Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Allgemeine Zeitung. Nr. 89. Augsburg, 29. März 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

riß sie am Mann oder Weibe fort und für keinen der Sätze über Ehe und Stellung der Frauen, die sich in Rahels Briefen fanden, hat diese eine begeistertere Anhängerin gehabt, als ihre Schwägerin. Sie wollte die Frauen selbstständiger, als ihre jetzige Stellung ihnen gestattet, wenn auch nur so selbstständig, wie zur Zeit der Minnehöfe in der Provence, wo die Liebe höher stand, als das Gesetz. Wenn in diesem Gedankengange, den sie liebte, nicht Alles Schwärmerei war, so war es der großherzige Zweck, die Frauen den Männern näher zu bringen, sie zum Niveau der männlichen Bildung zu erheben und ihnen dieselbe freie Beherrschung des Daseyns möglich zu machen, welche den Männern nichts untersagt, als was ihnen ihr Gewissen verbietet. Sie, die so oft in den Fall kam, hören zu müssen, daß die geistige Arbeit, die sie liebte, eher den Männern, als Frauen zieme, verlangte nichts, als eine Emancipation der Frauen vom Vorurtheil. Sie wollte die Bildungsstoffe freigegeben wissen und dem Reich des Geistes gegenüber den Unterschied der Geschlechter aufgehoben.

Wenn sie Neid kannte, so war es Neid um die Menge von Veranlassungen, die der Mann hat, sich auszubilden. Wie lauschte sie, wenn das Gespräch sich in Richtungen verlor, wo sie ahnen konnte, wie glücklich die Männer sind, sich in diesen meist wissenschaftlichen Bereichen schnell orientiren zu können. Da sie an solchem neuen Material für ihr Gedächtniß und ihre Denkkraft sich das Meiste mußte entgehen lassen, so verlegte sie sich auf ein anderes Studium, welches sie mit ihrem Bruder gemein hat, auf das Studium der menschlichen Individualität. Jede neue Bekanntschaft nahm sie als eine psychologische Aufgabe. Sie forschte im Blick des Auges, im Ton des Organs, in den Aeußerungen des Gesprächs: sie verglich den neuen Bekannten mit älteren, sie fand Aehnlichkeiten und Unterschiede, und wußte sich mit einer eignen zarten Behutsamkeit schnell in Jedes "eigenthümliche Weise," wie sie's nannte, hineinzudenken. Alles ächt Menschliche, alles Individuelle war ihr Offenbarung des Göttlichen. Sie sah in dem Menschen ein so großartiges Kunstwerk, daß man wohl sagen darf, sie bedurfte des Jenseits nicht, um eine Lücke in ihren Wünschen ausgefüllt zu sehen. Menschen, bei denen sie nirgends einen Stempel höherer Abkunft entdecken konnte, wurden ihr bald unheimlich; sie hatte den Tact, aus dem Zufälligsten und leichtest Hingeworfenen schnell auf das Innere der Seele zu schließen, und zog sich zart wie eine Sensitive zurück, wo sie Gemeines, Irdisches, roh Leidenschaftliches witterte. An denen aber, die ihr theuer waren, interessirte sie das Geringfügigste. Aus Handschriften las sie gern Charaktere und Stimmungen heraus. Briefe zu sammeln und aufzubewahren, hatte für sie den Reiz, als sollte sie jedem ihrer Freunde Biograph seyn. Sie selbst verrieth durch ihre zierliche Handschrift, die saubere Handhabung des Papiers, das geschickte Falzen ihrer kleinsten Bilette ihr eigenstes Wesen. Alles, was von ihr ausging, entsprach der keuschen Zartheit ihres Gemüths.... In jedem Moment spiegelte sich ihr etwas Ewiges. Sie machte in langen Jahreszwischenräumen Reisen nach Berlin oder Paris oder ihrem geliebten Schwaben. Ihre Erzählungen darüber waren ein Calvarienberg der Freude, denn auf jedem vierten Schritte hielt sie inne und erklomm eine Jubelstation nach der andern. Das kleinste Idyll, das ihr und den Ihrigen auf der Landstraße begegnete, malten sie sich zu einem Epos aus, von dem sie nie ermüdeten, zu singen und zu sagen.

