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Allgemeine Zeitung. Nr. 94. Augsburg, 3. April 1840.

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Berryer über Thiers' Ministerium.

Wir glauben aus der letzten Deputirtenverhandlung über die geheimen Fonds noch zwei Reden nachtragen zu müssen, welche den bedeutsamen Schlußpunkt des Ganzen bildeten - die Rede Berryers und die Antwort des neuen Conseilpräsidenten. Hr. Berryer sagte: "Ich bitte die Redner vor mir um Verzeihung; allein ich glaube nicht, daß bis jetzt die Discussion viel Licht über unsere Frage verbreitet hat; ich glaube nicht, daß sie klar dargethan, wo jene Majorität, die man sucht, existirt, wie sie constituirt werden kann. Aus Allem, was man gesagt hat, zeigt sich mir kein sicheres Heilmittel wider das Uebel, auf das Jedermann hinweist, keines wider die Uebel, über die das Land klagt. Betrachtet man die Kammer seit mehreren Jahren, so schmerzt Jedermann die Lage, in der man das Parlament sieht. Diese aufeinanderfolgenden Krisen, diese unaufhörlichen Schiffbrüche aller Cabinette, diese Kämpfe im Innern der Kammer über Fragen, die oft schwer zu begreifen sind, und die man gewiß auswärts gar nicht begreift, die Präoccupationen der Kammer, vor denen die großen Interessen des Landes, Alles, was seine Industrie, seine großen Arbeiten, seinen Handel, den Fortschritt seines Geistes und seiner Einsicht berührt, weit in den Hintergrund treten - alle diese Erörterungen vermeidet man, und warum? um ohne Unterlaß über die Sympathie oder die Antipathie zu sprechen, welche diese oder jene Ministerien einflößen, Ministerien, die man nicht einmal nach den Grundsätzen, die sie ins Werk zu setzen versucht hätten, zu bezeichnen vermag, sondern für die man nach Kalenderzahlen greifen muß, und die man nach der Reihe den 22 Febr., den 6 Sept., den 15 April, den 12 Mai benennt. (Gelächter.) Ich gestehe, daß ich die Bildung des Cabinets, das jetzt vor uns sitzt, für ein Ereigniß gehalten. Ich habe geglaubt, ein Cabinet, das seit 25 Jahren das erste ist, welches aus den Reihen der Opposition hervorgegangen, müsse eine neue Bahn eröffnen, es müsse uns sagen, wie Richelieu den Gesandten Europa's: die Politik ist geändert! (Bewegung.) Ich bemerke diese neue Lage aber nicht in den Discussionen, denen sich zur Stunde noch der Hr. Minister des Innern hingegeben, und die der Präsident des Conseils gestern mit so bewundernswerthem Talent geschildert hat. Ich sehe in dem Plan, den man uns vorzeichnet, nichts, was anzeigte, daß hier ein Cabinet geboren ist, welches über ein lange Jahre befolgtes ministerielles System triumphirt und im Namen der Opposition, nach dem eigenen Bekenntniß des Chefs der Opposition, auf der Ministerbank Platz genommen hat. Meine Ungewißheit vermehrte sich noch, als ich Hrn. Barrot gehört, ihn, der sonst immer so klar spricht, weil er so redlich ist. (Beifall.) Es war mir unmöglich, in dem, was er gestern gesagt, die Motive seiner Unterstützung des Ministeriums zu erkennen. Wenn die Stellung eines neuen Cabinets dem Chef desselben nicht erlaubt, über alle Fragen, die das Land interessiren, in offene Erklärungen einzugehen, so begreife ich nicht, warum nicht wenigstens der Chef der Opposition einsah, es sey nothwendig, klar und offen seine Gründe darzulegen. Was kam in der That in dieser ganzen Discussion seit gestern vor, das nicht den Charakter persönlicher Fragen und Debatten gehabt hätte? Der Minister des Innern hat, als er gestern die an das neue Ministerium gerichteten Einwürfe durchging, dieselben als rein persönliche Fragen behandelt. Der Ministerpräsident sagte: "die Versöhnung liegt