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Allgemeine Zeitung. Nr. 160. Augsburg, 8. Juni 1840.

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Bilder schaffen, jedes verschieden von dem andern, und alle relativ wahr. Der Grund liegt in der großen Mannichfaltigkeit der Erscheinungen, wodurch sich die Schweiz in ihrer äußern Natur und die Schweizer in ihrem geistigen Leben auszeichnen. Wie sich dort in den Bergen Lichtpunkte finden, glänzend erhellt von der Sonne die sich im Schnee spiegelt, mit weiter Aussicht über Berge, Thäler und Seen, und dann wieder starke Schatten in den Klüften und den mit dunkeln Tannen bewachsenen Tobeln, wie daneben aber in allen Abstufungen sich die niedern Berge, Hügel, Abhänge, Halden, Thäler und Ebenen neigen und erstrecken: so hat auch das politische Leben in der Schweiz einzelne Höhe- und Glanzpunkte voll Lust und Gefahr, und einzelne finstere Stellen voll Schauder und Noth, aber daneben in bunter Mannichfaltigkeit ruhige und erfreuliche Partien die Fülle.

Charakteristisch ist besonders seit den Revolutionen vom Jahr 1830 an bis zur Stunde das Wachsthum des demokratischen Geistes. Alle Bewegungen gingen immer von unten aus und suchten und fanden in der großen Masse des Volkes ihre Kräfte. Die Aristokratien, ohne innere Lebenskraft für die Zukunft, und nur noch in wenig Kantonen von einiger Bedeutung, stürzten zusammen bei der ersten Erschütterung. Das Princip der Volkssouveränetät war die Theorie, unter deren Schutz der demokratische Volksgeist sich Anerkennung und Macht zu verschaffen suchte. Jene war das Wort, dessen sich dieser bediente. Nicht in jener Theorie, aber in diesem Geiste war das eigentliche Lebenselement der neuern Entwickelung. Aehnlich war es mit dem Princip der Rechtsgleichheit. Die Völker kümmern sich zunächst wenig um abstracte Theorien und wissenschaftliche Begriffe. Auf ihre innere Begründung, auf ihre Richtigkeit kommt es ihnen nicht an, sie verstehen dabei Untersuchungen nicht. Aber wenn sich ein inneres Bedürfniß naturgemäß regt, und sich eine Theorie darbietet, welche diesem wahren praktischen Bedürfnisse Befriedigung verspricht, dann fallen sie dieser Theorie gläubig zu und halten sich oft leidenschaftlich an ihr fest, um so den innern Drang geistig zu rechtfertigen und zu veredeln. So hatte denn auch in den schweizerischen Kantonen die proclamirte Rechtsgleichheit eine hohe praktische Bedeutung, einen genießbaren Kern, den sie als Hülfe umschloß. Die eigentliche Unterthanschaft einzelner Theile eines Kantons gegenüber der herrschenden Bevölkerung eines andern Theiles, sey es einer Hauptstadt (wie in den Städtekantonen) oder eines Bezirks freier Herren und Landleute (wie in Schwyz), war freilich schon vor mehr als dreißig Jahren gebrochen worden; aber die Restauration vom Jahr 1815 hatte doch einzelne Vorrechte der vormals herrschenden Theile wieder hergestellt. Je mehr sich inzwischen auch die etwas zurückstehenden Gebietstheile gehoben hatten, desto unerträglicher erschienen ihnen die Vorrechte der andern; je mehr sich in der Lebensweise eine äußere Gleichheit heranbildete, desto natürlicher war die Forderung völliger politischer Gleichstellung. Bei allen republicanischen Völkern ist die Neigung zur Selbstregierung groß; das ist eben das Republicanische in ihrer Politik. Es kommt ihnen oft weniger noch darauf an, ob immer gut regiert werde, als darauf, ob sie mit dazu zu reden haben. Deßhalb wurden die Fragen, wie die großen Räthe zu wählen seyen, von so großer und entscheidender Wichtigkeit. Und eben hier wurde das Princip der Gleichstellung aller Bürger, der Städter wie der Landbürger, nach verschiedenen Bewegungen consequent durchgeführt. Ebenso in den Wahlen zu den höhern Aemtern. Und das war nun gewiß dem Charakter der Zeit gemäß. Es trat ein neues Element auf den politischen Schauplatz, das Element der Landschaften, und mit ihm und durch die völlige Gleichstellung wurde die Idee eines zusammengehörigen Volkes, welches gleichmäßig sich selber beherrscht durch seine freien Stellvertreter und seine gewählten Beamten, d. h. die Idee der Demokratie, recht klar und lebendig.