Es war Rosa Maria's Art, neben einem bedeutenden Werke der ältern Litteratur immer auch eine neuere Erscheinung zu lesen. So zaubervoll ihr die Erinnerung an die Litteraturepoche war, wo sie selbst mit den damals noch jugendlichen Factoren derselben in freundlicher Beziehung stand, so lebendig war doch der Antheil, den sie an allen neuern, ja den neuesten Entwicklungen unserer und fremder Litteraturen nahm. Der französischen Sprache in einem seltenen Grade mächtig (auch das Altfranzösische war ihr geläufig), las sie die bedeutendsten Erscheinungen der neuromantischen Schule, und wußte zwischen dem, was sie dieser versagen, und dem, was sie ihr einräumen mußte, ein meist immer richtiges Maaß zu halten. Von der neuern deutschen Litteratur entging ihr wenig Bedeutendes. Der jährliche Musenalmanach war ihr eine der liebsten Erscheinungen; oft hatte sie selbst ein schönes Lied beigesteuert. Heine war ihr persönlich befreundet, und sie blieb bis zuletzt eine beredte Vertheidigerin seiner Poesien, die in ihrem Kreise nicht selten mit schwerzuwiderlegenden Gründen angefochten wurden. Unter jüngern Autoren war ihr mancher persönlich bekannt geworden; sie übertrug die Erinnerung an ihn auf die Stimmung, in der sie seine Schriften las. Wird man ihr verdenken, daß sie da oft die Freude über etwas im Einzelnen Gelungenes auf das Ganze übertrug und um die Schwächen einer Schöpfung den Mantel der Liebe warf? Die Zerwürfnisse zwischen den jüngern Autoren bekümmerten sie. Sie hätte so gern die Zeiten erneuert gesehen, wo in ihrer Jugend ein Freund dem andern in der Litteratur noch Wort hielt, keine verletzte Eitelkeit gegebene Versprechen opferte, keine Einmischung Unberufener Kräfte auseinandertrieb, die ihr gemeinschaftliches Ziel nie aus den Augen hätten verlieren sollen. Es kostete sie eine schmerzliche Ueberwindung, wenn sie einräumen mußte, daß sich freilich mit den Zeiten auch die Bedingungen für unsere Litteratur sehr verändert haben, und daß Wahrheiten, die nur im Frieden gedeihen, auch einmal abgelöst werden mußten von Wahrheiten, die sich nur im Kampfe bewähren.

Seitdem in unserm Zeitalter die Männer in ihren Mackintoshs immer yankeeartiger und poesieloser werden, hat sich das Geniale, eine Menge Erscheinungen bestätigt dieß, oft in Frauen lebendiger offenbart, als in jenen. Um wie viel mehr ist der Tod eines Wesens zu beklagen, das gerade in Hamburg, einer Stadt, wo die geistigen Interessen mehr ein Nachdessert nach der derben Kost des täglichen materiellen Verkehrs sind, eine Tradition vergangener geistigerer Zustände aufrecht erhielt und einen bescheidenen, aber gewählten Kreis höher gestimmter Neigungen um sich zu versammeln wußte. Rosa Maria mag, da sie auf Aeußerliches wenig hielt, Vielen in unserer Stadt sonderbar erschienen seyn, und doch sind jährlich berühmte Namen nach Hamburg gekommen, die nicht die Paläste derer, wo man von Gold und Silber ißt, aufsuchten, sondern das kleine Haus, wo Rosa Maria waltete!... Nun ist dem Freundeskreis der Mittelpunkt genommen.

Deutsche Litteratur in den Vereinigten Staaten.

