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Allgemeine Zeitung. Nr. 142. Augsburg, 21. Mai 1840.

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kann mehr der Fassung der Aufsätze, mehr der Stellung und Persönlichkeit des Verfassers, die man errathen zu haben glaubte, als ihrem Inhalt zugeschrieben werden. Ich bin der Meinung, daß der Standpunkt, den sich der Verfasser gewählt, ein verfehlter ist. Dem Ausländer gebührt der Standpunkt des mittheilenden Beobachters und nicht jener des Rathgebers. Ich bin weit davon entfernt zu glauben, der Verfasser könne nach fünfundzwanzig in Ungarn verlebten Jahren "kein genügendes Licht in das Chaos ungarischer Verhältnisse bringen." Das Chaos ist nicht so groß; einiges Studium und guter Wille genügen, um darein das nöthige Licht zu bringen. Beides setze ich beim Verfasser voraus, dessen Scharfsinn und Versicherung, diesem oder jenem auf dem Felde der Thatsachen begegnen zu wollen, eine solche Bescheidenheit jedenfalls überflüssig machen. Aber wahr bleibt es immer, daß nichts leichter ist, als zu rathen, wenn man die Folgen seiner Rathschläge nicht zu tragen, noch diese ins Werk zu setzen braucht, und nichts schwerer, als alte eingewurzelte Verhältnisse in ihrem innern Zusammenhange zu überschauen, und die rechten Mittel anzugeben, wie etwas besser gemacht werden könne. Will man praktischer Rathgeber seyn, so ist's damit nicht abgethan, zu sagen, man müsse an einer tausendjährigen Gesetzgebung nicht flicken, sondern sie im Geiste des Jahrhunderts regeneriren. Solcher Rath im Allgemeinen ertheilt, verdient zwar Dank, aber praktischen Nutzen hat er nicht. Es handelt sich hier von praktischen Fragen der Gesetzgebung, bei welchen in die Einzelheiten eingegangen werden muß, denn das Allgemeine ist bekannt, und nur das Besondere und die Anwendung steht in Frage. Man täuscht sich, wenn man glaubt, daß "nur die Eingebornen nicht sehen wollen, was ein jeder Myops sieht." Wir sehen, noch mehr, wir fühlen die übeln Folgen unserer Gebrechen, wir sind ungeduldig, ihrer um jeden Preis los zu werden, wir kennen auch viele der Heilmittel, aber wir sind nicht über alle einig, und greifen ob der Ungeduld und Hast, einer kräftigen Leitung entbehrend, häufig nach halben Maaßregeln, und begehen manchen argen Mißgriff. Das ist die Wahrheit. Die Aufgabe aber ist, die öffentliche Meinung aufzuklären, widerstreitende Interessen auszugleichen, divergirende Ansichten zu vereinigen und diesen eine concentrirte Richtung zu geben. Die Lösung dieser Aufgabe reicht aber weiter hinauf, als zu dem Verfasser der pia desideria. Als Mittel dazu kann in diesem Jahrhundert nichts wirksamer dienen, als freie Discussion der betreffenden Angelegenheiten im Weg der Presse. Soll aber eine solche, anstatt des Mißtrauens, worüber man so oft und bitter klagt, Vertrauen erwecken, soll sie versöhnen, statt zu reizen, soll sie zum Werkzeug der Ausgleichung und nicht der Anfeindung dienen, so muß sie sine ira et studio geführt, und das Bestehende nicht angefeindet, sondern in seiner Ganzheit aufgefaßt werden, falls wirklich von Regeneration der Zukunft, im Wege friedlich überlegter Verbesserungen, ernstlich die Rede seyn soll.