bereits in den Sachen, man braucht sie jetzt nur noch auf die Personen auszudehnen." Auf was hat endlich ein ehrenwerthes Mitglied, das stets in den Regionen der Intelligenz sich bewegt, auf was hat der ehrenwerthe Hr. v. Lamartine, als er gestern den Ministerpräsidenten angriff, seinen Angriff beschränkt? Er kämpfte gegen das, was er die starke persönliche Stellung nennt, welche Hrn. Thiers die Popularität gebe, die er durch ein ungeheures Talent und durch die gewandten Anstrengungen der thätigsten und mächtigsten Organe der Presse erworben. Drehen sich denn wirklich in unserm Lande die Fragen nur um die Persönlichkeiten? Wären wir in Frankreich wirklich in jener traurigen, verabscheuungswerthen Lage von Staaten, die in vollem Verfall begriffen sind? Nein, dem ist nicht so. Aber es herrscht eine gewisse Schwäche bei der ganzen Discussion vor; man schiebt alle diese persönlichen Fragen, alle die Namen, die gewisse Ideen vertheidigt haben, nur vor, weil man sie für einen Schleier hält, dicht genug, um den Stand der Dinge, der Grundsätze zu verhüllen, über die man sich nicht klar auszudrücken wagt. Man muß aber einmal deutlich reden. Ich werde mich dabei der größten Mäßigung befleißen. Jeder, der seit zehn Jahren die Stellung der Kammern aufmerksam beobachtet hat, muß eine tiefe Spaltung der Principien in der Deputirtenkammer wahrgenommen haben. Sprechen wir nicht von Ordnung, Freiheit, Versöhnung, Fortschritt - es ist dieß die Fahne aller Minister. Welcher böse Genius sollte mit unreiner und verfluchter Stimme sagen: ich liebe die Unordnung, ich hasse die Freiheit, ich verabscheue jeden Fortschritt! Sprechen Sie dergleichen Worte nicht mehr aus; sie machen zwar den Gesinnungen Aller Ehre, können aber Menschen nicht classificiren, die ein Herz im Busen tragen. (Beifall.) Seit zehn Jahren gibt es unter uns zwei genau geschiedene, von den Unterabtheilungen, mit denen sie überladen seyn mochten, unabhängige Parteien. Die eine will bei der Leitung und dem Gang der Angelegenheiten des Landes den Vorrang der parlamentarischen Gewalt, die andere den Vorrang der Gewalt der Krone. Schon 1834 sagte es meine ehrenwerther Freund Dupin: ein ehrenwerthes Cabinet kann nur gebildet werden, wenn der Führer desselben wirklicher Conseilpräsident ist. Seyen wir aufrichtig; hierin liegt die ganze Meinungsspaltung." (Lebhafte Reclamationen im rechten Centrum.) General Bugeaud: "Man will das Gleichgewicht der Gewalten; den Vorrang keiner Gewalt." Hr. Berryer fortfahrend: "Ist es in einer solchen Lage, welche die ganze Grundlage unserer Institutionen berührt, nicht offenbar, daß man, um eine starke, bleibende Majorität zu haben, offen und freimüthig für die eine oder die andere jener beiden Theorien sich erklären muß? Hat dieß das Ministerium der Opposition, das neue Ministerium gethan? Mir scheint nicht. Das Ministerium sagte durch den Mund seines Präsidenten und des Ministers des Innern: "Wir stellen uns auf ein Zwischenterrain und erlassen von da einen Aufruf an die großen Massen der Kammer, zumeist an die, welche uns am nächsten stehen." Das heißt, das Ministerium wendet sich zunächst an die intermediären Fractionen, also an jene, deren Ueberzeugungen am schwächsten sind, die am wenigsten an ihren Theorien und Systemen hängen. Statt durch die Stärke seiner Principien, durch das Vertrauen, welches seine politischen Doctrinen einflößen können, Anhänger zu gewinnen, versetzt das Ministerium sich in die Nothwendigkeit, seine Principien zu modificiren, je nach der Zahl und der Qualität der Männer, welche auf seinen Aufruf hin sich ihm anschließen, sey's von der Rechten oder der Linken."