Vor kurzem habe ich Gelegenheit gehabt, einen Stoß amerikanischer Werke und Zeitschriften durchzusehen, welche meinem Freunde Heraud, dem genialen Redacteur des Monthly Magazine, von einem Geistesverwandten in Boston zugeschickt worden. Die wichtigsten darunter sind: Brownson's New Views of Christianity, Society and the Church (Neue Ansichten vom Christenthum, der menschlichen Gesellschaft und der Kirche); the Boston Quarterly Review, welches unter der Leitung eben dieses Brownson erschien, fast gänzlich von ihm geschrieben wurde, aber schon am Schlusse des zweiten Jahrgangs einging; Norton's Discourse on the latest form of Modern Infidelity (Rede über die letzte Gestaltung des

riß sie am Mann oder Weibe fort und für keinen der Sätze über Ehe und Stellung der Frauen, die sich in Rahels Briefen fanden, hat diese eine begeistertere Anhängerin gehabt, als ihre Schwägerin. Sie wollte die Frauen selbstständiger, als ihre jetzige Stellung ihnen gestattet, wenn auch nur so selbstständig, wie zur Zeit der Minnehöfe in der Provence, wo die Liebe höher stand, als das Gesetz. Wenn in diesem Gedankengange, den sie liebte, nicht Alles Schwärmerei war, so war es der großherzige Zweck, die Frauen den Männern näher zu bringen, sie zum Niveau der männlichen Bildung zu erheben und ihnen dieselbe freie Beherrschung des Daseyns möglich zu machen, welche den Männern nichts untersagt, als was ihnen ihr Gewissen verbietet. Sie, die so oft in den Fall kam, hören zu müssen, daß die geistige Arbeit, die sie liebte, eher den Männern, als Frauen zieme, verlangte nichts, als eine Emancipation der Frauen vom Vorurtheil. Sie wollte die Bildungsstoffe freigegeben wissen und dem Reich des Geistes gegenüber den Unterschied der Geschlechter aufgehoben.

Wenn sie Neid kannte, so war es Neid um die Menge von Veranlassungen, die der Mann hat, sich auszubilden. Wie lauschte sie, wenn das Gespräch sich in Richtungen verlor, wo sie ahnen konnte, wie glücklich die Männer sind, sich in diesen meist wissenschaftlichen Bereichen schnell orientiren zu können. Da sie an solchem neuen Material für ihr Gedächtniß und ihre Denkkraft sich das Meiste mußte entgehen lassen, so verlegte sie sich auf ein anderes Studium, welches sie mit ihrem Bruder gemein hat, auf das Studium der menschlichen Individualität. Jede neue Bekanntschaft nahm sie als eine psychologische Aufgabe. Sie forschte im Blick des Auges, im Ton des Organs, in den Aeußerungen des Gesprächs: sie verglich den neuen Bekannten mit älteren, sie fand Aehnlichkeiten und Unterschiede, und wußte sich mit einer eignen zarten Behutsamkeit schnell in Jedes „eigenthümliche Weise,“ wie sie's nannte, hineinzudenken. Alles ächt Menschliche, alles Individuelle war ihr Offenbarung des Göttlichen. Sie sah in dem Menschen ein so großartiges Kunstwerk, daß man wohl sagen darf, sie bedurfte des Jenseits nicht, um eine Lücke in ihren Wünschen ausgefüllt zu sehen. Menschen, bei denen sie nirgends einen Stempel höherer Abkunft entdecken konnte, wurden ihr bald unheimlich; sie hatte den Tact, aus dem Zufälligsten und leichtest Hingeworfenen schnell auf das Innere der Seele zu schließen, und zog sich zart wie eine Sensitive zurück, wo sie Gemeines, Irdisches, roh Leidenschaftliches witterte. An denen aber, die ihr theuer waren, interessirte sie das Geringfügigste. Aus Handschriften las sie gern Charaktere und Stimmungen heraus. Briefe zu sammeln und aufzubewahren, hatte für sie den Reiz, als sollte sie jedem ihrer Freunde Biograph seyn. Sie selbst verrieth durch ihre zierliche Handschrift, die saubere Handhabung des Papiers, das geschickte Falzen ihrer kleinsten Bilette ihr eigenstes Wesen. Alles, was von ihr ausging, entsprach der keuschen Zartheit ihres Gemüths.... In jedem Moment spiegelte sich ihr etwas Ewiges. Sie machte in langen Jahreszwischenräumen Reisen nach Berlin oder Paris oder ihrem geliebten Schwaben. Ihre Erzählungen darüber waren ein Calvarienberg der Freude, denn auf jedem vierten Schritte hielt sie inne und erklomm eine Jubelstation nach der andern. Das kleinste Idyll, das ihr und den Ihrigen auf der Landstraße begegnete, malten sie sich zu einem Epos aus, von dem sie nie ermüdeten, zu singen und zu sagen.