Es scheint, der Verfasser wolle, sowohl in diesen als seinen frühern Aufsätzen, andeuten, man müsse die ganze ungarische Gesetzgebung in ihrem Zusammenhang revidiren und im Geiste des Jahrhunderts regeneriren. Dieser Meinung waren auch viele ungarische Staatsmänner, und der Landtag hat es in früherer Zeit in Staatsschriften ausgesprochen. Man ist aber davon abgekommen und hat sich praktisch überzeugt, daß dieß, wenn überhaupt möglich, unter gegebenen Umständen eine Chimäre ist. Es ist eingesehen worden, daß eine so alte Gesetzgebung, wie die ungarische, nicht auf einmal revidirt werden könne, ohne die Grundlagen selbst, auf welchen sie beruht, in Frage zu stellen. Vor dieser Gefahr ist man zurückgetreten, und hat recht daran gethan. Die Gährung der Ideen hat erst begonnen, und braucht lange Zeit zu ihrer Vollendung. In einem solchen Zeitpunkt eine allgemeine Regeneration versuchen zu wollen, wäre ein Experimentum, welches eher periculosum als pium genannt werden könnte. In constitutionellen Ländern muß die Nothwendigkeit der Reformen allgemein gefühlt werden, und wird sie es, so bleibt die Reform selten aus. Dieß bestimmt auch den Zeitpunkt, wann etwas geschehen soll und kann, und dadurch ist zugleich die Nothwendigkeit geboten, von der allgemeinen Regeneration abzulassen, und es bleibt kein anderer Ausweg, als an der tausendjährigen Gesetzgebung zu flicken, wie sich der Verfasser ausdrückt. Wird aber ein solches Verfahren, im Geiste des Jahrhunderts, mit Rücksicht auf die Interessen aller Betheiligten, mit gründlicher Erwägung al Verhältnisse vollbracht, so bleibt diesem sein Verdienst, mag auch ein Regenerator seine Stimme dagegen erheben; mag er, wenn wir den Rechtszustand des Bauers gesetzlich feststellen, wenn wir den Bauer gegen Willkür schützen, wenn wir Lasten, die er zu tragen hat, vermindern, wenn wir ihm das Recht einräumen, Grundbesitz zu erwerben, in der angewohnt absprechenden Weise uns zurufen: die Zugeständnisse, die ihr dem Bauern gemacht, nützen ihm wenig; mag er ferner, wenn wir ein Wechselrecht ausarbeiten, uns prophezeien: unser Wechselrecht werde, aus dem Zusammenhange gerissen und vereinzelt, von keinem großen praktischen Nutzen seyn; mag er endlich behaupten, daß es in den meisten Fällen, in der ganzen übrigen Welt, Absolutismus der Privilegirten heißen würde, was in Ungarn die Opposition liberal nennt; mag auch Alles dieß uns mit vernehmlicher Stimme zugerufen werden, so können wir uns doch nicht beirren lassen, und es bleibt, wie gesagt, denjenigen, die sich redlich bestrebt haben zu verbessern, oder, wie der Verfasser es nennt, zu flicken, das Verdienst, daß sie den einzig praktisch möglichen Modus der Reform, wenn auch nicht durchgeführt, doch angewendet haben.

(Beschluß folgt.)

Der Tygodnik literacki über die Westslaven.

Die Allgem. Zeitung ist seit einiger Zeit der Fechtplatz geworden, worin mehrere Schriftsteller, theils Slaven, theils Nichtslaven ihre Ansichten über die Verhältnisse und Verwandtschaft der westslavischen Stämme niedergelegt haben. Erlauben Sie mir deßhalb, Ihnen nachstehenden Artikel über die Westslaven aus dem in Posen erscheinenden Tygodnik literacki (Nr. 15, 16 und 17 v. d. J.) einzusenden, der den Gegenstand wieder von einer andern Seite auffaßt, und wie in der (nicht hieher gehörigen) Einleitung bemerkt ist, denselben in einem umfassendern Sinne behandeln will. Es ist in der Einleitung des Artikels über die Westslaven in Nr. 278 der Allgem. Ztg. vom vorigen Jahr gedacht und derselbe auch im Auszug mitgetheilt, doch scheint der Verfasser fast mehr einen neuern Artikel in Nr. 74 und 75 v. d. J. "Erläuterungen über die Westslaven" im Auge gehabt zu haben. Diese Besprechung der slavischen Völkerverhältnisse gewinnt mit jedem Tage ein größeres Interesse, und die Ansichten eines unter so einsichtsvoller Leitung stehenden Blattes wie der Tygodnik literacki verdienen gewiß eine besondere Beachtung, wenn man auch geneigt seyn möchte, über den Rath, den er den Böhmen ertheilt, gewaltig den Kopf zu schütteln. Doch wir wollen den Verfasser ohne weitere Vorrede selbst sprechen lassen, und bemerken bloß, daß der in dem Context genannte Correspondent den Einsender des Artikels in Nr. 278 der Allgem. Zeitung vom vorigen Jahr bezeichnet.