Berryer über Thiers' Ministerium.

Wir glauben aus der letzten Deputirtenverhandlung über die geheimen Fonds noch zwei Reden nachtragen zu müssen, welche den bedeutsamen Schlußpunkt des Ganzen bildeten – die Rede Berryers und die Antwort des neuen Conseilpräsidenten. Hr. Berryer sagte: „Ich bitte die Redner vor mir um Verzeihung; allein ich glaube nicht, daß bis jetzt die Discussion viel Licht über unsere Frage verbreitet hat; ich glaube nicht, daß sie klar dargethan, wo jene Majorität, die man sucht, existirt, wie sie constituirt werden kann. Aus Allem, was man gesagt hat, zeigt sich mir kein sicheres Heilmittel wider das Uebel, auf das Jedermann hinweist, keines wider die Uebel, über die das Land klagt. Betrachtet man die Kammer seit mehreren Jahren, so schmerzt Jedermann die Lage, in der man das Parlament sieht. Diese aufeinanderfolgenden Krisen, diese unaufhörlichen Schiffbrüche aller Cabinette, diese Kämpfe im Innern der Kammer über Fragen, die oft schwer zu begreifen sind, und die man gewiß auswärts gar nicht begreift, die Präoccupationen der Kammer, vor denen die großen Interessen des Landes, Alles, was seine Industrie, seine großen Arbeiten, seinen Handel, den Fortschritt seines Geistes und seiner Einsicht berührt, weit in den Hintergrund treten – alle diese Erörterungen vermeidet man, und warum? um ohne Unterlaß über die Sympathie oder die Antipathie zu sprechen, welche diese oder jene Ministerien einflößen, Ministerien, die man nicht einmal nach den Grundsätzen, die sie ins Werk zu setzen versucht hätten, zu bezeichnen vermag, sondern für die man nach Kalenderzahlen greifen muß, und die man nach der Reihe den 22 Febr., den 6 Sept., den 15 April, den 12 Mai benennt. (Gelächter.) Ich gestehe, daß ich die Bildung des Cabinets, das jetzt vor uns sitzt, für ein Ereigniß gehalten. Ich habe geglaubt, ein Cabinet, das seit 25 Jahren das erste ist, welches aus den Reihen der Opposition hervorgegangen, müsse eine neue Bahn eröffnen, es müsse uns sagen, wie Richelieu den Gesandten Europa's: die Politik ist geändert! (Bewegung.) Ich bemerke diese neue Lage aber nicht in den Discussionen, denen sich zur Stunde noch der Hr. Minister des Innern hingegeben, und die der Präsident des Conseils gestern mit so bewundernswerthem Talent geschildert hat. Ich sehe in dem Plan, den man uns vorzeichnet, nichts, was anzeigte, daß hier ein Cabinet geboren ist, welches über ein lange Jahre befolgtes ministerielles System triumphirt und im Namen der Opposition, nach dem eigenen Bekenntniß des Chefs der Opposition, auf der Ministerbank Platz genommen hat. Meine Ungewißheit vermehrte sich noch, als ich Hrn. Barrot gehört, ihn, der sonst immer so klar spricht, weil er so redlich ist. (Beifall.) Es war mir unmöglich, in dem, was er gestern gesagt, die Motive seiner Unterstützung des Ministeriums zu erkennen. Wenn die Stellung eines neuen Cabinets dem Chef desselben nicht erlaubt, über alle Fragen, die das Land interessiren, in offene Erklärungen einzugehen, so begreife ich nicht, warum nicht wenigstens der Chef der Opposition einsah, es sey nothwendig, klar und offen seine Gründe darzulegen. Was kam in der That in dieser ganzen Discussion seit gestern vor, das nicht den Charakter persönlicher Fragen und Debatten gehabt hätte? Der Minister des Innern hat, als er gestern die an das neue Ministerium gerichteten Einwürfe durchging, dieselben als rein persönliche Fragen behandelt. Der Ministerpräsident sagte: „die Versöhnung liegt bereits in den Sachen, man braucht sie jetzt nur noch auf die Personen auszudehnen.