Es war Rosa Maria's Art, neben einem bedeutenden Werke der ältern Litteratur immer auch eine neuere Erscheinung zu lesen. So zaubervoll ihr die Erinnerung an die Litteraturepoche war, wo sie selbst mit den damals noch jugendlichen Factoren derselben in freundlicher Beziehung stand, so lebendig war doch der Antheil, den sie an allen neuern, ja den neuesten Entwicklungen unserer und fremder Litteraturen nahm. Der französischen Sprache in einem seltenen Grade mächtig (auch das Altfranzösische war ihr geläufig), las sie die bedeutendsten Erscheinungen der neuromantischen Schule, und wußte zwischen dem, was sie dieser versagen, und dem, was sie ihr einräumen mußte, ein meist immer richtiges Maaß zu halten. Von der neuern deutschen Litteratur entging ihr wenig Bedeutendes. Der jährliche Musenalmanach war ihr eine der liebsten Erscheinungen; oft hatte sie selbst ein schönes Lied beigesteuert. Heine war ihr persönlich befreundet, und sie blieb bis zuletzt eine beredte Vertheidigerin seiner Poesien, die in ihrem Kreise nicht selten mit schwerzuwiderlegenden Gründen angefochten wurden. Unter jüngern Autoren war ihr mancher persönlich bekannt geworden; sie übertrug die Erinnerung an ihn auf die Stimmung, in der sie seine Schriften las. Wird man ihr verdenken, daß sie da oft die Freude über etwas im Einzelnen Gelungenes auf das Ganze übertrug und um die Schwächen einer Schöpfung den Mantel der Liebe warf? Die Zerwürfnisse zwischen den jüngern Autoren bekümmerten sie. Sie hätte so gern die Zeiten erneuert gesehen, wo in ihrer Jugend ein Freund dem andern in der Litteratur noch Wort hielt, keine verletzte Eitelkeit gegebene Versprechen opferte, keine Einmischung Unberufener Kräfte auseinandertrieb, die ihr gemeinschaftliches Ziel nie aus den Augen hätten verlieren sollen. Es kostete sie eine schmerzliche Ueberwindung, wenn sie einräumen mußte, daß sich freilich mit den Zeiten auch die Bedingungen für unsere Litteratur sehr verändert haben, und daß Wahrheiten, die nur im Frieden gedeihen, auch einmal abgelöst werden mußten von Wahrheiten, die sich nur im Kampfe bewähren.

Seitdem in unserm Zeitalter die Männer in ihren Mackintoshs immer yankeeartiger und poesieloser werden, hat sich das Geniale, eine Menge Erscheinungen bestätigt dieß, oft in Frauen lebendiger offenbart, als in jenen. Um wie viel mehr ist der Tod eines Wesens zu beklagen, das gerade in Hamburg, einer Stadt, wo die geistigen Interessen mehr ein Nachdessert nach der derben Kost des täglichen materiellen Verkehrs sind, eine Tradition vergangener geistigerer Zustände aufrecht erhielt und einen bescheidenen, aber gewählten Kreis höher gestimmter Neigungen um sich zu versammeln wußte. Rosa Maria mag, da sie auf Aeußerliches wenig hielt, Vielen in unserer Stadt sonderbar erschienen seyn, und doch sind jährlich berühmte Namen nach Hamburg gekommen, die nicht die Paläste derer, wo man von Gold und Silber ißt, aufsuchten, sondern das kleine Haus, wo Rosa Maria waltete!... Nun ist dem Freundeskreis der Mittelpunkt genommen.

Deutsche Litteratur in den Vereinigten Staaten.

