Allgemeine Zeitung. Nr. 127. Augsburg, 6. Mai 1840.scheint heutzutage nicht nur nicht mehr nothwendig zu seyn, sondern wird Im Jahr 1815 suchte man Bern, von welchem man die Waadt und den Aargan definitiv lostrennte, durch Einräumung der vorörtlichen Stellung zu entschädigen, indem man es dergestalt auf dieselbe Linie mit dem Kanton Zürich, welcher vor dem Jahr 1798 alleiniger Vorort war, stellte. Die kleinen Wenn die vorörtliche Leitung, nach vierjähriger Unterbrechung, dem geheimen Rath von Bern oder den Staatsräthen in Zürich oder Luzern wieder zukam, so wurde sie durch dieselben Magistrate wieder übernommen, welche ihr vier Jahre früher vorgestanden hatten, es sey denn, daß der Tod unter denselben eingekehrt, und die Ersetzung des einen oder andern nothwendig gemacht hatte. Der Faden der Geschäfte war daher, der Unterbrechung ungeachtet, bald wieder gefunden. Gänzlich wurde man der vorörtlichen Leitung überdieß auch während der Pausen nicht entfremdet, denn einerseits pflegten sich die drei Vororte bei allen wichtigern Anlässen unter einander zu berathen, und andrerseits wurden Mitglieder der vorörtlichen Behörde gewöhnlich zu Tagsatzungsgesandten gewählt. Seit dem Jahre 1830 haben sich diese Verhältnisse wesentlich verändert. In Bern erinnert man sich kaum mehr, daß man je Waadtland und Aargau besessen; man denkt in den dortigen Behörden nicht mehr daran, eine Compensation für die Losreißung jener Gebietstheile anzusprechen; und vollends würde niemand eine solche in der Einräumung der vorörtlichen Stellung erblicken. Luzern hat den kleinen Kantonen und der Nunciatur gegenüber eine so feindliche Stellung angenommen, daß die Katholicität in der Schweiz mehr Grund hat, die Amtsdauer des Vororts Luzern zu scheuen, als dieselbe zu wünschen. Wären die Verhältnisse im Jahre 1815 dieselben gewesen, wie jetzt, es wäre zweifelsohne von dem ersten Antrag: "Zürich wie vor dem Jahre 1798 zum beständigen Vorort zu ernennen," nicht wieder abgegangen worden. In allen drei vorörtlichen Kantonen haben überdieß durchgreifende Verfassungsveränderungen stattgefunden, die Hierarchie unter den Beamtungen besteht nicht mehr, man gelangt mit einem Sprung in die obersten Behörden, aus welchen man zuweilen bei etwelcher Wendung der Volksgunst eben so schnell wieder entfernt wird. Ich will die Sache an einem Beispiel klar machen. Im Jahr 1835, als die vorörtliche Leitung von Zürich an den Kanton Bern überging, bestand der vorörtliche Staatsrath aus den HH. v. Tavel, Tscharner, Neuhaus, Schnell, Blumenstein, Kasthofer und Jaggi. Später wurden in Folge verschiedener Austritte in dieselbe gewählt die HH. Weber, Stapfer, Stockmar, Simon und Kohler. Von diesen 12 Magistraten sind unseres Wissens bis auf drei alle amovirt, und die vorörtliche Leitung wird somit im Jahre 1841, zu welcher Zeit sie abermals an Bern übergeht, von Andern (welche - bei allen Talenten - mit derselben unmöglich vertraut seyn können) besorgt werden. - Dieselben Erscheinungen finden wir in Luzern und Zürich. Von den sieben Mitgliedern des vorörtlichen Staatsraths in Luzern, welche im Jahr 1832 die Leitung der Bundesangelegenheiten besorgt haben, waren nur noch drei Mitglieder des vorörtlichen Staatsraths des Jahres 1837. Daß in Zürich dermal ebenfalls mehrere Mitglieder des Vororts vorkommen, welche im Jahre 1834 diese Stelle noch nicht bekleideten, kann allerdings, im Hinblick auf die am 6 Sept. v. J. stattgehabte politische Umgestaltung, nicht als maaßgebend erscheinen. Zu verkennen ist indessen nicht, daß der starke Wechsel in dem vorörtlichen Personale den ohnehin nicht starken Einfluß der Vororte vollends gelähmt hat. Man liebt nicht, sich mit Geschäften zu befassen, die einem nicht geläufig sind; so