“ Auf was hat endlich ein ehrenwerthes Mitglied, das stets in den Regionen der Intelligenz sich bewegt, auf was hat der ehrenwerthe Hr. v. Lamartine, als er gestern den Ministerpräsidenten angriff, seinen Angriff beschränkt? Er kämpfte gegen das, was er die starke persönliche Stellung nennt, welche Hrn. Thiers die Popularität gebe, die er durch ein ungeheures Talent und durch die gewandten Anstrengungen der thätigsten und mächtigsten Organe der Presse erworben. Drehen sich denn wirklich in unserm Lande die Fragen nur um die Persönlichkeiten? Wären wir in Frankreich wirklich in jener traurigen, verabscheuungswerthen Lage von Staaten, die in vollem Verfall begriffen sind? Nein, dem ist nicht so. Aber es herrscht eine gewisse Schwäche bei der ganzen Discussion vor; man schiebt alle diese persönlichen Fragen, alle die Namen, die gewisse Ideen vertheidigt haben, nur vor, weil man sie für einen Schleier hält, dicht genug, um den Stand der Dinge, der Grundsätze zu verhüllen, über die man sich nicht klar auszudrücken wagt. Man muß aber einmal deutlich reden. Ich werde mich dabei der größten Mäßigung befleißen. Jeder, der seit zehn Jahren die Stellung der Kammern aufmerksam beobachtet hat, muß eine tiefe Spaltung der Principien in der Deputirtenkammer wahrgenommen haben. Sprechen wir nicht von Ordnung, Freiheit, Versöhnung, Fortschritt – es ist dieß die Fahne aller Minister. Welcher böse Genius sollte mit unreiner und verfluchter Stimme sagen: ich liebe die Unordnung, ich hasse die Freiheit, ich verabscheue jeden Fortschritt! Sprechen Sie dergleichen Worte nicht mehr aus; sie machen zwar den Gesinnungen Aller Ehre, können aber Menschen nicht classificiren, die ein Herz im Busen tragen. (Beifall.) Seit zehn Jahren gibt es unter uns zwei genau geschiedene, von den Unterabtheilungen, mit denen sie überladen seyn mochten, unabhängige Parteien. Die eine will bei der Leitung und dem Gang der Angelegenheiten des Landes den Vorrang der parlamentarischen Gewalt, die andere den Vorrang der Gewalt der Krone. Schon 1834 sagte es meine ehrenwerther Freund Dupin: ein ehrenwerthes Cabinet kann nur gebildet werden, wenn der Führer desselben wirklicher Conseilpräsident ist. Seyen wir aufrichtig; hierin liegt die ganze Meinungsspaltung.“ (Lebhafte Reclamationen im rechten Centrum.) General Bugeaud: „Man will das Gleichgewicht der Gewalten; den Vorrang keiner Gewalt.“ Hr. Berryer fortfahrend: „Ist es in einer solchen Lage, welche die ganze Grundlage unserer Institutionen berührt, nicht offenbar, daß man, um eine starke, bleibende Majorität zu haben, offen und freimüthig für die eine oder die andere jener beiden Theorien sich erklären muß? Hat dieß das Ministerium der Opposition, das neue Ministerium gethan? Mir scheint nicht. Das Ministerium sagte durch den Mund seines Präsidenten und des Ministers des Innern: „Wir stellen uns auf ein Zwischenterrain und erlassen von da einen Aufruf an die großen Massen der Kammer, zumeist an die, welche uns am nächsten stehen.“ Das heißt, das Ministerium wendet sich zunächst an die intermediären Fractionen, also an jene, deren Ueberzeugungen am schwächsten sind, die am wenigsten an ihren Theorien und Systemen hängen. Statt durch die Stärke seiner Principien, durch das Vertrauen, welches seine politischen Doctrinen einflößen können, Anhänger zu gewinnen, versetzt das Ministerium sich in die Nothwendigkeit, seine Principien zu modificiren, je nach der Zahl und der Qualität der Männer, welche auf seinen Aufruf hin sich ihm anschließen, sey's von der Rechten oder der Linken.“