Vor kurzem habe ich Gelegenheit gehabt, einen Stoß amerikanischer Werke und Zeitschriften durchzusehen, welche meinem Freunde Heraud, dem genialen Redacteur des Monthly Magazine, von einem Geistesverwandten in Boston zugeschickt worden. Die wichtigsten darunter sind: Brownson's New Views of Christianity, Society and the Church (Neue Ansichten vom Christenthum, der menschlichen Gesellschaft und der Kirche); the Boston Quarterly Review, welches unter der Leitung eben dieses Brownson erschien, fast gänzlich von ihm geschrieben wurde, aber schon am Schlusse des zweiten Jahrgangs einging; Norton's Discourse on the latest form of Modern Infidelity (Rede über die letzte Gestaltung des

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0010" n="0706"/>
riß sie am Mann oder Weibe fort und für keinen der Sätze über Ehe und Stellung der Frauen, die sich in Rahels Briefen fanden, hat diese eine begeistertere Anhängerin gehabt, als ihre Schwägerin. Sie wollte die Frauen selbstständiger, als ihre jetzige Stellung ihnen gestattet, wenn auch nur so selbstständig, wie zur Zeit der Minnehöfe in der Provence, wo die Liebe höher stand, als das Gesetz. Wenn in diesem Gedankengange, den sie liebte, nicht Alles Schwärmerei war, so war es der großherzige Zweck, die Frauen den Männern näher zu bringen, sie zum Niveau der männlichen Bildung zu erheben und ihnen dieselbe freie Beherrschung des Daseyns möglich zu machen, welche den Männern nichts untersagt, als was ihnen ihr Gewissen verbietet. Sie, die so oft in den Fall kam, hören zu müssen, daß die geistige Arbeit, die sie liebte, eher den Männern, als Frauen zieme, verlangte nichts, als eine Emancipation der Frauen <hi rendition="#g">vom Vorurtheil</hi>. Sie wollte die Bildungsstoffe freigegeben wissen und dem <hi rendition="#g">Reich des Geistes</hi> gegenüber den Unterschied der Geschlechter aufgehoben.</p><lb/>
        <p>Wenn sie Neid kannte, so war es Neid um die Menge von Veranlassungen, die der Mann hat, sich auszubilden. Wie lauschte sie, wenn das Gespräch sich in Richtungen verlor, wo sie ahnen konnte, wie glücklich die Männer sind, sich in diesen meist wissenschaftlichen Bereichen schnell orientiren zu können. Da sie an solchem neuen Material für ihr Gedächtniß und ihre Denkkraft sich das Meiste mußte entgehen lassen, so verlegte sie sich auf ein anderes Studium, welches sie mit ihrem Bruder gemein hat, auf das Studium der menschlichen Individualität. Jede neue Bekanntschaft nahm sie als eine psychologische Aufgabe. Sie forschte im Blick des Auges, im Ton des Organs, in den Aeußerungen des Gesprächs: sie verglich den neuen Bekannten mit älteren, sie fand Aehnlichkeiten und Unterschiede, und wußte sich mit einer eignen zarten Behutsamkeit schnell in Jedes &#x201E;eigenthümliche Weise,&#x201C; wie sie's nannte, hineinzudenken. Alles ächt Menschliche, alles Individuelle war ihr Offenbarung des Göttlichen. Sie sah in dem Menschen ein so großartiges Kunstwerk, daß man wohl sagen darf, sie bedurfte des Jenseits nicht, um eine Lücke in ihren Wünschen ausgefüllt zu sehen. Menschen, bei denen sie nirgends einen Stempel höherer Abkunft entdecken konnte, wurden ihr bald unheimlich; sie hatte den Tact, aus dem Zufälligsten und leichtest Hingeworfenen schnell auf das Innere der Seele zu schließen, und zog sich zart wie eine Sensitive zurück, wo sie Gemeines, Irdisches, roh Leidenschaftliches witterte. An denen aber, die ihr theuer waren, interessirte sie das Geringfügigste. Aus Handschriften las sie gern Charaktere und Stimmungen heraus. Briefe zu sammeln und aufzubewahren, hatte für sie den Reiz, als sollte sie jedem ihrer Freunde Biograph seyn. Sie selbst verrieth durch ihre zierliche Handschrift, die saubere Handhabung des Papiers, das geschickte Falzen ihrer kleinsten Bilette ihr eigenstes Wesen. Alles, was von ihr ausging, entsprach der keuschen Zartheit ihres Gemüths.... In jedem Moment spiegelte sich ihr etwas Ewiges. Sie machte in langen Jahreszwischenräumen Reisen nach Berlin oder Paris oder ihrem geliebten Schwaben. Ihre Erzählungen darüber waren ein Calvarienberg der Freude, denn auf jedem vierten Schritte hielt sie inne und erklomm eine Jubelstation nach der andern. Das kleinste Idyll, das ihr und den Ihrigen auf der Landstraße begegnete, malten sie sich zu einem Epos aus, von dem sie nie ermüdeten, zu singen und zu sagen.</p><lb/>