kommt es denn nicht selten, daß sehr einsichtige Mitglieder der vorörtlichen Behörde ihre kantonale Stellung und Wirksamkeit der eidgenössischen vorziehen, und die eidgenössischen Verhandlungen überhaupt als eine lästige Geschäftsvermehrung betrachten; hierin liegt der wesentlichste Unterschied der vorörtlichen Behörden seit dem Jahre 1830 und den frühern, bei welchen die eidgenössischen Angelegenheiten den kantonalen jederzeit vorgingen. Die damaligen Mitglieder der vorörtlichen Behörde, wie die Reinhard, Wyß, Usteri, Finsler, Hirzel, Eschen, Muralt hatten daher denn auch einen eidgenössischen Namen, während dermalen den Leuten kaum Zeit gegönnt wird, sich einen kantonalen zu erwerben. - Diese und andere Betrachtungen, wie namentlich der so beklagenswerthe Mangel an Deferenz von Seite mehrerer Kantone, dürfte die Tagsatzung davon überzeugen, daß sich das Institut der Vororte überlebt hat, oder daß dasselbe wenigstens wesentlich modificirt werden muß. Der Wechsel namentlich des Vororts hat heut zu Tage keinen Sinn mehr. scheint heutzutage nicht nur nicht mehr nothwendig zu seyn, sondern wird Im Jahr 1815 suchte man Bern, von welchem man die Waadt und den Aargan definitiv lostrennte, durch Einräumung der vorörtlichen Stellung zu entschädigen, indem man es dergestalt auf dieselbe Linie mit dem Kanton Zürich, welcher vor dem Jahr 1798 alleiniger Vorort war, stellte. Die kleinen Wenn die vorörtliche Leitung, nach vierjähriger Unterbrechung, dem geheimen Rath von Bern oder den Staatsräthen in Zürich oder Luzern wieder zukam, so wurde sie durch dieselben Magistrate wieder übernommen, welche ihr vier Jahre früher vorgestanden hatten, es sey denn, daß der Tod unter denselben eingekehrt, und die Ersetzung des einen oder andern nothwendig gemacht hatte. Der Faden der Geschäfte war daher, der Unterbrechung ungeachtet, bald wieder gefunden. Gänzlich wurde man der vorörtlichen Leitung überdieß auch während der Pausen nicht entfremdet, denn einerseits pflegten sich die drei Vororte bei allen wichtigern Anlässen unter einander zu berathen, und andrerseits wurden Mitglieder der vorörtlichen Behörde gewöhnlich zu Tagsatzungsgesandten gewählt. Seit dem Jahre 1830 haben sich diese Verhältnisse wesentlich verändert. In Bern erinnert man sich kaum mehr, daß man je Waadtland und Aargau besessen; man denkt in den dortigen Behörden nicht mehr daran, eine Compensation für die Losreißung jener Gebietstheile anzusprechen; und vollends würde niemand eine solche in der Einräumung der vorörtlichen Stellung erblicken. Luzern hat den kleinen Kantonen und der Nunciatur gegenüber eine so feindliche Stellung angenommen, daß die Katholicität in der Schweiz mehr Grund hat, die Amtsdauer des Vororts Luzern zu scheuen, als dieselbe zu wünschen. Wären die Verhältnisse im Jahre 1815 dieselben gewesen, wie jetzt, es wäre zweifelsohne von dem ersten Antrag: „Zürich wie vor dem Jahre 1798 zum beständigen Vorort zu ernennen,“ nicht wieder abgegangen worden. In allen drei vorörtlichen Kantonen haben überdieß durchgreifende Verfassungsveränderungen stattgefunden, die Hierarchie unter den Beamtungen besteht nicht mehr, man gelangt mit einem Sprung in die obersten Behörden, aus welchen man zuweilen bei etwelcher Wendung der Volksgunst eben so schnell wieder entfernt wird. Ich will die Sache an einem Beispiel klar machen. Im Jahr 1835, als die vorörtliche Leitung von Zürich an den Kanton Bern überging, bestand der vorörtliche Staatsrath aus den HH. v. Tavel, Tscharner, Neuhaus, Schnell, Blumenstein, Kasthofer und Jaggi. Später wurden in Folge verschiedener Austritte in dieselbe gewählt die HH. Weber, Stapfer, Stockmar, Simon und Kohler. Von diesen 12 Magistraten sind unseres Wissens bis auf drei