehe als wir und diese andern selbst? Sicher aber ist allein, daß diese thörichten Huldigung ihm die größte Meinung von sich eingeflößt hat, wenn er sie nicht schon vorher besaß, und er darum bei der Ankündigung seines letzten Buches über den öffentlichen Unterricht in nicht französischen Ländern selbst verkündigte, es werde in Petersburg, Berlin, London und in welchen Hauptstädten der Welt sonst nicht! begierig erwartet. Gleichwohl ist er in seinem französischen Schulwesen oder Universitätsschulunwesen so versessen geblieben, daß er von einer Centralschule zur Bildung künftiger Lehrer nach seinem Zuschnitt als von einer fabrique de grands hommes sprechen konnte, sich also bei uns nicht hat überzeugen lassen, daß große Männer nicht auf Commando fabricirt werden, und daß er Preußen den Rath gibt, die philologischen Seminare in Breslau, Königsberg, Halle und Bonn, die Hauptquellen wissenschaftlicher Tüchtigkeit und Unabhängigkeit, die aus der Verschiedenheit des Betriebes und aus dem Wetteifer fließt, aufzuheben, und für die ganze preußische Monarchie eine solche Fabrik großer Männer nach französischem Zuschnitt in der Hauptstadt zu etabliren. Wer, der diesen Dingen einige Aufmerksamkeit schenkt, kennt nicht Mr. S. Marc-Girardin, dem der Süden *) Die Redaction glaubt den Standpunkt bezeichnet zu haben, von dem aus es nicht ohne Interesse ist, zu wissen, wie das Ausland über uns denkt und schreibt. Der „deutschen Würde“ wird dieß keinen Schaden bringen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Deutsches Textarchiv: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-06-28T11:37:15Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-28T11:37:15Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: gekennzeichnet; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: Lautwert transkribiert; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: gekennzeichnet; Kustoden: gekennzeichnet; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: Lautwert transkribiert; Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert; Vollständigkeit: teilweise erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_088_18400328
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_088_18400328/9
Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 88. Augsburg, 28. März 1840, S. 0697. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_088_18400328/9>, abgerufen am 05.05.2024.