        <p>Es war Rosa Maria's Art, neben einem bedeutenden Werke der ältern Litteratur immer auch eine neuere Erscheinung zu lesen. So zaubervoll ihr die Erinnerung an die Litteraturepoche war, wo sie selbst mit den damals noch jugendlichen Factoren derselben in freundlicher Beziehung stand, so lebendig war doch der Antheil, den sie an allen neuern, ja den neuesten Entwicklungen unserer und fremder Litteraturen nahm. Der französischen Sprache in einem seltenen Grade mächtig (auch das Altfranzösische war ihr geläufig), las sie die bedeutendsten Erscheinungen der neuromantischen Schule, und wußte zwischen dem, was sie dieser versagen, und dem, was sie ihr einräumen mußte, ein meist immer richtiges Maaß zu halten. Von der neuern deutschen Litteratur entging ihr wenig Bedeutendes. Der jährliche Musenalmanach war ihr eine der liebsten Erscheinungen; oft hatte sie selbst ein schönes Lied beigesteuert. Heine war ihr persönlich befreundet, und sie blieb bis zuletzt eine beredte Vertheidigerin seiner Poesien, die in ihrem Kreise nicht selten mit schwerzuwiderlegenden Gründen angefochten wurden. Unter jüngern Autoren war ihr mancher persönlich bekannt geworden; sie übertrug die Erinnerung an ihn auf die Stimmung, in der sie seine Schriften las. Wird man ihr verdenken, daß sie da oft die Freude über etwas im Einzelnen Gelungenes auf das Ganze übertrug und um die Schwächen einer Schöpfung den Mantel der Liebe warf? Die Zerwürfnisse zwischen den jüngern Autoren bekümmerten sie. Sie hätte so gern die Zeiten erneuert gesehen, wo in ihrer Jugend ein Freund dem andern in der Litteratur noch Wort hielt, keine verletzte Eitelkeit gegebene Versprechen opferte, keine Einmischung Unberufener Kräfte auseinandertrieb, die ihr gemeinschaftliches Ziel nie aus den Augen hätten verlieren sollen. Es kostete sie eine schmerzliche Ueberwindung, wenn sie einräumen mußte, daß sich freilich mit den Zeiten auch die Bedingungen für unsere Litteratur sehr verändert haben, und daß Wahrheiten, die nur im Frieden gedeihen, auch einmal abgelöst werden mußten von Wahrheiten, die sich nur im Kampfe bewähren.</p><lb/>
        <p>Seitdem in unserm Zeitalter die Männer in ihren Mackintoshs immer yankeeartiger und poesieloser werden, hat sich das Geniale, eine Menge Erscheinungen bestätigt dieß, oft in Frauen lebendiger offenbart, als in jenen. Um wie viel mehr ist der Tod eines Wesens zu beklagen, das gerade in Hamburg, einer Stadt, wo die geistigen Interessen mehr ein Nachdessert nach der derben Kost des täglichen materiellen Verkehrs sind, eine Tradition vergangener geistigerer Zustände aufrecht erhielt und einen bescheidenen, aber gewählten Kreis höher gestimmter Neigungen um sich zu versammeln wußte. Rosa Maria mag, da sie auf Aeußerliches wenig hielt, Vielen in unserer Stadt sonderbar erschienen seyn, und doch sind jährlich berühmte Namen nach Hamburg gekommen, die nicht die Paläste derer, wo man von Gold und Silber ißt, aufsuchten, sondern das kleine Haus, wo Rosa Maria waltete!... Nun ist dem Freundeskreis der Mittelpunkt genommen.</p><lb/>
      </div>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Deutsche Litteratur in den Vereinigten Staaten</hi>.</hi> </head><lb/>
        <div n="2">
          <byline>
            <docAuthor>
              <gap reason="insignificant"/>
            </docAuthor>
          </byline>
          <dateline><hi rendition="#b">London,</hi> 10 März.</dateline>