alle amovirt, und die vorörtliche Leitung wird somit im Jahre 1841, zu welcher Zeit sie abermals an Bern übergeht, von Andern (welche – bei allen Talenten – mit derselben unmöglich vertraut seyn können) besorgt werden. – Dieselben Erscheinungen finden wir in Luzern und Zürich. Von den sieben Mitgliedern des vorörtlichen Staatsraths in Luzern, welche im Jahr 1832 die Leitung der Bundesangelegenheiten besorgt haben, waren nur noch drei Mitglieder des vorörtlichen Staatsraths des Jahres 1837. Daß in Zürich dermal ebenfalls mehrere Mitglieder des Vororts vorkommen, welche im Jahre 1834 diese Stelle noch nicht bekleideten, kann allerdings, im Hinblick auf die am 6 Sept. v. J. stattgehabte politische Umgestaltung, nicht als maaßgebend erscheinen. Zu verkennen ist indessen nicht, daß der starke Wechsel in dem vorörtlichen Personale den ohnehin nicht starken Einfluß der Vororte vollends gelähmt hat. Man liebt nicht, sich mit Geschäften zu befassen, die einem nicht geläufig sind; so kommt es denn nicht selten, daß sehr einsichtige Mitglieder der vorörtlichen Behörde ihre kantonale Stellung und Wirksamkeit der eidgenössischen vorziehen, und die eidgenössischen Verhandlungen überhaupt als eine lästige Geschäftsvermehrung betrachten; hierin liegt der wesentlichste Unterschied der vorörtlichen Behörden seit dem Jahre 1830 und den frühern, bei welchen die eidgenössischen Angelegenheiten den kantonalen jederzeit vorgingen. Die damaligen Mitglieder der vorörtlichen Behörde, wie die Reinhard, Wyß, Usteri, Finsler, Hirzel, Eschen, Muralt hatten daher denn auch einen eidgenössischen Namen, während dermalen den Leuten kaum Zeit gegönnt wird, sich einen kantonalen zu erwerben. – Diese und andere Betrachtungen, wie namentlich der so beklagenswerthe Mangel an Deferenz von Seite mehrerer Kantone, dürfte die Tagsatzung davon überzeugen, daß sich das Institut der Vororte überlebt hat, oder daß dasselbe wenigstens wesentlich modificirt werden muß. 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Wer es einmal bis zur Stelle eines Mitglieds des vorörtlichen Staatsraths gebracht hatte, blieb in der Regel in dieser Behörde bis an sein selig Ende.</p><lb/> <p>Wenn die vorörtliche Leitung, nach vierjähriger Unterbrechung, dem geheimen Rath von Bern oder den Staatsräthen in Zürich oder Luzern wieder zukam, so wurde sie durch dieselben Magistrate wieder übernommen, welche ihr vier Jahre früher vorgestanden hatten, es sey denn, daß der Tod unter denselben eingekehrt, und die Ersetzung des einen oder andern nothwendig gemacht hatte. Der Faden der Geschäfte war daher, der Unterbrechung ungeachtet, bald wieder gefunden. 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Luzern hat den kleinen Kantonen und der Nunciatur gegenüber eine so feindliche Stellung angenommen, daß die Katholicität in der Schweiz mehr Grund hat, die Amtsdauer des Vororts Luzern zu scheuen, als dieselbe zu wünschen.</p><lb/> <p>Wären die Verhältnisse im Jahre 1815 dieselben gewesen, wie jetzt, es wäre zweifelsohne von dem ersten Antrag: „Zürich wie vor dem Jahre 1798 zum beständigen Vorort zu ernennen,“ nicht wieder abgegangen worden. In allen drei vorörtlichen Kantonen haben überdieß durchgreifende Verfassungsveränderungen stattgefunden, die Hierarchie unter den Beamtungen besteht nicht mehr, man gelangt mit einem Sprung in die obersten Behörden, aus welchen man zuweilen bei etwelcher Wendung der Volksgunst eben so schnell wieder entfernt wird. Ich will die Sache an einem Beispiel klar machen. Im Jahr 1835, als die vorörtliche Leitung von Zürich an den Kanton Bern überging, bestand der vorörtliche Staatsrath aus den HH. v. Tavel, Tscharner, Neuhaus, Schnell, Blumenstein, Kasthofer und Jaggi. Später wurden in