Alle diese Erschütterungen und Bewegungen haben schon durch den Kampf Leben angeregt. Am meisten freilich in den Kantonen, wo zwar die Parteikämpfe lebhaft genug, aber die Umwälzungen doch weniger schroff und weniger sprungweise eingetreten waren, in den Kantonen Zürich, Waadt und St. Gallen, denen in gewissem Betracht auch Neuenburg beizufügen ist. Auf die Schulen wurde sehr viel verwendet, vom Staate, den Gemeinden und Einzelnen. Die Volksschulen wurden fast neu geschaffen oder doch wesentlich umgestaltet und gehoben, Gymnasien, Industrieschulen errichtet oder verbessert, in Zürich und Bern Hochschulen gestiftet. Daneben wendete sich die Hauptthätigkeit besonders dem Straßenwesen und großen öffentlichen Bauten zu. Meistens boten sich hier alle Parteien die Hand; und ganz gewiß sind die Klagen über zu wenig in dieser Zeit am wenigsten, die über theilweisen Mangel an Umsicht und über Eilfertigkeit eher begründet. Auch in der Rechtspflege und der Verwaltung wurde manches verbessert, und insbesondere einzelne Geschäftszweige bewußter und wissenschaftlicher betrieben. Dasselbe ist von der Gesetzgebung zu rühmen, zugleich aber auch die fabrikmäßige Betreibung dieser hohen Kunst zu tadeln.

Mit dem Wachsthum des demokratischen Geistes in den schweizerischen Kantonen erstanden zwei große Gefahren, die beide übermächtig zu werden drohten, und beide, wenn sie zum Siege kämen, auch in ihrem Gefolge den Untergang der eigenthümlichen republicanischen Freiheit brächten, welche der Schweiz als ihr Erbtheil von Gott zugewiesen ist. Die eine war der gebildete Radicalismus, welcher, von einer selbstsüchtigen Theorie ausgehend, die geistigen und nationalen Lebensverhältnisse zersetzen und an die Stelle des zertretenen Lebens kalte Rechtsformeln hinpflanzen wollte. Dieser Radicalismus ist nun freilich schon ziemlich veraltet, und seitdem das Volk gewahr wurde, wie wenig er zu seinem eigensten Leben passe, im Untergange begriffen, wie nicht bloß Zürich, sondern auch St. Gallen, Thurgau, Aargau, Luzern, Bern und andere Kantone beweisen. Und es wird die Zukunft neue Gegensätze bringen in modificirter Gestalt. Die andere Gefahr ist die der rohen Veränderungs- und Revolutionslust, einer wilden Anarchie. Zwar sind diese Gefahren, welche der Schweizer so wohl kennt als der Ausländer, wenn jener schon es leichter damit nimmt, als dieser, nicht ganz so groß, wie man sich im Auslande oft vorstellt; denn bei aller natürlichen, auch hier vorhandenen Rohheit der Massen und der Einzelnen ist doch durch das alte freie Staatsleben so viel natürlicher Sinn für Ordnung in dem Volke verbreitet, daß es bei großen Versammlungen und mitten in Stürmen schnell selbst wieder Ordnung schafft oder herstellt, und bei vielen Festen, wo ungehemmt sich die freie Lust entfaltet, keiner Polizeidiener bedarf, um Ruhe zu handhaben. Aber immerhin sind diese Gefahren für das Bestehen und Gedeihen des Staates sehr groß, und sie können in der Schweiz nicht abgewendet werden mit äußerer Regierungsgewalt. Wir haben keine stehende Armee, keine großen Polizeimittel. Widerstand kann ihnen nur geleistet werden durch geistige Mittel, nur durch solche die Demokratie zugleich gemäßigt, veredelt und erhalten werden. Das bedeutendste und kräftigste seiner Mittel, in andern Richtungen höchstes Ziel, ist ohne Zweifel die Wiederbelebung des religiösen Elements, des christlichen Sinnes und Glaubens. Da hat Raumer ganz Recht, wenn er in seinen Briefen über England irgendwo sagt: "Das Christenthum

