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Allgemeine Zeitung. Nr. 153. Augsburg, 1. Juni 1840.

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den Fabrikherren unmöglich, den Druck der arbeitenden Classen einigermaßen zu lindern. Dürfen wir also voraussetzen, daß der Arme unter solchen Verhältnissen eine starke Anhänglichkeit an unsere Institutionen besitze? Muß es uns nicht im Gegentheil zuweilen einfallen, daß Jemand, der nichts zu verlieren hat, leicht darauf kommen könnte, durch Anarchie etwas gewinnen zu wollen? - Aber dieß Haus mit seinem Nichtachten aller solcher offenkundigen Gebrechen, mit seiner stolzen Vernachlässigung aller hierauf bezüglichen eingereichten Petitionen gleicht dem Priester und Leviten in der Schrift bei weitem mehr, als dem barmherzigen Samaritaner: nicht weil jene beiden die Wunden des armen an der Straße Liegenden selbst geschlagen hatten, wurden sie verdammt, sondern weil sie an der andern Seite des Wegs vorübergingen, ohne ihm zu helfen. Und wenn sich dann das arme aufgegebene Volk in seinem Zustande vollkommener Hülflosigkeit vielleicht einmal der oder jener Verbrechen schuldig macht, steht es wohl dem Reichen zu, sich darüber in hochmüthig tugendhaften Ausrufungen, in moralisch ekeln Gemeinplätzen zu erheben? Ich hatte vor einigen Jahren die Ehre, neben einer sehr ehrbaren und spröden, nur etwas antiquirten Jungfrau zu Tisch zu sitzen: sie war stark betheiligt in den Fluctuationen der drei Procent und der Quadrilletafel, und ließ sich in Gesellschaft eines knurrenden Schooßhundes die Leckerheiten aller Jahreszeiten vortrefflich schmecken. Während sie eben, ganz con amore, einen reichlich gefüllten Teller mit Schildkrötensuppe speiste, kam die Rede auf die Unruhen in gewissen Bezirken, wo die arbeitenden Classen, aus Mangel an Unterhalt, mehrere Gewaltthaten verübt hatten. Meine schöne Nachbarin zuckte die Schultern, drehte das Weiße ihrer Augen gen Himmel, und vollendete während der kurzen Intervalle ihrer Verschluckungsthätigkeit folgende Ausrufung: O Sir, nationale Undankbarkeit ist eine schreckliche Sünde! Wie tausendfach sind die Wohlthaten, die eine gnädige Vorsehung täglich auf uns, die unvernünftigen Bewohner dieses hochbegünstigten Landes, niederregnen läßt; ich wünschte, ich könnte das meinen verführten Landsleuten selbst vorhalten und sie fragen, ob wir mit Anstand um ein noch reicheres Maaß Comforts bitten können, als wir bereits empfangen haben. "Champagner, Madame?" "Wenn ich bitten darf. Aber, Sir (der Kellner füllte indeß ihr langes Glas mit Vin d'Ay), ich erröthe, wenn ich daran denke auf welche Weise wir diese Gnaden, deren wir so unwürdig sind, erwiedern. Ist es nicht schrecklich zu erwägen (hier trank sie), daß wir vielleicht in diesem Augenblick, als Dank für so vielen empfangenen Segen, Beleidigungen verüben und Häuser niederreißen? Ich erkläre, wenn man an eine solche entsetzliche Verblendung denkt, so überläuft es einen von Kopf bis zum Fuß, aus Furcht, daß wir zur gerechten Bestrafung unsrer Verbrechen in einem Nu aller unsrer Comforts beraubt seyn könnten: Dürft' ich Euch um noch einen Löffel Suppe bitten?" - Und solch eine selbstsüchtige Raisonnirerei, solch eine Gewohnheit, den Betrag der Genüsse, den wir besitzen, zum Richtmaaß zu nehmen für die Dankbarkeit Anderer, die doch an unseren Vorzügen keinen Antheil haben, beschränkt sich keineswegs auf den sentimentalen Scharfsinn alter Jungfern, sondern charakterisirt mehr oder minder die Reichen jedes Standes und Geschlechts. Alle sind für das Bestehende und für die Regierung, so lange ihr Vermögen besteht und so lange die Minister keine Abgaben verlangen. Wie Satan vom Hiob sagte, daß er Gott ins Angesicht fluchen würde, sobald derselbe sein Eigenthum anrühre, so würden Tausende dem Kanzler der Schatzkammer ins Angesicht oder wenigstens hinter seinem Rücken fluchen, wenn er z. B. eine Abgabe auf Capitalien oder Besoldungen legen, oder die Korngesetze aufheben wollte. - Fassen wir nicht so schnell als möglich einen Beschluß, die Lage der arbeitenden Classen genauer zu untersuchen, und ihrem Wohlseyn und ihrer moralischen und religiösen Erziehung etwas von unserm Wohlseyn zum Opfer zu bringen, so wird der Tag der Rechenschaft und Rache näher seyn, als die unruhigsten Politiker und scharfsinnigsten Philosophen sich jetzt einbilden. - Wollen wir uns noch fortwährend mit Gesetzen zur Beschützung der Hottentotten, Hindus und Hill-Culies beschäftigen, und indessen einen großen Theil unserer Mitbürger auf der tiefsten Stufe der Unwissenheit und des Elends lassen? - Aber ich fürchte, durch meine lange Rede das Haus ermüdet zu haben, und bitte nur noch um die Erlaubniß, ihm für die Nachsicht und Geduld, mit der man mich angehört hat, danken zu dürfen."