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Diese aufeinanderfolgenden Krisen, diese unaufhörlichen Schiffbrüche aller Cabinette, diese Kämpfe im Innern der Kammer über Fragen, die oft schwer zu begreifen sind, und die man gewiß auswärts gar nicht begreift, die Präoccupationen der Kammer, vor denen die großen Interessen des Landes, Alles, was seine Industrie, seine großen Arbeiten, seinen Handel, den Fortschritt seines Geistes und seiner Einsicht berührt, weit in den Hintergrund treten &#x2013; alle diese Erörterungen vermeidet man, und warum? um ohne Unterlaß über die Sympathie oder die Antipathie zu sprechen, welche diese oder jene Ministerien einflößen, Ministerien, die man nicht einmal nach den Grundsätzen, die sie ins Werk zu setzen versucht hätten, zu bezeichnen vermag, sondern für die man nach Kalenderzahlen greifen muß, und die man nach der Reihe den 22 Febr., den 6 Sept., den 15 April, den 12 Mai benennt. (Gelächter.) Ich gestehe, daß ich die Bildung des Cabinets, das jetzt vor uns sitzt, für ein Ereigniß gehalten. Ich habe geglaubt, ein Cabinet, das seit 25 Jahren das erste ist, welches aus den Reihen der Opposition hervorgegangen, müsse eine neue Bahn eröffnen, es müsse uns sagen, wie Richelieu den Gesandten Europa's: die Politik ist geändert! (Bewegung.) Ich bemerke diese neue Lage aber nicht in den Discussionen, denen sich zur Stunde noch der Hr. Minister des Innern hingegeben, und die der Präsident des Conseils gestern mit so bewundernswerthem Talent geschildert hat. Ich sehe in dem Plan, den man uns vorzeichnet, nichts, was anzeigte, daß hier ein Cabinet geboren ist, welches über ein lange Jahre befolgtes ministerielles System triumphirt und im Namen der Opposition, nach dem eigenen Bekenntniß des Chefs der Opposition, auf der Ministerbank Platz genommen hat. Meine Ungewißheit vermehrte sich noch, als ich Hrn. Barrot gehört, ihn, der sonst immer so klar spricht, weil er so redlich ist. (Beifall.) Es war mir unmöglich, in dem, was er gestern gesagt, die Motive seiner Unterstützung des Ministeriums zu erkennen. Wenn die Stellung eines neuen Cabinets dem Chef desselben nicht erlaubt, über alle Fragen, die das Land interessiren, in offene Erklärungen einzugehen, so begreife ich nicht, warum nicht wenigstens der Chef der Opposition einsah, es sey nothwendig, klar und offen seine Gründe darzulegen. Was kam in der That in dieser ganzen Discussion seit gestern vor, das nicht den Charakter persönlicher Fragen und Debatten gehabt hätte? Der Minister des Innern hat, als er gestern die an das neue Ministerium gerichteten Einwürfe durchging, dieselben als rein persönliche Fragen behandelt. Der Ministerpräsident sagte: &#x201E;die Versöhnung liegt bereits in den Sachen, man braucht sie jetzt nur noch auf die Personen auszudehnen.