Folge verschiedener Austritte in dieselbe gewählt die HH. Weber, Stapfer, Stockmar, Simon und Kohler. Von diesen 12 Magistraten sind unseres Wissens bis auf drei alle amovirt, und die vorörtliche Leitung wird somit im Jahre 1841, zu welcher Zeit sie abermals an Bern übergeht, von Andern (welche – bei allen Talenten – mit derselben <hi rendition="#g">unmöglich vertraut</hi> seyn können) besorgt werden. – Dieselben Erscheinungen finden wir in Luzern und Zürich. Von den sieben Mitgliedern des vorörtlichen Staatsraths in Luzern, welche im Jahr 1832 die Leitung der Bundesangelegenheiten besorgt haben, waren nur noch drei Mitglieder des vorörtlichen Staatsraths des Jahres 1837. Daß in Zürich dermal ebenfalls mehrere Mitglieder des Vororts vorkommen, welche im Jahre 1834 diese Stelle noch nicht bekleideten, kann allerdings, im Hinblick auf die am 6 Sept. v. J. stattgehabte politische Umgestaltung, nicht als maaßgebend erscheinen. Zu verkennen ist indessen nicht, daß der starke Wechsel in dem vorörtlichen Personale den ohnehin nicht starken Einfluß der Vororte vollends gelähmt hat. Man liebt nicht, sich mit Geschäften zu befassen, die einem nicht geläufig sind; so kommt es denn nicht selten, daß sehr einsichtige Mitglieder der vorörtlichen Behörde ihre kantonale Stellung und Wirksamkeit der eidgenössischen vorziehen, und die eidgenössischen Verhandlungen überhaupt als eine lästige Geschäftsvermehrung betrachten; hierin liegt der wesentlichste Unterschied der vorörtlichen Behörden seit dem Jahre 1830 und den frühern, bei welchen die <hi rendition="#g">eidgenössischen</hi> Angelegenheiten den <hi rendition="#g">kantonalen</hi> jederzeit vorgingen. 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scheint heutzutage nicht nur nicht mehr nothwendig zu seyn, sondern wird
überhaupt nicht mehr begriffen; so allein erklären sich die Spott-Artikel, von welchen die Tagespresse aller Farben alle zwei Jahre bei Anlaß des
Vorortswechsels, voll ist.
Im Jahr 1815 suchte man Bern, von welchem man die Waadt und den Aargan definitiv lostrennte, durch Einräumung der vorörtlichen Stellung zu entschädigen, indem man es dergestalt auf dieselbe Linie mit dem Kanton Zürich, welcher vor dem Jahr 1798 alleiniger Vorort war, stellte. Die kleinen
katholischen Kantone und Luzern, welche anfänglich die Wiederherstellung der alten 13örtigen Eidgenossenschaft wünschten, statt der 22örtigen wie sie nunmehr creirt wurde, suchte man dadurch zu beschwichtigen, daß auch ein katholischer Vorort im Stand Luzern geschaffen wurde. In allen drei vorörtlichen Kantonen bestand theils rechtlich, theils factisch ein aristokratisches Regiment; und in Folge desselben strenge Hierarchie unter den Beamtungen, langsames Vorrücken in denselben, und factische Inamovibilität bei den obersten Staatsstellen. Wer es einmal bis zur Stelle eines Mitglieds des vorörtlichen Staatsraths gebracht hatte, blieb in der Regel in dieser Behörde bis an sein selig Ende.
Wenn die vorörtliche Leitung, nach vierjähriger Unterbrechung, dem geheimen Rath von Bern oder den Staatsräthen in Zürich oder Luzern wieder zukam, so wurde sie durch dieselben Magistrate wieder übernommen, welche ihr vier Jahre früher vorgestanden hatten, es sey denn, daß der Tod unter denselben eingekehrt, und die Ersetzung des einen oder andern nothwendig gemacht hatte. Der Faden der Geschäfte war daher, der Unterbrechung ungeachtet, bald wieder gefunden. Gänzlich wurde man der vorörtlichen Leitung überdieß auch während der Pausen nicht entfremdet, denn einerseits pflegten sich die drei Vororte bei allen wichtigern Anlässen unter einander zu berathen, und andrerseits wurden Mitglieder der vorörtlichen Behörde gewöhnlich zu Tagsatzungsgesandten gewählt.