den Fabrikherren unmöglich, den Druck der arbeitenden Classen einigermaßen zu lindern. Dürfen wir also voraussetzen, daß der Arme unter solchen Verhältnissen eine starke Anhänglichkeit an unsere Institutionen besitze? Muß es uns nicht im Gegentheil zuweilen einfallen, daß Jemand, der nichts zu verlieren hat, leicht darauf kommen könnte, durch Anarchie etwas gewinnen zu wollen? – Aber dieß Haus mit seinem Nichtachten aller solcher offenkundigen Gebrechen, mit seiner stolzen Vernachlässigung aller hierauf bezüglichen eingereichten Petitionen gleicht dem Priester und Leviten in der Schrift bei weitem mehr, als dem barmherzigen Samaritaner: nicht weil jene beiden die Wunden des armen an der Straße Liegenden selbst geschlagen hatten, wurden sie verdammt, sondern weil sie an der andern Seite des Wegs vorübergingen, ohne ihm zu helfen. Und wenn sich dann das arme aufgegebene Volk in seinem Zustande vollkommener Hülflosigkeit vielleicht einmal der oder jener Verbrechen schuldig macht, steht es wohl dem Reichen zu, sich darüber in hochmüthig tugendhaften Ausrufungen, in moralisch ekeln Gemeinplätzen zu erheben? Ich hatte vor einigen Jahren die Ehre, neben einer sehr ehrbaren und spröden, nur etwas antiquirten Jungfrau zu Tisch zu sitzen: sie war stark betheiligt in den Fluctuationen der drei Procent und der Quadrilletafel, und ließ sich in Gesellschaft eines knurrenden Schooßhundes die Leckerheiten aller Jahreszeiten vortrefflich schmecken. Während sie eben, ganz con amore, einen reichlich gefüllten Teller mit Schildkrötensuppe speiste, kam die Rede auf die Unruhen in gewissen Bezirken, wo die arbeitenden Classen, aus Mangel an Unterhalt, mehrere Gewaltthaten verübt hatten. Meine schöne Nachbarin zuckte die Schultern, drehte das Weiße ihrer Augen gen Himmel, und vollendete während der kurzen Intervalle ihrer Verschluckungsthätigkeit folgende Ausrufung: O Sir, nationale Undankbarkeit ist eine schreckliche Sünde! Wie tausendfach sind die Wohlthaten, die eine gnädige Vorsehung täglich auf uns, die unvernünftigen Bewohner dieses hochbegünstigten Landes, niederregnen läßt; ich wünschte, ich könnte das meinen verführten Landsleuten selbst vorhalten und sie fragen, ob wir mit Anstand um ein noch reicheres Maaß Comforts bitten können, als wir bereits empfangen haben. „Champagner, Madame?“ „Wenn ich bitten darf. Aber, Sir (der Kellner füllte indeß ihr langes Glas mit Vin d'Ay), ich erröthe, wenn ich daran denke auf welche Weise wir diese Gnaden, deren wir so unwürdig sind, erwiedern. Ist es nicht schrecklich zu erwägen (hier trank sie), daß wir vielleicht in diesem Augenblick, als Dank für so vielen empfangenen Segen, Beleidigungen verüben und Häuser niederreißen? Ich erkläre, wenn man an eine solche entsetzliche Verblendung denkt, so überläuft es einen von Kopf bis zum Fuß, aus Furcht, daß wir zur gerechten Bestrafung unsrer Verbrechen in einem Nu aller unsrer Comforts beraubt seyn könnten: Dürft' ich Euch um noch einen Löffel Suppe bitten?“ – Und solch eine selbstsüchtige Raisonnirerei, solch eine Gewohnheit, den Betrag der Genüsse, den wir besitzen, zum Richtmaaß zu nehmen für die Dankbarkeit Anderer, die doch an unseren Vorzügen keinen Antheil haben, beschränkt sich keineswegs auf den sentimentalen Scharfsinn alter Jungfern, sondern charakterisirt mehr oder minder die Reichen jedes Standes und Geschlechts. Alle sind für das Bestehende und für die Regierung, so lange ihr Vermögen besteht und so lange die Minister keine Abgaben verlangen. Wie Satan vom Hiob sagte, daß er Gott ins Angesicht