&#x201C; Auf was hat endlich ein ehrenwerthes Mitglied, das stets in den Regionen der Intelligenz sich bewegt, auf was hat der ehrenwerthe Hr. v. Lamartine, als er gestern den Ministerpräsidenten angriff, seinen Angriff beschränkt? Er kämpfte gegen das, was er die starke persönliche Stellung nennt, welche Hrn. Thiers die Popularität gebe, die er durch ein ungeheures Talent und durch die gewandten Anstrengungen der thätigsten und mächtigsten Organe der Presse erworben. Drehen sich denn wirklich in unserm Lande die Fragen nur um die Persönlichkeiten? Wären wir in Frankreich wirklich in jener traurigen, verabscheuungswerthen Lage von Staaten, die in vollem Verfall begriffen sind? Nein, dem ist nicht so. Aber es herrscht eine gewisse Schwäche bei der ganzen Discussion vor; man schiebt alle diese persönlichen Fragen, alle die Namen, die gewisse Ideen vertheidigt haben, nur vor, weil man sie für einen Schleier hält, dicht genug, um den Stand der Dinge, der Grundsätze zu verhüllen, über die man sich nicht klar auszudrücken wagt. Man muß aber einmal deutlich reden. Ich werde mich dabei der größten Mäßigung befleißen. Jeder, der seit zehn Jahren die Stellung der Kammern aufmerksam beobachtet hat, muß eine tiefe Spaltung der Principien in der Deputirtenkammer wahrgenommen haben. Sprechen wir nicht von Ordnung, Freiheit, Versöhnung, Fortschritt &#x2013; es ist dieß die Fahne aller Minister. Welcher böse Genius sollte mit unreiner und verfluchter Stimme sagen: ich liebe die Unordnung, ich hasse die Freiheit, ich verabscheue jeden Fortschritt! Sprechen Sie dergleichen Worte nicht mehr aus; sie machen zwar den Gesinnungen Aller Ehre, können aber Menschen nicht classificiren, die ein Herz im Busen tragen. (Beifall.) Seit zehn Jahren gibt es unter uns zwei genau geschiedene, von den Unterabtheilungen, mit denen sie überladen seyn mochten, unabhängige Parteien. Die eine will bei der Leitung und dem Gang der Angelegenheiten des Landes den Vorrang der parlamentarischen Gewalt, die andere den Vorrang der Gewalt der Krone. Schon 1834 sagte es meine ehrenwerther Freund Dupin: ein ehrenwerthes Cabinet kann nur gebildet werden, wenn der Führer desselben wirklicher Conseilpräsident ist. Seyen wir aufrichtig; hierin liegt die ganze Meinungsspaltung.&#x201C; (Lebhafte Reclamationen im rechten Centrum.) General <hi rendition="#g">Bugeaud</hi>: &#x201E;Man will das Gleichgewicht der Gewalten; den Vorrang keiner Gewalt.&#x201C; Hr. <hi rendition="#g">Berryer</hi> fortfahrend: &#x201E;Ist es in einer solchen Lage, welche die ganze Grundlage unserer Institutionen berührt, nicht offenbar, daß man, um eine starke, bleibende Majorität zu haben, offen und freimüthig für die eine oder die andere jener beiden Theorien sich erklären muß? Hat dieß das Ministerium der Opposition, das neue Ministerium gethan? Mir scheint nicht. 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[0745/0009] Berryer über Thiers' Ministerium. Wir glauben aus der letzten Deputirtenverhandlung über die geheimen Fonds noch zwei Reden nachtragen zu müssen, welche den bedeutsamen Schlußpunkt des Ganzen bildeten – die Rede Berryers und die Antwort des neuen Conseilpräsidenten. Hr. Berryer sagte: „Ich bitte die Redner vor mir um Verzeihung; allein ich glaube nicht, daß bis jetzt die Discussion viel Licht über unsere Frage verbreitet hat; ich glaube nicht, daß sie klar dargethan, wo jene Majorität, die man sucht, existirt, wie sie constituirt werden kann. Aus Allem, was man gesagt hat, zeigt sich