"In unserer Zeit, wo die Politik alles an sich reißt, ist es zuweilen eine fast belustigende Erscheinung zu sehen, in welcher Art

kann mehr der Fassung der Aufsätze, mehr der Stellung und Persönlichkeit des Verfassers, die man errathen zu haben glaubte, als ihrem Inhalt zugeschrieben werden. Ich bin der Meinung, daß der Standpunkt, den sich der Verfasser gewählt, ein verfehlter ist. Dem Ausländer gebührt der Standpunkt des mittheilenden Beobachters und nicht jener des Rathgebers. Ich bin weit davon entfernt zu glauben, der Verfasser könne nach fünfundzwanzig in Ungarn verlebten Jahren „kein genügendes Licht in das Chaos ungarischer Verhältnisse bringen.“ Das Chaos ist nicht so groß; einiges Studium und guter Wille genügen, um darein das nöthige Licht zu bringen. Beides setze ich beim Verfasser voraus, dessen Scharfsinn und Versicherung, diesem oder jenem auf dem Felde der Thatsachen begegnen zu wollen, eine solche Bescheidenheit jedenfalls überflüssig machen. Aber wahr bleibt es immer, daß nichts leichter ist, als zu rathen, wenn man die Folgen seiner Rathschläge nicht zu tragen, noch diese ins Werk zu setzen braucht, und nichts schwerer, als alte eingewurzelte Verhältnisse in ihrem innern Zusammenhange zu überschauen, und die rechten Mittel anzugeben, wie etwas besser gemacht werden könne. Will man praktischer Rathgeber seyn, so ist's damit nicht abgethan, zu sagen, man müsse an einer tausendjährigen Gesetzgebung nicht flicken, sondern sie im Geiste des Jahrhunderts regeneriren. Solcher Rath im Allgemeinen ertheilt, verdient zwar Dank, aber praktischen Nutzen hat er nicht. Es handelt sich hier von praktischen Fragen der Gesetzgebung, bei welchen in die Einzelheiten eingegangen werden muß, denn das Allgemeine ist bekannt, und nur das Besondere und die Anwendung steht in Frage. Man täuscht sich, wenn man glaubt, daß „nur die Eingebornen nicht sehen wollen, was ein jeder Myops sieht.“ Wir sehen, noch mehr, wir fühlen die übeln Folgen unserer Gebrechen, wir sind ungeduldig, ihrer um jeden Preis los zu werden, wir kennen auch viele der Heilmittel, aber wir sind nicht über alle einig, und greifen ob der Ungeduld und Hast, einer kräftigen Leitung entbehrend, häufig nach halben Maaßregeln, und begehen manchen argen Mißgriff. Das ist die Wahrheit. Die Aufgabe aber ist, die öffentliche Meinung aufzuklären, widerstreitende Interessen auszugleichen, divergirende Ansichten zu vereinigen und diesen eine concentrirte Richtung zu geben. Die Lösung dieser Aufgabe reicht aber weiter hinauf, als zu dem Verfasser der pia desideria. Als Mittel dazu kann in diesem Jahrhundert nichts wirksamer dienen, als freie Discussion der betreffenden Angelegenheiten im Weg der Presse. Soll aber eine solche, anstatt des Mißtrauens, worüber man so oft und bitter klagt, Vertrauen erwecken, soll sie versöhnen, statt zu reizen, soll sie zum Werkzeug der Ausgleichung und nicht der Anfeindung dienen, so muß sie sine ira et studio geführt, und das Bestehende nicht angefeindet, sondern in seiner Ganzheit aufgefaßt werden, falls wirklich von Regeneration der Zukunft, im Wege friedlich überlegter Verbesserungen, ernstlich die Rede seyn soll.