Bilder schaffen, jedes verschieden von dem andern, und alle relativ wahr. Der Grund liegt in der großen Mannichfaltigkeit der Erscheinungen, wodurch sich die Schweiz in ihrer äußern Natur und die Schweizer in ihrem geistigen Leben auszeichnen. Wie sich dort in den Bergen Lichtpunkte finden, glänzend erhellt von der Sonne die sich im Schnee spiegelt, mit weiter Aussicht über Berge, Thäler und Seen, und dann wieder starke Schatten in den Klüften und den mit dunkeln Tannen bewachsenen Tobeln, wie daneben aber in allen Abstufungen sich die niedern Berge, Hügel, Abhänge, Halden, Thäler und Ebenen neigen und erstrecken: so hat auch das politische Leben in der Schweiz einzelne Höhe- und Glanzpunkte voll Lust und Gefahr, und einzelne finstere Stellen voll Schauder und Noth, aber daneben in bunter Mannichfaltigkeit ruhige und erfreuliche Partien die Fülle.

Charakteristisch ist besonders seit den Revolutionen vom Jahr 1830 an bis zur Stunde das Wachsthum des demokratischen Geistes. Alle Bewegungen gingen immer von unten aus und suchten und fanden in der großen Masse des Volkes ihre Kräfte. Die Aristokratien, ohne innere Lebenskraft für die Zukunft, und nur noch in wenig Kantonen von einiger Bedeutung, stürzten zusammen bei der ersten Erschütterung. Das Princip der Volkssouveränetät war die Theorie, unter deren Schutz der demokratische Volksgeist sich Anerkennung und Macht zu verschaffen suchte. Jene war das Wort, dessen sich dieser bediente. Nicht in jener Theorie, aber in diesem Geiste war das eigentliche Lebenselement der neuern Entwickelung. Aehnlich war es mit dem Princip der Rechtsgleichheit. Die Völker kümmern sich zunächst wenig um abstracte Theorien und wissenschaftliche Begriffe. Auf ihre innere Begründung, auf ihre Richtigkeit kommt es ihnen nicht an, sie verstehen dabei Untersuchungen nicht. Aber wenn sich ein inneres Bedürfniß naturgemäß regt, und sich eine Theorie darbietet, welche diesem wahren praktischen Bedürfnisse Befriedigung verspricht, dann fallen sie dieser Theorie gläubig zu und halten sich oft leidenschaftlich an ihr fest, um so den innern Drang geistig zu rechtfertigen und zu veredeln. So hatte denn auch in den schweizerischen Kantonen die proclamirte Rechtsgleichheit eine hohe praktische Bedeutung, einen genießbaren Kern, den sie als Hülfe umschloß. Die eigentliche Unterthanschaft einzelner Theile eines Kantons gegenüber der herrschenden Bevölkerung eines andern Theiles, sey es einer Hauptstadt (wie in den Städtekantonen) oder eines Bezirks freier Herren und Landleute (wie in Schwyz), war freilich schon vor mehr als dreißig Jahren gebrochen worden; aber die Restauration vom Jahr 1815 hatte doch einzelne Vorrechte der vormals herrschenden Theile wieder hergestellt. Je mehr sich inzwischen auch die etwas zurückstehenden Gebietstheile gehoben hatten, desto unerträglicher erschienen ihnen die Vorrechte der andern; je mehr sich in der Lebensweise eine äußere Gleichheit heranbildete, desto natürlicher war die Forderung völliger politischer Gleichstellung. Bei allen republicanischen Völkern ist die Neigung zur Selbstregierung groß; das ist eben das Republicanische in ihrer Politik. Es kommt ihnen oft weniger noch darauf an, ob immer gut regiert werde, als darauf, ob sie mit dazu zu reden haben. Deßhalb wurden die Fragen, wie die großen Räthe zu wählen seyen, von so großer und entscheidender Wichtigkeit. Und eben hier wurde das Princip der Gleichstellung aller Bürger, der Städter wie der Landbürger, nach verschiedenen Bewegungen consequent durchgeführt. Ebenso in den Wahlen zu den höhern Aemtern. Und das war nun gewiß dem Charakter der Zeit gemäß. Es trat ein neues Element auf den politischen Schauplatz, das Element der Landschaften, und mit ihm und durch die völlige Gleichstellung wurde die Idee eines zusammengehörigen Volkes, welches gleichmäßig sich selber beherrscht durch seine freien Stellvertreter und seine gewählten Beamten, d. h. die Idee der Demokratie, recht klar und lebendig.