fluchen würde, sobald derselbe sein Eigenthum anrühre, so würden Tausende dem Kanzler der Schatzkammer ins Angesicht oder wenigstens hinter seinem Rücken fluchen, wenn er z. B. eine Abgabe auf Capitalien oder Besoldungen legen, oder die Korngesetze aufheben wollte. – Fassen wir nicht so schnell als möglich einen Beschluß, die Lage der arbeitenden Classen genauer zu untersuchen, und ihrem Wohlseyn und ihrer moralischen und religiösen Erziehung etwas von unserm Wohlseyn zum Opfer zu bringen, so wird der Tag der Rechenschaft und Rache näher seyn, als die unruhigsten Politiker und scharfsinnigsten Philosophen sich jetzt einbilden. – Wollen wir uns noch fortwährend mit Gesetzen zur Beschützung der Hottentotten, Hindus und Hill-Culies beschäftigen, und indessen einen großen Theil unserer Mitbürger auf der tiefsten Stufe der Unwissenheit und des Elends lassen? – Aber ich fürchte, durch meine lange Rede das Haus ermüdet zu haben, und bitte nur noch um die Erlaubniß, ihm für die Nachsicht und Geduld, mit der man mich angehört hat, danken zu dürfen.“

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den Fabrikherren unmöglich, den Druck der arbeitenden Classen einigermaßen zu lindern. Dürfen wir also voraussetzen, daß der Arme unter solchen Verhältnissen eine starke Anhänglichkeit an unsere Institutionen besitze? Muß es uns nicht im Gegentheil zuweilen einfallen, daß Jemand, der nichts zu verlieren hat, leicht darauf kommen könnte, durch Anarchie etwas gewinnen zu wollen? &#x2013; Aber dieß Haus mit seinem Nichtachten aller solcher offenkundigen Gebrechen, mit seiner stolzen Vernachlässigung aller hierauf bezüglichen eingereichten Petitionen gleicht dem Priester und Leviten in der Schrift bei weitem mehr, als dem barmherzigen Samaritaner: nicht weil jene beiden die Wunden des armen an der Straße Liegenden selbst geschlagen hatten, wurden sie verdammt, sondern weil sie an der andern Seite des Wegs vorübergingen, ohne ihm zu helfen. Und wenn sich dann das arme aufgegebene Volk in seinem Zustande vollkommener Hülflosigkeit vielleicht einmal der oder jener Verbrechen schuldig macht, steht es wohl dem Reichen zu, sich darüber in hochmüthig tugendhaften Ausrufungen, in moralisch ekeln Gemeinplätzen zu erheben? Ich hatte vor einigen Jahren die Ehre, neben einer sehr ehrbaren und spröden, nur etwas antiquirten Jungfrau zu Tisch zu sitzen: sie war stark betheiligt in den Fluctuationen der drei Procent und der Quadrilletafel, und ließ sich in Gesellschaft eines knurrenden Schooßhundes die Leckerheiten aller Jahreszeiten vortrefflich schmecken. Während sie eben, ganz con amore, einen reichlich gefüllten Teller mit Schildkrötensuppe speiste, kam die Rede auf die Unruhen in gewissen Bezirken, wo die arbeitenden Classen, aus Mangel an Unterhalt, mehrere Gewaltthaten verübt hatten. Meine schöne Nachbarin zuckte die Schultern, drehte das Weiße ihrer Augen gen Himmel, und vollendete während der kurzen Intervalle ihrer Verschluckungsthätigkeit folgende Ausrufung: O Sir, nationale Undankbarkeit ist eine schreckliche Sünde! Wie tausendfach sind die Wohlthaten, die eine gnädige Vorsehung täglich auf uns, die unvernünftigen Bewohner dieses hochbegünstigten Landes, niederregnen läßt; ich wünschte, ich könnte das meinen verführten Landsleuten selbst vorhalten und sie fragen, ob wir mit Anstand um ein noch reicheres Maaß Comforts bitten können, als wir bereits empfangen haben. &#x201E;Champagner, Madame?