          <p> Vor kurzem habe ich Gelegenheit gehabt, einen Stoß amerikanischer Werke und Zeitschriften durchzusehen, welche meinem Freunde <hi rendition="#g">Heraud</hi>, dem genialen Redacteur des Monthly Magazine, von einem Geistesverwandten in Boston zugeschickt worden. Die wichtigsten darunter sind: Brownson's New Views of Christianity, Society and the Church (Neue Ansichten vom Christenthum, der menschlichen Gesellschaft und der Kirche); the Boston Quarterly Review, welches unter der Leitung eben dieses Brownson erschien, fast gänzlich von ihm geschrieben wurde, aber schon am Schlusse des zweiten Jahrgangs einging; Norton's Discourse on the latest form of Modern Infidelity (Rede über die letzte Gestaltung des<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0706/0010] riß sie am Mann oder Weibe fort und für keinen der Sätze über Ehe und Stellung der Frauen, die sich in Rahels Briefen fanden, hat diese eine begeistertere Anhängerin gehabt, als ihre Schwägerin. Sie wollte die Frauen selbstständiger, als ihre jetzige Stellung ihnen gestattet, wenn auch nur so selbstständig, wie zur Zeit der Minnehöfe in der Provence, wo die Liebe höher stand, als das Gesetz. Wenn in diesem Gedankengange, den sie liebte, nicht Alles Schwärmerei war, so war es der großherzige Zweck, die Frauen den Männern näher zu bringen, sie zum Niveau der männlichen Bildung zu erheben und ihnen dieselbe freie Beherrschung des Daseyns möglich zu machen, welche den Männern nichts untersagt, als was ihnen ihr Gewissen verbietet. Sie, die so oft in den Fall kam, hören zu müssen, daß die geistige Arbeit, die sie liebte, eher den Männern, als Frauen zieme, verlangte nichts, als eine Emancipation der Frauen vom Vorurtheil. Sie wollte die Bildungsstoffe freigegeben wissen und dem Reich des Geistes gegenüber den Unterschied der Geschlechter aufgehoben. Wenn sie Neid kannte, so war es Neid um die Menge von Veranlassungen, die der Mann hat, sich auszubilden. Wie lauschte sie, wenn das Gespräch sich in Richtungen verlor, wo sie ahnen konnte, wie glücklich die Männer sind, sich in diesen meist wissenschaftlichen Bereichen schnell orientiren zu können. Da sie an solchem neuen Material für ihr Gedächtniß und ihre Denkkraft sich das Meiste mußte entgehen lassen, so verlegte sie sich auf ein anderes Studium, welches sie mit ihrem Bruder gemein hat, auf das Studium der menschlichen Individualität. Jede neue Bekanntschaft nahm sie als eine psychologische Aufgabe. Sie forschte im Blick des Auges, im Ton des Organs, in den Aeußerungen des Gesprächs: sie verglich den neuen Bekannten mit älteren, sie fand Aehnlichkeiten und Unterschiede, und wußte sich mit einer eignen zarten Behutsamkeit schnell in Jedes „eigenthümliche Weise,“ wie sie's nannte, hineinzudenken. Alles ächt Menschliche, alles Individuelle war ihr Offenbarung des Göttlichen. Sie sah in dem Menschen ein so großartiges Kunstwerk, daß man wohl sagen darf, sie bedurfte des Jenseits nicht, um eine Lücke in ihren Wünschen ausgefüllt zu sehen. Menschen, bei denen sie nirgends einen Stempel höherer Abkunft entdecken konnte, wurden ihr bald unheimlich; sie hatte den Tact, aus dem Zufälligsten und leichtest Hingeworfenen schnell auf das Innere der Seele zu schließen, und zog sich zart wie eine Sensitive zurück, wo sie Gemeines, Irdisches, roh Leidenschaftliches witterte. An denen aber, die ihr theuer waren, interessirte sie das Geringfügigste. Aus Handschriften las sie gern Charaktere und Stimmungen heraus. Briefe zu sammeln und aufzubewahren, hatte für sie den Reiz, als sollte sie jedem ihrer Freunde Biograph seyn. Sie selbst verrieth durch ihre zierliche Handschrift, die saubere Handhabung des Papiers, das geschickte Falzen ihrer kleinsten Bilette ihr eigenstes Wesen. Alles, was von ihr ausging, entsprach der keuschen Zartheit ihres Gemüths.... In jedem Moment spiegelte sich ihr etwas Ewiges. Sie machte in langen Jahreszwischenräumen Reisen nach Berlin oder Paris oder ihrem geliebten Schwaben. Ihre Erzählungen darüber waren ein Calvarienberg der Freude, denn auf jedem vierten Schritte hielt sie inne und erklomm eine Jubelstation nach der andern. Das kleinste Idyll, das ihr und den Ihrigen auf der Landstraße begegnete, malten sie sich zu einem Epos aus, von dem sie nie ermüdeten, zu singen und zu sagen. Es war Rosa Maria's Art, neben einem bedeutenden Werke der ältern Litteratur immer auch eine neuere Erscheinung zu lesen. So zaubervoll ihr die Erinnerung an die Litteraturepoche war, wo sie selbst mit den damals noch jugendlichen Factoren derselben in freundlicher Beziehung stand, so lebendig war doch der Antheil, den sie an allen neuern, ja den neuesten Entwicklungen unserer und fremder Litteraturen nahm. Der französischen Sprache in einem seltenen Grade mächtig (auch das Altfranzösische war ihr geläufig), las