Alle diese Erschütterungen und Bewegungen haben schon durch den Kampf Leben angeregt. Am meisten freilich in den Kantonen, wo zwar die Parteikämpfe lebhaft genug, aber die Umwälzungen doch weniger schroff und weniger sprungweise eingetreten waren, in den Kantonen Zürich, Waadt und St. Gallen, denen in gewissem Betracht auch Neuenburg beizufügen ist. Auf die Schulen wurde sehr viel verwendet, vom Staate, den Gemeinden und Einzelnen. Die Volksschulen wurden fast neu geschaffen oder doch wesentlich umgestaltet und gehoben, Gymnasien, Industrieschulen errichtet oder verbessert, in Zürich und Bern Hochschulen gestiftet. Daneben wendete sich die Hauptthätigkeit besonders dem Straßenwesen und großen öffentlichen Bauten zu. Meistens boten sich hier alle Parteien die Hand; und ganz gewiß sind die Klagen über zu wenig in dieser Zeit am wenigsten, die über theilweisen Mangel an Umsicht und über Eilfertigkeit eher begründet. Auch in der Rechtspflege und der Verwaltung wurde manches verbessert, und insbesondere einzelne Geschäftszweige bewußter und wissenschaftlicher betrieben. Dasselbe ist von der Gesetzgebung zu rühmen, zugleich aber auch die fabrikmäßige Betreibung dieser hohen Kunst zu tadeln.

Mit dem Wachsthum des demokratischen Geistes in den schweizerischen Kantonen erstanden zwei große Gefahren, die beide übermächtig zu werden drohten, und beide, wenn sie zum Siege kämen, auch in ihrem Gefolge den Untergang der eigenthümlichen republicanischen Freiheit brächten, welche der Schweiz als ihr Erbtheil von Gott zugewiesen ist. Die eine war der gebildete Radicalismus, welcher, von einer selbstsüchtigen Theorie ausgehend, die geistigen und nationalen Lebensverhältnisse zersetzen und an die Stelle des zertretenen Lebens kalte Rechtsformeln hinpflanzen wollte. Dieser Radicalismus ist nun freilich schon ziemlich veraltet, und seitdem das Volk gewahr wurde, wie wenig er zu seinem eigensten Leben passe, im Untergange begriffen, wie nicht bloß Zürich, sondern auch St. Gallen, Thurgau, Aargau, Luzern, Bern und andere Kantone beweisen. Und es wird die Zukunft neue Gegensätze bringen in modificirter Gestalt. Die andere Gefahr ist die der rohen Veränderungs- und Revolutionslust, einer wilden Anarchie. Zwar sind diese Gefahren, welche der Schweizer so wohl kennt als der Ausländer, wenn jener schon es leichter damit nimmt, als dieser, nicht ganz so groß, wie man sich im Auslande oft vorstellt; denn bei aller natürlichen, auch hier vorhandenen Rohheit der Massen und der Einzelnen ist doch durch das alte freie Staatsleben so viel natürlicher Sinn für Ordnung in dem Volke verbreitet, daß es bei großen Versammlungen und mitten in Stürmen schnell selbst wieder Ordnung schafft oder herstellt, und bei vielen Festen, wo ungehemmt sich die freie Lust entfaltet, keiner Polizeidiener bedarf, um Ruhe zu handhaben. Aber immerhin sind diese Gefahren für das Bestehen und Gedeihen des Staates sehr groß, und sie können in der Schweiz nicht abgewendet werden mit äußerer Regierungsgewalt. Wir haben keine stehende Armee, keine großen Polizeimittel. Widerstand kann ihnen nur geleistet werden durch geistige Mittel, nur durch solche die Demokratie zugleich gemäßigt, veredelt und erhalten werden. Das bedeutendste und kräftigste seiner Mittel, in andern Richtungen höchstes Ziel, ist ohne Zweifel die Wiederbelebung des religiösen Elements, des christlichen Sinnes und Glaubens. Da hat Raumer ganz Recht, wenn er in seinen Briefen über England irgendwo sagt: „Das Christenthum