&#x201C; &#x201E;Wenn ich bitten darf. Aber, Sir (der Kellner füllte indeß ihr langes Glas mit Vin d'Ay), ich erröthe, wenn ich daran denke auf welche Weise wir diese Gnaden, deren wir so unwürdig sind, erwiedern. Ist es nicht schrecklich zu erwägen (hier trank sie), daß wir vielleicht in diesem Augenblick, als Dank für so vielen empfangenen Segen, Beleidigungen verüben und Häuser niederreißen? Ich erkläre, wenn man an eine solche entsetzliche Verblendung denkt, so überläuft es einen von Kopf bis zum Fuß, aus Furcht, daß wir zur gerechten Bestrafung unsrer Verbrechen in einem Nu aller unsrer Comforts beraubt seyn könnten: Dürft' ich Euch um noch einen Löffel Suppe bitten?&#x201C; &#x2013; Und solch eine selbstsüchtige Raisonnirerei, solch eine Gewohnheit, den Betrag der Genüsse, den wir besitzen, zum Richtmaaß zu nehmen für die Dankbarkeit Anderer, die doch an unseren Vorzügen keinen Antheil haben, beschränkt sich keineswegs auf den sentimentalen Scharfsinn alter Jungfern, sondern charakterisirt mehr oder minder die Reichen jedes Standes und Geschlechts. Alle sind für das Bestehende und für die Regierung, so lange ihr Vermögen besteht und so lange die Minister keine Abgaben verlangen. Wie Satan vom Hiob sagte, daß er Gott ins Angesicht fluchen würde, sobald derselbe sein Eigenthum anrühre, so würden Tausende dem Kanzler der Schatzkammer ins Angesicht oder wenigstens hinter seinem Rücken fluchen, wenn er z. B. eine Abgabe auf Capitalien oder Besoldungen legen, oder die Korngesetze aufheben wollte. &#x2013; Fassen wir nicht so schnell als möglich einen Beschluß, die Lage der arbeitenden Classen genauer zu untersuchen, und ihrem Wohlseyn und ihrer moralischen und religiösen Erziehung etwas von unserm Wohlseyn zum Opfer zu bringen, so wird der Tag der Rechenschaft und Rache näher seyn, als die unruhigsten Politiker und scharfsinnigsten Philosophen sich jetzt einbilden. &#x2013; Wollen wir uns noch fortwährend mit Gesetzen zur Beschützung der Hottentotten, Hindus und Hill-Culies beschäftigen, und indessen einen großen Theil unserer Mitbürger auf der tiefsten Stufe der Unwissenheit und des Elends lassen? &#x2013; Aber ich fürchte, durch meine lange Rede das Haus ermüdet zu haben, und bitte nur noch um die Erlaubniß, ihm für die Nachsicht und Geduld, mit der man mich angehört hat, danken zu dürfen.&#x201C;</p>
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[1221/0013] den Fabrikherren unmöglich, den Druck der arbeitenden Classen einigermaßen zu lindern. Dürfen wir also voraussetzen, daß der Arme unter solchen Verhältnissen eine starke Anhänglichkeit an unsere Institutionen besitze? Muß es uns nicht im Gegentheil zuweilen einfallen, daß Jemand, der nichts zu verlieren hat, leicht darauf kommen könnte, durch Anarchie etwas gewinnen zu wollen? – Aber dieß Haus mit seinem Nichtachten aller solcher offenkundigen Gebrechen, mit seiner stolzen Vernachlässigung aller hierauf bezüglichen eingereichten Petitionen gleicht dem Priester und Leviten in der Schrift bei weitem mehr, als dem barmherzigen Samaritaner: nicht weil jene beiden die Wunden des armen an der Straße Liegenden selbst geschlagen hatten, wurden sie verdammt, sondern weil sie an der andern Seite des Wegs vorübergingen, ohne ihm zu helfen. Und wenn sich dann das arme aufgegebene Volk in seinem Zustande vollkommener Hülflosigkeit vielleicht einmal der oder jener Verbrechen schuldig macht, steht es wohl dem Reichen zu, sich darüber in hochmüthig tugendhaften Ausrufungen, in moralisch ekeln Gemeinplätzen zu erheben? Ich hatte vor einigen Jahren die Ehre, neben einer sehr ehrbaren und spröden, nur etwas antiquirten Jungfrau zu Tisch zu