mir kein sicheres Heilmittel wider das Uebel, auf das Jedermann hinweist, keines wider die Uebel, über die das Land klagt. Betrachtet man die Kammer seit mehreren Jahren, so schmerzt Jedermann die Lage, in der man das Parlament sieht. Diese aufeinanderfolgenden Krisen, diese unaufhörlichen Schiffbrüche aller Cabinette, diese Kämpfe im Innern der Kammer über Fragen, die oft schwer zu begreifen sind, und die man gewiß auswärts gar nicht begreift, die Präoccupationen der Kammer, vor denen die großen Interessen des Landes, Alles, was seine Industrie, seine großen Arbeiten, seinen Handel, den Fortschritt seines Geistes und seiner Einsicht berührt, weit in den Hintergrund treten – alle diese Erörterungen vermeidet man, und warum? um ohne Unterlaß über die Sympathie oder die Antipathie zu sprechen, welche diese oder jene Ministerien einflößen, Ministerien, die man nicht einmal nach den Grundsätzen, die sie ins Werk zu setzen versucht hätten, zu bezeichnen vermag, sondern für die man nach Kalenderzahlen greifen muß, und die man nach der Reihe den 22 Febr., den 6 Sept., den 15 April, den 12 Mai benennt. (Gelächter.) Ich gestehe, daß ich die Bildung des Cabinets, das jetzt vor uns sitzt, für ein Ereigniß gehalten. Ich habe geglaubt, ein Cabinet, das seit 25 Jahren das erste ist, welches aus den Reihen der Opposition hervorgegangen, müsse eine neue Bahn eröffnen, es müsse uns sagen, wie Richelieu den Gesandten Europa's: die Politik ist geändert! (Bewegung.) Ich bemerke diese neue Lage aber nicht in den Discussionen, denen sich zur Stunde noch der Hr. Minister des Innern hingegeben, und die der Präsident des Conseils gestern mit so bewundernswerthem Talent geschildert hat. Ich sehe in dem Plan, den man uns vorzeichnet, nichts, was anzeigte, daß hier ein Cabinet geboren ist, welches über ein lange Jahre befolgtes ministerielles System triumphirt und im Namen der Opposition, nach dem eigenen Bekenntniß des Chefs der Opposition, auf der Ministerbank Platz genommen hat. Meine Ungewißheit vermehrte sich noch, als ich Hrn. Barrot gehört, ihn, der sonst immer so klar spricht, weil er so redlich ist. (Beifall.) Es war mir unmöglich, in dem, was er gestern gesagt, die Motive seiner Unterstützung des Ministeriums zu erkennen. Wenn die Stellung eines neuen Cabinets dem Chef desselben nicht erlaubt, über alle Fragen, die das Land interessiren, in offene Erklärungen einzugehen, so begreife ich nicht, warum nicht wenigstens der Chef der Opposition einsah, es sey nothwendig, klar und offen seine Gründe darzulegen. Was kam in der That in dieser ganzen Discussion seit gestern vor, das nicht den Charakter persönlicher Fragen und Debatten gehabt hätte? Der Minister des Innern hat, als er gestern die an das neue Ministerium gerichteten Einwürfe durchging, dieselben als rein persönliche Fragen behandelt. Der Ministerpräsident sagte: „die Versöhnung liegt bereits in den Sachen, man braucht sie jetzt nur noch auf die Personen auszudehnen.