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Bilder schaffen, jedes verschieden von dem andern, und alle relativ wahr. Der Grund liegt in der großen Mannichfaltigkeit der Erscheinungen, wodurch sich die Schweiz in ihrer äußern Natur und die Schweizer in ihrem geistigen Leben auszeichnen. Wie sich dort in den Bergen Lichtpunkte finden, glänzend erhellt von der Sonne die sich im Schnee spiegelt, mit weiter Aussicht über Berge, Thäler und Seen, und dann wieder starke Schatten in den Klüften und den mit dunkeln Tannen bewachsenen Tobeln, wie daneben aber in allen Abstufungen sich die niedern Berge, Hügel, Abhänge, Halden, Thäler und Ebenen neigen und erstrecken: so hat auch das politische Leben in der Schweiz einzelne Höhe- und Glanzpunkte voll Lust und Gefahr, und einzelne finstere Stellen voll Schauder und Noth, aber daneben in bunter Mannichfaltigkeit ruhige und erfreuliche Partien die Fülle.</p><lb/>
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[1274/0010] Bilder schaffen, jedes verschieden von dem andern, und alle relativ wahr. Der Grund liegt in der großen Mannichfaltigkeit der Erscheinungen, wodurch sich die Schweiz in ihrer äußern Natur und die Schweizer in ihrem geistigen Leben auszeichnen. Wie sich dort in den Bergen Lichtpunkte finden, glänzend erhellt von der Sonne die sich im Schnee spiegelt, mit weiter Aussicht über Berge, Thäler und Seen, und dann wieder starke Schatten in den Klüften und den mit dunkeln Tannen bewachsenen Tobeln, wie daneben aber in allen Abstufungen sich die niedern Berge, Hügel, Abhänge, Halden, Thäler und Ebenen neigen und erstrecken: so hat auch das politische Leben in der Schweiz einzelne Höhe- und Glanzpunkte voll Lust und Gefahr, und einzelne finstere Stellen voll Schauder und Noth, aber daneben in bunter Mannichfaltigkeit ruhige und erfreuliche Partien die Fülle. Charakteristisch ist besonders seit den Revolutionen vom Jahr 1830 an bis zur Stunde das Wachsthum des demokratischen Geistes. Alle Bewegungen gingen immer von unten aus und suchten und fanden in der großen Masse des Volkes ihre Kräfte. Die Aristokratien, ohne innere Lebenskraft für die Zukunft, und nur noch in wenig Kantonen von einiger Bedeutung, stürzten zusammen bei der ersten Erschütterung. Das Princip der Volkssouveränetät war die Theorie, unter deren Schutz der demokratische Volksgeist sich Anerkennung und Macht zu verschaffen suchte. Jene war das Wort, dessen sich dieser bediente. Nicht in jener Theorie, aber in diesem Geiste war das eigentliche Lebenselement der neuern Entwickelung. Aehnlich war es mit dem Princip der Rechtsgleichheit. Die Völker kümmern sich zunächst wenig um abstracte Theorien und wissenschaftliche Begriffe. Auf ihre innere Begründung, auf ihre Richtigkeit kommt es ihnen nicht an, sie verstehen dabei Untersuchungen nicht. Aber wenn sich ein inneres Bedürfniß naturgemäß regt, und sich eine Theorie darbietet, welche diesem wahren praktischen Bedürfnisse Befriedigung verspricht, dann fallen sie dieser Theorie gläubig zu und halten sich oft leidenschaftlich an ihr fest, um so den innern Drang geistig zu rechtfertigen und zu veredeln. So hatte denn auch in den schweizerischen Kantonen die proclamirte Rechtsgleichheit eine hohe praktische Bedeutung, einen genießbaren Kern, den sie als Hülfe umschloß. Die eigentliche Unterthanschaft einzelner Theile eines Kantons gegenüber der herrschenden Bevölkerung eines andern Theiles, sey es einer Hauptstadt (wie in den Städtekantonen) oder eines Bezirks freier Herren und Landleute (wie in Schwyz), war freilich schon vor mehr als dreißig Jahren gebrochen worden; aber die Restauration vom Jahr 1815 hatte doch einzelne Vorrechte der vormals herrschenden Theile wieder hergestellt. Je mehr sich inzwischen auch die etwas zurückstehenden Gebietstheile gehoben hatten, desto unerträglicher erschienen ihnen die Vorrechte der andern; je mehr sich in der Lebensweise eine äußere Gleichheit heranbildete, desto natürlicher war die Forderung völliger politischer Gleichstellung. Bei allen republicanischen Völkern ist die Neigung zur Selbstregierung groß; das ist eben das Republicanische in ihrer Politik. Es kommt ihnen oft weniger noch darauf an, ob immer gut regiert werde, als darauf, ob sie mit dazu zu reden haben. Deßhalb wurden die Fragen, wie die großen Räthe zu wählen seyen, von so großer und entscheidender Wichtigkeit. Und eben hier