Seit dem Jahre 1830 haben sich diese Verhältnisse wesentlich verändert. In Bern erinnert man sich kaum mehr, daß man je Waadtland und Aargau besessen; man denkt in den dortigen Behörden nicht mehr daran, eine Compensation für die Losreißung jener Gebietstheile anzusprechen; und vollends würde niemand eine solche in der Einräumung der vorörtlichen Stellung erblicken. Luzern hat den kleinen Kantonen und der Nunciatur gegenüber eine so feindliche Stellung angenommen, daß die Katholicität in der Schweiz mehr Grund hat, die Amtsdauer des Vororts Luzern zu scheuen, als dieselbe zu wünschen.
Wären die Verhältnisse im Jahre 1815 dieselben gewesen, wie jetzt, es wäre zweifelsohne von dem ersten Antrag: „Zürich wie vor dem Jahre 1798 zum beständigen Vorort zu ernennen,“ nicht wieder abgegangen worden. In allen drei vorörtlichen Kantonen haben überdieß durchgreifende Verfassungsveränderungen stattgefunden, die Hierarchie unter den Beamtungen besteht nicht mehr, man gelangt mit einem Sprung in die obersten Behörden, aus welchen man zuweilen bei etwelcher Wendung der Volksgunst eben so schnell wieder entfernt wird. Ich will die Sache an einem Beispiel klar machen. Im Jahr 1835, als die vorörtliche Leitung von Zürich an den Kanton Bern überging, bestand der vorörtliche Staatsrath aus den HH. v. Tavel, Tscharner, Neuhaus, Schnell, Blumenstein, Kasthofer und Jaggi. Später wurden in Folge verschiedener Austritte in dieselbe gewählt die HH. Weber, Stapfer, Stockmar, Simon und Kohler. Von diesen 12 Magistraten sind unseres Wissens bis auf drei alle amovirt, und die vorörtliche Leitung wird somit im Jahre 1841, zu welcher Zeit sie abermals an Bern übergeht, von Andern (welche – bei allen Talenten – mit derselben unmöglich vertraut seyn können) besorgt werden. – Dieselben Erscheinungen finden wir in Luzern und Zürich. Von den sieben Mitgliedern des vorörtlichen Staatsraths in Luzern, welche im Jahr 1832 die Leitung der Bundesangelegenheiten besorgt haben, waren nur noch drei Mitglieder des vorörtlichen Staatsraths des Jahres 1837. Daß in Zürich dermal ebenfalls mehrere Mitglieder des Vororts vorkommen, welche im Jahre 1834 diese Stelle noch nicht bekleideten, kann allerdings, im Hinblick auf die am 6 Sept. v. J. stattgehabte politische Umgestaltung, nicht als maaßgebend erscheinen. Zu verkennen ist indessen nicht, daß der starke Wechsel in dem vorörtlichen Personale den ohnehin nicht starken Einfluß der Vororte vollends gelähmt hat. Man liebt nicht, sich mit Geschäften zu befassen, die einem nicht geläufig sind; so kommt es denn nicht selten, daß sehr einsichtige Mitglieder der vorörtlichen Behörde ihre kantonale Stellung und Wirksamkeit der eidgenössischen vorziehen, und die eidgenössischen Verhandlungen überhaupt als eine lästige Geschäftsvermehrung betrachten; hierin liegt der wesentlichste Unterschied der vorörtlichen Behörden seit dem Jahre 1830 und den frühern, bei welchen die eidgenössischen Angelegenheiten den kantonalen jederzeit vorgingen. Die damaligen Mitglieder der vorörtlichen Behörde, wie die Reinhard, Wyß, Usteri, Finsler, Hirzel, Eschen, Muralt hatten daher denn auch einen eidgenössischen Namen, während dermalen den Leuten kaum Zeit gegönnt wird, sich einen kantonalen zu erwerben. – Diese und andere Betrachtungen, wie namentlich der so beklagenswerthe Mangel an Deferenz von Seite mehrerer Kantone, dürfte die Tagsatzung davon überzeugen, daß sich das Institut der Vororte überlebt hat, oder daß dasselbe wenigstens wesentlich modificirt werden muß. Der Wechsel namentlich des Vororts hat heut zu Tage keinen Sinn mehr.
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