Es scheint, der Verfasser wolle, sowohl in diesen als seinen frühern Aufsätzen, andeuten, man müsse die ganze ungarische Gesetzgebung in ihrem Zusammenhang revidiren und im Geiste des Jahrhunderts regeneriren. Dieser Meinung waren auch viele ungarische Staatsmänner, und der Landtag hat es in früherer Zeit in Staatsschriften ausgesprochen. Man ist aber davon abgekommen und hat sich praktisch überzeugt, daß dieß, wenn überhaupt möglich, unter gegebenen Umständen eine Chimäre ist. Es ist eingesehen worden, daß eine so alte Gesetzgebung, wie die ungarische, nicht auf einmal revidirt werden könne, ohne die Grundlagen selbst, auf welchen sie beruht, in Frage zu stellen. Vor dieser Gefahr ist man zurückgetreten, und hat recht daran gethan. Die Gährung der Ideen hat erst begonnen, und braucht lange Zeit zu ihrer Vollendung. In einem solchen Zeitpunkt eine allgemeine Regeneration versuchen zu wollen, wäre ein Experimentum, welches eher periculosum als pium genannt werden könnte. In constitutionellen Ländern muß die Nothwendigkeit der Reformen allgemein gefühlt werden, und wird sie es, so bleibt die Reform selten aus. Dieß bestimmt auch den Zeitpunkt, wann etwas geschehen soll und kann, und dadurch ist zugleich die Nothwendigkeit geboten, von der allgemeinen Regeneration abzulassen, und es bleibt kein anderer Ausweg, als an der tausendjährigen Gesetzgebung zu flicken, wie sich der Verfasser ausdrückt. Wird aber ein solches Verfahren, im Geiste des Jahrhunderts, mit Rücksicht auf die Interessen aller Betheiligten, mit gründlicher Erwägung al Verhältnisse vollbracht, so bleibt diesem sein Verdienst, mag auch ein Regenerator seine Stimme dagegen erheben; mag er, wenn wir den Rechtszustand des Bauers gesetzlich feststellen, wenn wir den Bauer gegen Willkür schützen, wenn wir Lasten, die er zu tragen hat, vermindern, wenn wir ihm das Recht einräumen, Grundbesitz zu erwerben, in der angewohnt absprechenden Weise uns zurufen: die Zugeständnisse, die ihr dem Bauern gemacht, nützen ihm wenig; mag er ferner, wenn wir ein Wechselrecht ausarbeiten, uns prophezeien: unser Wechselrecht werde, aus dem Zusammenhange gerissen und vereinzelt, von keinem großen praktischen Nutzen seyn; mag er endlich behaupten, daß es in den meisten Fällen, in der ganzen übrigen Welt, Absolutismus der Privilegirten heißen würde, was in Ungarn die Opposition liberal nennt; mag auch Alles dieß uns mit vernehmlicher Stimme zugerufen werden, so können wir uns doch nicht beirren lassen, und es bleibt, wie gesagt, denjenigen, die sich redlich bestrebt haben zu verbessern, oder, wie der Verfasser es nennt, zu flicken, das Verdienst, daß sie den einzig praktisch möglichen Modus der Reform, wenn auch nicht durchgeführt, doch angewendet haben.

(Beschluß folgt.)

Der Tygodnik literacki über die Westslaven.

Die Allgem. Zeitung ist seit einiger Zeit der Fechtplatz geworden, worin mehrere Schriftsteller, theils Slaven, theils Nichtslaven ihre Ansichten über die Verhältnisse und Verwandtschaft der westslavischen Stämme niedergelegt haben. Erlauben Sie mir deßhalb, Ihnen nachstehenden Artikel über die Westslaven aus dem in Posen erscheinenden Tygodnik literacki (Nr. 15, 16 und 17 v. d. J.) einzusenden, der den Gegenstand wieder von einer andern Seite auffaßt, und wie in der (nicht hieher gehörigen) Einleitung bemerkt ist, denselben in einem umfassendern Sinne behandeln will. Es ist in der Einleitung des Artikels über die Westslaven in Nr. 278 der Allgem. Ztg. vom vorigen Jahr gedacht und derselbe auch im Auszug mitgetheilt, doch scheint der Verfasser fast mehr einen neuern Artikel in Nr. 74 und 75 v. d. J. „Erläuterungen über die Westslaven“ im Auge gehabt zu haben. Diese Besprechung der slavischen Völkerverhältnisse gewinnt mit jedem Tage ein größeres Interesse, und die Ansichten eines unter so einsichtsvoller Leitung stehenden Blattes wie der Tygodnik literacki verdienen gewiß eine besondere Beachtung, wenn man auch geneigt seyn möchte, über den Rath, den er den Böhmen ertheilt, gewaltig den Kopf zu schütteln. Doch wir wollen den Verfasser ohne weitere Vorrede selbst sprechen lassen, und bemerken bloß, daß der in dem Context genannte Correspondent den Einsender des Artikels in Nr. 278 der Allgem. Zeitung vom vorigen Jahr bezeichnet.