wurde das Princip der Gleichstellung aller Bürger, der Städter wie der Landbürger, nach verschiedenen Bewegungen consequent durchgeführt. Ebenso in den Wahlen zu den höhern Aemtern. Und das war nun gewiß dem Charakter der Zeit gemäß. Es trat ein neues Element auf den politischen Schauplatz, das Element der Landschaften, und mit ihm und durch die völlige Gleichstellung wurde die Idee eines zusammengehörigen Volkes, welches gleichmäßig sich selber beherrscht durch seine freien Stellvertreter und seine gewählten Beamten, d. h. die Idee der Demokratie, recht klar und lebendig. Alle diese Erschütterungen und Bewegungen haben schon durch den Kampf Leben angeregt. Am meisten freilich in den Kantonen, wo zwar die Parteikämpfe lebhaft genug, aber die Umwälzungen doch weniger schroff und weniger sprungweise eingetreten waren, in den Kantonen Zürich, Waadt und St. Gallen, denen in gewissem Betracht auch Neuenburg beizufügen ist. Auf die Schulen wurde sehr viel verwendet, vom Staate, den Gemeinden und Einzelnen. Die Volksschulen wurden fast neu geschaffen oder doch wesentlich umgestaltet und gehoben, Gymnasien, Industrieschulen errichtet oder verbessert, in Zürich und Bern Hochschulen gestiftet. Daneben wendete sich die Hauptthätigkeit besonders dem Straßenwesen und großen öffentlichen Bauten zu. Meistens boten sich hier alle Parteien die Hand; und ganz gewiß sind die Klagen über zu wenig in dieser Zeit am wenigsten, die über theilweisen Mangel an Umsicht und über Eilfertigkeit eher begründet. Auch in der Rechtspflege und der Verwaltung wurde manches verbessert, und insbesondere einzelne Geschäftszweige bewußter und wissenschaftlicher betrieben. Dasselbe ist von der Gesetzgebung zu rühmen, zugleich aber auch die fabrikmäßige Betreibung dieser hohen Kunst zu tadeln. Mit dem Wachsthum des demokratischen Geistes in den schweizerischen Kantonen erstanden zwei große Gefahren, die beide übermächtig zu werden drohten, und beide, wenn sie zum Siege kämen, auch in ihrem Gefolge den Untergang der eigenthümlichen republicanischen Freiheit brächten, welche der Schweiz als ihr Erbtheil von Gott zugewiesen ist. Die eine war der gebildete Radicalismus, welcher, von einer selbstsüchtigen Theorie ausgehend, die geistigen und nationalen Lebensverhältnisse zersetzen und an die Stelle des zertretenen Lebens kalte Rechtsformeln hinpflanzen wollte. Dieser Radicalismus ist nun freilich schon ziemlich veraltet, und seitdem das Volk gewahr wurde, wie wenig er zu seinem eigensten Leben passe, im Untergange begriffen, wie nicht bloß Zürich, sondern auch St. Gallen, Thurgau, Aargau, Luzern, Bern und andere Kantone beweisen. Und es wird die Zukunft neue Gegensätze bringen in modificirter Gestalt. Die andere Gefahr ist die der rohen Veränderungs- und Revolutionslust, einer wilden Anarchie. Zwar sind diese Gefahren, welche der Schweizer so wohl kennt als der Ausländer, wenn jener schon es leichter damit nimmt, als dieser, nicht ganz so groß, wie man sich im Auslande oft vorstellt; denn bei aller natürlichen, auch hier vorhandenen Rohheit der Massen und der Einzelnen ist doch durch das alte freie Staatsleben so viel natürlicher Sinn für Ordnung in dem Volke verbreitet, daß es bei großen Versammlungen und mitten in Stürmen schnell selbst wieder Ordnung schafft oder herstellt, und bei vielen Festen, wo ungehemmt sich die freie Lust entfaltet, keiner Polizeidiener bedarf, um Ruhe zu handhaben. Aber immerhin sind diese Gefahren für das Bestehen und Gedeihen des Staates sehr groß, und sie können in der Schweiz nicht abgewendet werden mit äußerer Regierungsgewalt. Wir haben keine stehende Armee, keine großen Polizeimittel. Widerstand kann ihnen nur geleistet werden durch geistige Mittel, nur durch solche die Demokratie zugleich gemäßigt, veredelt und erhalten werden. Das bedeutendste und kräftigste seiner Mittel, in andern Richtungen höchstes Ziel, ist ohne Zweifel die Wiederbelebung des religiösen Elements, des christlichen Sinnes und Glaubens. Da hat Raumer ganz Recht, wenn er in seinen Briefen über England irgendwo sagt: „Das Christenthum

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Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-28T11:37:15Z)

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 160. Augsburg, 8. Juni 1840, S. 1274. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_160_18400608/10>, abgerufen am 21.11.2024.