sie die bedeutendsten Erscheinungen der neuromantischen Schule, und wußte zwischen dem, was sie dieser versagen, und dem, was sie ihr einräumen mußte, ein meist immer richtiges Maaß zu halten. Von der neuern deutschen Litteratur entging ihr wenig Bedeutendes. Der jährliche Musenalmanach war ihr eine der liebsten Erscheinungen; oft hatte sie selbst ein schönes Lied beigesteuert. Heine war ihr persönlich befreundet, und sie blieb bis zuletzt eine beredte Vertheidigerin seiner Poesien, die in ihrem Kreise nicht selten mit schwerzuwiderlegenden Gründen angefochten wurden. Unter jüngern Autoren war ihr mancher persönlich bekannt geworden; sie übertrug die Erinnerung an ihn auf die Stimmung, in der sie seine Schriften las. Wird man ihr verdenken, daß sie da oft die Freude über etwas im Einzelnen Gelungenes auf das Ganze übertrug und um die Schwächen einer Schöpfung den Mantel der Liebe warf? Die Zerwürfnisse zwischen den jüngern Autoren bekümmerten sie. Sie hätte so gern die Zeiten erneuert gesehen, wo in ihrer Jugend ein Freund dem andern in der Litteratur noch Wort hielt, keine verletzte Eitelkeit gegebene Versprechen opferte, keine Einmischung Unberufener Kräfte auseinandertrieb, die ihr gemeinschaftliches Ziel nie aus den Augen hätten verlieren sollen. Es kostete sie eine schmerzliche Ueberwindung, wenn sie einräumen mußte, daß sich freilich mit den Zeiten auch die Bedingungen für unsere Litteratur sehr verändert haben, und daß Wahrheiten, die nur im Frieden gedeihen, auch einmal abgelöst werden mußten von Wahrheiten, die sich nur im Kampfe bewähren. Seitdem in unserm Zeitalter die Männer in ihren Mackintoshs immer yankeeartiger und poesieloser werden, hat sich das Geniale, eine Menge Erscheinungen bestätigt dieß, oft in Frauen lebendiger offenbart, als in jenen. Um wie viel mehr ist der Tod eines Wesens zu beklagen, das gerade in Hamburg, einer Stadt, wo die geistigen Interessen mehr ein Nachdessert nach der derben Kost des täglichen materiellen Verkehrs sind, eine Tradition vergangener geistigerer Zustände aufrecht erhielt und einen bescheidenen, aber gewählten Kreis höher gestimmter Neigungen um sich zu versammeln wußte. Rosa Maria mag, da sie auf Aeußerliches wenig hielt, Vielen in unserer Stadt sonderbar erschienen seyn, und doch sind jährlich berühmte Namen nach Hamburg gekommen, die nicht die Paläste derer, wo man von Gold und Silber ißt, aufsuchten, sondern das kleine Haus, wo Rosa Maria waltete!... Nun ist dem Freundeskreis der Mittelpunkt genommen. Deutsche Litteratur in den Vereinigten Staaten. _ London, 10 März. Vor kurzem habe ich Gelegenheit gehabt, einen Stoß amerikanischer Werke und Zeitschriften durchzusehen, welche meinem Freunde Heraud, dem genialen Redacteur des Monthly Magazine, von einem Geistesverwandten in Boston zugeschickt worden. Die wichtigsten darunter sind: Brownson's New Views of Christianity, Society and the Church (Neue Ansichten vom Christenthum, der menschlichen Gesellschaft und der Kirche); the Boston Quarterly Review, welches unter der Leitung eben dieses Brownson erschien, fast gänzlich von ihm geschrieben wurde, aber schon am Schlusse des zweiten Jahrgangs einging; Norton's Discourse on the latest form of Modern Infidelity (Rede über die letzte Gestaltung des

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Deutsches Textarchiv: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-06-28T11:37:15Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-28T11:37:15Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: gekennzeichnet; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: Lautwert transkribiert; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: gekennzeichnet; Kustoden: gekennzeichnet; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: Lautwert transkribiert; Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert; Vollständigkeit: teilweise erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_089_18400329
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_089_18400329/10
Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 89. Augsburg, 29. März 1840, S. 0706. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_089_18400329/10>, abgerufen am 02.05.2024.