„In unserer Zeit, wo die Politik alles an sich reißt, ist es zuweilen eine fast belustigende Erscheinung zu sehen, in welcher Art

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[1130/0010] kann mehr der Fassung der Aufsätze, mehr der Stellung und Persönlichkeit des Verfassers, die man errathen zu haben glaubte, als ihrem Inhalt zugeschrieben werden. Ich bin der Meinung, daß der Standpunkt, den sich der Verfasser gewählt, ein verfehlter ist. Dem Ausländer gebührt der Standpunkt des mittheilenden Beobachters und nicht jener des Rathgebers. Ich bin weit davon entfernt zu glauben, der Verfasser könne nach fünfundzwanzig in Ungarn verlebten Jahren „kein genügendes Licht in das Chaos ungarischer Verhältnisse bringen.“ Das Chaos ist nicht so groß; einiges Studium und guter Wille genügen, um darein das nöthige Licht zu bringen. Beides setze ich beim Verfasser voraus, dessen Scharfsinn und Versicherung, diesem oder jenem auf dem Felde der Thatsachen begegnen zu wollen, eine solche Bescheidenheit jedenfalls überflüssig machen. Aber wahr bleibt es immer, daß nichts leichter ist, als zu rathen, wenn man die Folgen seiner Rathschläge nicht zu tragen, noch diese ins Werk zu setzen braucht, und nichts schwerer, als alte eingewurzelte Verhältnisse in ihrem innern Zusammenhange zu überschauen, und die rechten Mittel anzugeben, wie etwas besser gemacht werden könne. Will man praktischer Rathgeber seyn, so ist's damit nicht abgethan, zu sagen, man müsse an einer tausendjährigen Gesetzgebung nicht flicken, sondern sie im Geiste des Jahrhunderts regeneriren. Solcher Rath im Allgemeinen ertheilt, verdient zwar Dank, aber praktischen Nutzen hat er nicht. Es handelt sich hier von praktischen Fragen der Gesetzgebung, bei welchen in die Einzelheiten eingegangen werden muß, denn das Allgemeine ist bekannt, und nur das Besondere und die Anwendung steht in Frage. Man täuscht sich, wenn man glaubt, daß „nur die Eingebornen nicht sehen wollen, was ein jeder Myops sieht.“ Wir sehen, noch mehr, wir fühlen die übeln Folgen unserer Gebrechen, wir sind ungeduldig, ihrer um jeden Preis los zu werden, wir kennen auch viele der Heilmittel, aber wir sind nicht über alle einig, und greifen ob der Ungeduld und Hast, einer kräftigen Leitung entbehrend, häufig nach halben Maaßregeln, und begehen manchen argen Mißgriff. Das ist die Wahrheit. Die Aufgabe aber ist, die öffentliche Meinung aufzuklären, widerstreitende Interessen auszugleichen, divergirende Ansichten zu vereinigen und diesen eine concentrirte Richtung zu geben. Die Lösung dieser Aufgabe reicht aber weiter hinauf, als zu dem Verfasser der pia desideria. Als Mittel dazu kann in diesem Jahrhundert nichts wirksamer dienen, als freie Discussion der betreffenden Angelegenheiten im Weg der Presse. Soll aber eine solche, anstatt des Mißtrauens, worüber man so oft und bitter klagt, Vertrauen erwecken, soll sie versöhnen, statt zu reizen, soll sie zum Werkzeug der Ausgleichung und nicht der Anfeindung dienen, so muß sie sine ira et studio geführt, und das Bestehende nicht angefeindet, sondern in seiner Ganzheit aufgefaßt werden, falls wirklich von Regeneration der Zukunft, im Wege friedlich überlegter Verbesserungen, ernstlich die Rede seyn soll. Es scheint, der Verfasser wolle, sowohl in diesen als seinen frühern Aufsätzen, andeuten, man müsse die ganze ungarische Gesetzgebung in ihrem Zusammenhang revidiren und im Geiste des Jahrhunderts regeneriren. Dieser Meinung waren auch viele ungarische Staatsmänner, und der Landtag hat es in früherer Zeit in Staatsschriften ausgesprochen. Man ist aber davon abgekommen und hat sich praktisch überzeugt, daß dieß, wenn überhaupt möglich, unter gegebenen Umständen eine Chimäre ist. Es ist eingesehen worden, daß eine so alte Gesetzgebung, wie die ungarische, nicht auf einmal revidirt werden könne, ohne die Grundlagen selbst, auf welchen sie beruht, in Frage zu stellen. Vor