“ Auf was hat endlich ein ehrenwerthes Mitglied, das stets in den Regionen der Intelligenz sich bewegt, auf was hat der ehrenwerthe Hr. v. Lamartine, als er gestern den Ministerpräsidenten angriff, seinen Angriff beschränkt? Er kämpfte gegen das, was er die starke persönliche Stellung nennt, welche Hrn. Thiers die Popularität gebe, die er durch ein ungeheures Talent und durch die gewandten Anstrengungen der thätigsten und mächtigsten Organe der Presse erworben. Drehen sich denn wirklich in unserm Lande die Fragen nur um die Persönlichkeiten? Wären wir in Frankreich wirklich in jener traurigen, verabscheuungswerthen Lage von Staaten, die in vollem Verfall begriffen sind? Nein, dem ist nicht so. Aber es herrscht eine gewisse Schwäche bei der ganzen Discussion vor; man schiebt alle diese persönlichen Fragen, alle die Namen, die gewisse Ideen vertheidigt haben, nur vor, weil man sie für einen Schleier hält, dicht genug, um den Stand der Dinge, der Grundsätze zu verhüllen, über die man sich nicht klar auszudrücken wagt. Man muß aber einmal deutlich reden. Ich werde mich dabei der größten Mäßigung befleißen. Jeder, der seit zehn Jahren die Stellung der Kammern aufmerksam beobachtet hat, muß eine tiefe Spaltung der Principien in der Deputirtenkammer wahrgenommen haben. Sprechen wir nicht von Ordnung, Freiheit, Versöhnung, Fortschritt – es ist dieß die Fahne aller Minister. Welcher böse Genius sollte mit unreiner und verfluchter Stimme sagen: ich liebe die Unordnung, ich hasse die Freiheit, ich verabscheue jeden Fortschritt! Sprechen Sie dergleichen Worte nicht mehr aus; sie machen zwar den Gesinnungen Aller Ehre, können aber Menschen nicht classificiren, die ein Herz im Busen tragen. (Beifall.) Seit zehn Jahren gibt es unter uns zwei genau geschiedene, von den Unterabtheilungen, mit denen sie überladen seyn mochten, unabhängige Parteien. Die eine will bei der Leitung und dem Gang der Angelegenheiten des Landes den Vorrang der parlamentarischen Gewalt, die andere den Vorrang der Gewalt der Krone. Schon 1834 sagte es meine ehrenwerther Freund Dupin: ein ehrenwerthes Cabinet kann nur gebildet werden, wenn der Führer desselben wirklicher Conseilpräsident ist. Seyen wir aufrichtig; hierin liegt die ganze Meinungsspaltung.“ (Lebhafte Reclamationen im rechten Centrum.) General Bugeaud: „Man will das Gleichgewicht der Gewalten; den Vorrang keiner Gewalt.“ Hr. Berryer fortfahrend: „Ist es in einer solchen Lage, welche die ganze Grundlage unserer Institutionen berührt, nicht offenbar, daß man, um eine starke, bleibende Majorität zu haben, offen und freimüthig für die eine oder die andere jener beiden Theorien sich erklären muß? Hat dieß das Ministerium der Opposition, das neue Ministerium gethan? Mir scheint nicht. Das Ministerium sagte durch den Mund seines Präsidenten und des Ministers des Innern: „Wir stellen uns auf ein Zwischenterrain und erlassen von da einen Aufruf an die großen Massen der Kammer, zumeist an die, welche uns am nächsten stehen.“ Das heißt, das Ministerium wendet sich zunächst an die intermediären Fractionen, also an jene, deren Ueberzeugungen am schwächsten sind, die am wenigsten an ihren Theorien und Systemen hängen. Statt durch die Stärke seiner Principien, durch das Vertrauen, welches seine politischen Doctrinen einflößen können, Anhänger zu gewinnen, versetzt das Ministerium sich in die Nothwendigkeit, seine Principien zu modificiren, je nach der Zahl und der Qualität der Männer, welche auf seinen Aufruf hin sich ihm anschließen, sey's von der Rechten oder der Linken.“

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 94. Augsburg, 3. April 1840, S. 0745. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_094_18400403/9>, abgerufen am 21.11.2024.