sitzen: sie war stark betheiligt in den Fluctuationen der drei Procent und der Quadrilletafel, und ließ sich in Gesellschaft eines knurrenden Schooßhundes die Leckerheiten aller Jahreszeiten vortrefflich schmecken. Während sie eben, ganz con amore, einen reichlich gefüllten Teller mit Schildkrötensuppe speiste, kam die Rede auf die Unruhen in gewissen Bezirken, wo die arbeitenden Classen, aus Mangel an Unterhalt, mehrere Gewaltthaten verübt hatten. Meine schöne Nachbarin zuckte die Schultern, drehte das Weiße ihrer Augen gen Himmel, und vollendete während der kurzen Intervalle ihrer Verschluckungsthätigkeit folgende Ausrufung: O Sir, nationale Undankbarkeit ist eine schreckliche Sünde! Wie tausendfach sind die Wohlthaten, die eine gnädige Vorsehung täglich auf uns, die unvernünftigen Bewohner dieses hochbegünstigten Landes, niederregnen läßt; ich wünschte, ich könnte das meinen verführten Landsleuten selbst vorhalten und sie fragen, ob wir mit Anstand um ein noch reicheres Maaß Comforts bitten können, als wir bereits empfangen haben. „Champagner, Madame?“ „Wenn ich bitten darf. Aber, Sir (der Kellner füllte indeß ihr langes Glas mit Vin d'Ay), ich erröthe, wenn ich daran denke auf welche Weise wir diese Gnaden, deren wir so unwürdig sind, erwiedern. Ist es nicht schrecklich zu erwägen (hier trank sie), daß wir vielleicht in diesem Augenblick, als Dank für so vielen empfangenen Segen, Beleidigungen verüben und Häuser niederreißen? Ich erkläre, wenn man an eine solche entsetzliche Verblendung denkt, so überläuft es einen von Kopf bis zum Fuß, aus Furcht, daß wir zur gerechten Bestrafung unsrer Verbrechen in einem Nu aller unsrer Comforts beraubt seyn könnten: Dürft' ich Euch um noch einen Löffel Suppe bitten?“ – Und solch eine selbstsüchtige Raisonnirerei, solch eine Gewohnheit, den Betrag der Genüsse, den wir besitzen, zum Richtmaaß zu nehmen für die Dankbarkeit Anderer, die doch an unseren Vorzügen keinen Antheil haben, beschränkt sich keineswegs auf den sentimentalen Scharfsinn alter Jungfern, sondern charakterisirt mehr oder minder die Reichen jedes Standes und Geschlechts. Alle sind für das Bestehende und für die Regierung, so lange ihr Vermögen besteht und so lange die Minister keine Abgaben verlangen. Wie Satan vom Hiob sagte, daß er Gott ins Angesicht fluchen würde, sobald derselbe sein Eigenthum anrühre, so würden Tausende dem Kanzler der Schatzkammer ins Angesicht oder wenigstens hinter seinem Rücken fluchen, wenn er z. B. eine Abgabe auf Capitalien oder Besoldungen legen, oder die Korngesetze aufheben wollte. – Fassen wir nicht so schnell als möglich einen Beschluß, die Lage der arbeitenden Classen genauer zu untersuchen, und ihrem Wohlseyn und ihrer moralischen und religiösen Erziehung etwas von unserm Wohlseyn zum Opfer zu bringen, so wird der Tag der Rechenschaft und Rache näher seyn, als die unruhigsten Politiker und scharfsinnigsten Philosophen sich jetzt einbilden. – Wollen wir uns noch fortwährend mit Gesetzen zur Beschützung der Hottentotten, Hindus und Hill-Culies beschäftigen, und indessen einen großen Theil unserer Mitbürger auf der tiefsten Stufe der Unwissenheit und des Elends lassen? – Aber ich fürchte, durch meine lange Rede das Haus ermüdet zu haben, und bitte nur noch um die Erlaubniß, ihm für die Nachsicht und Geduld, mit der man mich angehört hat, danken zu dürfen.“

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 153. Augsburg, 1. Juni 1840, S. 1221. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_153_18400601/13>, abgerufen am 21.11.2024.