dieser Gefahr ist man zurückgetreten, und hat recht daran gethan. Die Gährung der Ideen hat erst begonnen, und braucht lange Zeit zu ihrer Vollendung. In einem solchen Zeitpunkt eine allgemeine Regeneration versuchen zu wollen, wäre ein Experimentum, welches eher periculosum als pium genannt werden könnte. In constitutionellen Ländern muß die Nothwendigkeit der Reformen allgemein gefühlt werden, und wird sie es, so bleibt die Reform selten aus. Dieß bestimmt auch den Zeitpunkt, wann etwas geschehen soll und kann, und dadurch ist zugleich die Nothwendigkeit geboten, von der allgemeinen Regeneration abzulassen, und es bleibt kein anderer Ausweg, als an der tausendjährigen Gesetzgebung zu flicken, wie sich der Verfasser ausdrückt. Wird aber ein solches Verfahren, im Geiste des Jahrhunderts, mit Rücksicht auf die Interessen aller Betheiligten, mit gründlicher Erwägung al Verhältnisse vollbracht, so bleibt diesem sein Verdienst, mag auch ein Regenerator seine Stimme dagegen erheben; mag er, wenn wir den Rechtszustand des Bauers gesetzlich feststellen, wenn wir den Bauer gegen Willkür schützen, wenn wir Lasten, die er zu tragen hat, vermindern, wenn wir ihm das Recht einräumen, Grundbesitz zu erwerben, in der angewohnt absprechenden Weise uns zurufen: die Zugeständnisse, die ihr dem Bauern gemacht, nützen ihm wenig; mag er ferner, wenn wir ein Wechselrecht ausarbeiten, uns prophezeien: unser Wechselrecht werde, aus dem Zusammenhange gerissen und vereinzelt, von keinem großen praktischen Nutzen seyn; mag er endlich behaupten, daß es in den meisten Fällen, in der ganzen übrigen Welt, Absolutismus der Privilegirten heißen würde, was in Ungarn die Opposition liberal nennt; mag auch Alles dieß uns mit vernehmlicher Stimme zugerufen werden, so können wir uns doch nicht beirren lassen, und es bleibt, wie gesagt, denjenigen, die sich redlich bestrebt haben zu verbessern, oder, wie der Verfasser es nennt, zu flicken, das Verdienst, daß sie den einzig praktisch möglichen Modus der Reform, wenn auch nicht durchgeführt, doch angewendet haben. (Beschluß folgt.) Der Tygodnik literacki über die Westslaven. Die Allgem. Zeitung ist seit einiger Zeit der Fechtplatz geworden, worin mehrere Schriftsteller, theils Slaven, theils Nichtslaven ihre Ansichten über die Verhältnisse und Verwandtschaft der westslavischen Stämme niedergelegt haben. Erlauben Sie mir deßhalb, Ihnen nachstehenden Artikel über die Westslaven aus dem in Posen erscheinenden Tygodnik literacki (Nr. 15, 16 und 17 v. d. J.) einzusenden, der den Gegenstand wieder von einer andern Seite auffaßt, und wie in der (nicht hieher gehörigen) Einleitung bemerkt ist, denselben in einem umfassendern Sinne behandeln will. Es ist in der Einleitung des Artikels über die Westslaven in Nr. 278 der Allgem. Ztg. vom vorigen Jahr gedacht und derselbe auch im Auszug mitgetheilt, doch scheint der Verfasser fast mehr einen neuern Artikel in Nr. 74 und 75 v. d. J. „Erläuterungen über die Westslaven“ im Auge gehabt zu haben. Diese Besprechung der slavischen Völkerverhältnisse gewinnt mit jedem Tage ein größeres Interesse, und die Ansichten eines unter so einsichtsvoller Leitung stehenden Blattes wie der Tygodnik literacki verdienen gewiß eine besondere Beachtung, wenn man auch geneigt seyn möchte, über den Rath, den er den Böhmen ertheilt, gewaltig den Kopf zu schütteln. Doch wir wollen den Verfasser ohne weitere Vorrede selbst sprechen lassen, und bemerken bloß, daß der in dem Context genannte Correspondent den Einsender des Artikels in Nr. 278 der Allgem. Zeitung vom vorigen Jahr bezeichnet. „In unserer Zeit, wo die Politik alles an sich reißt, ist es zuweilen eine fast belustigende Erscheinung zu sehen, in welcher Art

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 142. Augsburg, 21. Mai 1840, S. 1130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_142_18400521/10>, abgerufen am 27.04.2024.